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Kategorie: Diskussionen

Grenzziehungen städtischer Nachbarschaften in Siena1

Kurzdarstellung:
In aktuellen Debatten um städtische Vielfalt liegt der Diskussionsfokus auf Prozessen der Grenzziehung zwischen Personengruppen, die sich über Merkmale, wie beispielsweise Herkunft oder ökonomische Indikatoren, voneinander differenzieren. Nachbarschaften, die aus gemeinsamen Aktivitäten wie Festen entstehen, bleiben unberücksichtigt. Der Artikel zeigt, dass sich eine kulturgeographische Perspektive auf Spiele und Feste für die Erforschung von Grenzziehungsprozessen städtischer Nachbarschaften anbietet.

Ausgehend vom Konzept „tiefes Spiel“ von Clifford Geertz (1973/1983b) wird am Beispiel der Stadtnachbarschaften Sienas gezeigt, dass innerhalb der Festlichkeiten um ein jährlich stattfindendes Pferderennen, den sogenannten Palio, herum, die Gemeinschaftsgrenzen der Nachbarschaften in verschieden Dimensionen – sozial, kulturell, emotional und materiell – dargestellt und verhandelt werden. Diese Dimensionen werden durch Repräsentationen während der Festlichkeiten miteinander verschränkt. Die Repräsentationen sind dabei als performative Praktiken der Herstellung kollektiver Identitäten zu verstehen, die zu spezifischen Organisationsmustern der Stadt führen. Das Konzept „tiefes Spiel“ stellt für die Geographie das Analysewerkzeug bereit, mit dem die multidimensionalen Prozesse der Grenzziehung erforscht werden können. Die Ausführungen basieren auf Interviews und Beobachtungen, die während Aufenthalten in Siena 2014 und 2015 gemacht wurden.

 Stichwörter: Vielfalt, Spiel, Grenzen, Stadt, Siena, Palio

Abstract:
Current debates on urban diversity generally focus on processes of differentiation between groups of people that allow them to easily recognise each other, using characteristics based primarily on origin or economic indicators. Neighbourhoods arising from joint activities, such as festivals, are disregarded. This article shows that a cultural geographical perspective on feasts and play can be usefully employed in research into processes of differentiation and demarcation among urban neighbourhoods.

Applying an enhanced version of the concept of deep play, as advanced by Clifford Geertz (1973/1983b), to the example of the city neighbourhoods of Siena, it is shown that within the annual festivities surrounding a horse-race, known as the Palio, the neighbourhoods’ community boundaries are negotiated and represented in different dimensions – social, cultural, emotional, and material – which are intertwined through the festive representations that must be understood as performative practices of producing collective identities, and which lead to the development of specific organisational patterns of the city. Therefore, the concept of deep play can be used in geography as an analytical tool to explore these multidimensional processes of differentiation and demarcation. This research is based on interviews and observations made during fieldwork in Siena in 2014 and 2015.

Key words: diversity, play, community boundaries, city, Siena, Palio

Städte sind durch das Zusammenleben verschiedenster Menschengruppen geprägt, die in komplexen soziokulturellen Verhältnissen zueinander stehen. Die Vielfalt der Gruppen und die emergierenden soziokulturellen Ordnungen der Städte stehen dabei mit rechtlich unterschiedlichen Positionen der Personengruppen, Formen sozialer Benachteiligung und ökonomischen Dynamiken in Verbindung, die das Zusammenleben definieren. In den jüngsten Diskussionen der sozial- und kulturwissenschaftlichen Stadtforschung stehen daher die Ordnungsprinzipien der gesellschaftlichen Diversität im Untersuchungsfokus (Vertovec 2015). In den Sozial- und Kulturwissenschaften, wie auch in der Geographie, ist mit „Vielfalt“ bzw. „Diversität“ meist ethnische Verschiedenheit gemeint (Jackson 2002; Lukinbeal, Price und Buell 2012; Price 2015). Neben Ethnizität werden aber auch Religion (Knott 2015), der Sozialstatus und die Stellung im Lebenszyklus (Burgess 1925/1984;  Jodhka 2015), der rechtliche Status (Morris 2015), Alter (Vincent 2015), Sprache (Blommaert 2015) sowie Geschlecht (Bondi und Christie 2006), sexuelle Orientierung (Mort 2006) und Lifestyle (Zifonun 2015) als Kriterien von Diversität genannt. All die genannten Kriterien können zu Grenzmarkierungen zwischen Gemeinschaften (Tönnies 1887/1991, 3, 36) oder zwischen Kategorien von Menschen2 werden und sind häufig mit der soziokulturellen aber auch territorialen Ordnung der Stadt verbunden. Dabei überschneiden sich die Zuordnungen und führen, wie es der britische Geograph Peter Jackson (2002) treffend nennt, zu geographies of diversity.

In der Debatte um städtische Vielfalt und soziokulturelle Organisation werden bisher Feste und Spiele als Quell von Zusammenhalt und Organisationsmustern in Städten außer Acht gelassen. Der Artikel zeigt, dass Feste und Spiele zu dauerhaften kollektiven Identitäten und einer komplexen inneren Organisation von Stadtvierteln und der gesamten Stadt werden können. Dabei lohnt es sich, das von Clifford Geertz (1973/1983b) entworfene Konzept „tiefes Spiel“ weiterzuentwickeln, um für die empirische Forschung einen kulturwissenschaftlichen Blickwinkel auf Prozesse der Grenzziehung und soziokulturellen Ordnung zu erlangen. Der Artikel geht den Fragen nach: In welchen Dimensionen entfalten sich Prozesse der Bildung von Gemeinschaftsgrenzen? Wie erlangen die Gemeinschaftsgrenzen Dauerhaftigkeit? Und wie wirken sich die Prozesse der Grenzziehung auf die territoriale und soziale Organisation der Stadt aus?

Ein besonders anschauliches Beispiel ist die Stadt Siena, die in der Toskana liegt, 54.219 Einwohner zählt und über einen mittelalterlichen Straßengrundriss und eine mittelalterliche Gebäudestruktur in der Innenstadt verfügt. In Siena bildeten sich um ein zweimal jährlich stattfindendes Pferderennen herum, den sogenannten Palio, klar voneinander abgegrenzte Nachbarschaften, die sogenannten Contrade3. Noch heute führt der Palio zu einer hochemotionalen Auseinandersetzung zwischen den Nachbarschaften, wobei in diesem Wettkampf keine Wetten platziert werden. Die siegreiche Contrada feiert danach so ausgelassen, dass dies bei Außenstehenden starke Verwunderung auslösen kann. Die freiwerdende Emotionalität und komplexe Organisationsstruktur des Palio und der Contrade, die in den Alltag der Stadtbewohner hineinreichen, machen diesen Wettkampf zu einem „tiefen Spiel“ mit den Gemeinschaftsgrenzen. Ferner zeigt sich, dass im Wettkampf soziale Ordnungen über emotional aufgeladene Bedeutungen, die situativ und historisch variabel sind, zu einem komplexen Gefüge verflochten werden.

Im Folgenden werden zunächst die Grundlagen von Theorien des Spiels dargelegt, um das Konzept des „tiefen Spiels“ in der aktuellen theoretischen Debatte zu verorten. Anschließend wird der Fall der Nachbarschaften in Siena dargestellt. Die Analyse zeigt die Möglichkeit, das Konzept auf ein empirisches Beispiel anzuwenden und dabei zu schärfen.


1 Das Spiel in der Geographie: Spieltheorie und Theorien vom Spiel
Wenn in geographischen Debatten von „Spiel“ und „Spieltheorie“ die Rede ist, zeichnet sich das Bild eines diversen Forschungsfelds. Zum einen werden in der Geographie Spiele als Phänomene untersucht wie Olympische Spiele (Müller 2011), andere Sportveranstaltungen (Steinbrink 2010), Rituale (Brewster 1960) und sonstige Spiele (Kühne und Schmitt 2012). Dabei stehen die ökonomischen und organisatorischen Prozesse und deren Auswirkungen auf die Stadt- bzw. Regionalplanung (Holden, MacKenzie und VanWynsberghe 2008) bzw. die identitätsschaffende Kraft von Spielen und Techniken der Raumaneignung im Forschungsfokus (Strüver und Wucherpfennig 2014). Eine Theorie vom Spiel wird hierbei jedoch nicht entwickelt. Zum anderen werden unter dem Begriff „Spieltheorie“ ein theoretischer Rahmen und ein methodisches Mittel verstanden. Diese werden eingesetzt, um die Entscheidungsfindung in Planungsprozessen (Batty 1977) wie der Stadtplanung (Lin und Lin 2014), bei der Standortsuche (Brown 1989; Samsura et al. 2013) oder in sonstigen Projekten nachzuvollziehen bzw. vorherzusagen und um Verhaltensweisen zu erklären (Cote und Nightingale 2012). Dabei werden die Entscheidungsmöglichkeiten verschiedener in die Planung einbezogener Akteure unter bestimmten Prämissen „durchgespielt“, um die wahrscheinlichste(n) Variante(n) herauszufinden. Die Spieltheorie hat demnach zunächst nichts mit der Untersuchung von Spielen und Festen zu tun, sondern stammt aus der Übernahme mathematischer Modelle, die in den Wirtschaftswissenschaften entwickelt wurden, um „rationale“ Entscheidungen von Akteuren nachvollziehbar zu machen (Swedberg und Augier 2003, 18-21). Diese Forschungsperspektive erklärt weder soziale noch kulturelle Ordnungsprozesse, weshalb sie hier nicht näher erläutert wird.

Die Beschäftigung mit Theorien vom Spiel sowie dem Spiel und Spielen als sozialem und kulturellem Phänomen ist Forschungsgebiet der Biologie, Psychologie, Erziehungswissenschaften, Ethnologie, Kulturanthropologie sowie der Philosophie. Während aus biologischer, psychologischer und meist auch erziehungswissenschaftlicher Sicht die Funktionen der Einübung von Bewegungsabläufen und Verhaltensweisen sowie der Abbau emotionaler Spannung im Spiel im Forschungsfokus stehen (Scheuerl 1975, 74-79; Sutton-Smith 1997, 231), sind es in der Ethnologie, Kulturanthropologie und der Philosophie die dem Spielen und Spiel zugeschriebenen kulturschaffenden Prozesse (Scheuerl 1975, 131-133). In diesem Artikel wird den Argumentationen dieser kulturwissenschaftlichen Fachrichtungen gefolgt, um zu zeigen, dass die Prozesse der Bildung sozialer Ordnung und damit gesellschaftlicher Vielfalt sich im spielerischen Einleben der Menschen in ihrer sozialen, kulturellen und materiellen Umwelt über die Herstellung von Bedeutungszusammenhängen vollzieht. In der Geographie wird dieser Perspektive bisher keine Bedeutung beigemessen.4

Aufgrund des großen Spektrums an Phänomenen – vom „Lehrerspielen“ der Kinder und Roulettespielen bis hin zu den Olympischen Spielen und Theater –, die als Spiel aufgefasst werden können, und der vielfältigen Forschungsperspektiven, die sich mit diesen Phänomenen beschäftigen, gibt es bis heute keine allgemeine Definition des Spiels. Einig sind sich die Spieltheoretiker nur in einem Punkt, dass es keine eindeutige definitorische Merkmalsliste von Spielen geben kann (Scheuerl 1975, 10-11; Sutton-Smith 1997, 231).
 
Um sich dem Begriff zu nähern, bietet es sich dennoch an, von einer weiten Begriffsdefinition auszugehen, die die wichtigsten Merkmale nennt. Darauf aufbauend können anschließend wichtige Mechanismen der Bedeutungsproduktion im Spiel herausgestellt werden. Johan Huizinga fasste die formalen Merkmale des Spiels schon vor mehr als 50 Jahren treffend zusammen:

„Der Form nach betrachtet kann man das Spiel also zusammenfassend eine freie Handlung nennen, die als ‚nicht so gemeint‘ und außerhalb des gewöhnlichen Lebens stehend empfunden wird und trotzdem den Spieler völlig in Beschlag nehmen kann, an die kein materielles Interesse geknüpft ist und mit der kein Nutzen erworben wird, die sich innerhalb einer eigens bestimmten Zeit und eines eigens bestimmten Raumes vollzieht, die nach bestimmten Regeln ordnungsgemäß verläuft und Gemeinschaftsverbände ins Leben ruft, die ihrerseits sich gern mit einem Geheimnis umgeben oder durch Verkleidung als anders als die gewöhnliche Welt herausheben.“ (Huizinga 1956, 20)

Das Spiel ist nach dieser Definition in seiner zeitlichen, räumlichen sowie bedeutungsvollen Dimension begrenzt. Es unterliegt einer zirkulären Zeitstruktur, wobei es zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten immer wieder in ähnlicher Weise stattfindet. Das Spiel gibt den dabei ausgeübten Handlungen und eingenommenen Haltungen einen thematischen Rahmen vor und definiert somit die soziale Situation. Daher folgen die Handlungen und die Haltung der Spieler nach Huizinga einer vom Alltag enthobenen Logik des Spiels (Huizinga 1956, 21-26). Das Spiel ist für die Kulturgeographie von besonderem Interesse, denn es findet auf einem zeitlich und räumlich abgegrenzten Spielfeld statt, folgt einer vom Alltag abgehobenen eigenen Logik, die in bestimmten Regeln angelegt ist, und trägt zur Bildung von Gemeinschaften bei.

Die enthobene Spiellogik scheint soziale und physische Grenzen emergieren zu lassen. Neben der Abgrenzung nach außen ordnen die Spielregeln die Handlungen und das Spielfeld nach innen. Die Grenzen und Ordnungen des Spiels umfassen demnach sowohl Grenzen nach außen als auch innere Grenzen. Spiele sind aus dieser Perspektive selbstreferenziell und besitzen eine Eigendynamik, der sich kein Spieler völlig entziehen kann. Für Huizinga scheint das Wissen um die Bedeutung von Symbolen des Spiels und den Spielregeln die sozialen Ordnungen hervorzurufen (Huizinga 1956, 54).

Weitere Ausführungen zur Beschaffenheit der im Spiel geschaffenen Grenzen gehen auf Buytendijk (1933) zurück, der darauf hinweist, dass die Grunddynamik des Spiels eine Hin-und-her-Bewegung ist. Diese Bewegungsform ist für ihn auch die Grundlage dafür, dass Menschen Beziehungen zu Mitmenschen und ihrer Umwelt herstellen können. Das Spiel als Pendelbewegung wird für ihn zum Modus des Welterfahrens (Buytendijk 1933, 117 nach Scheuerl 1975, 135-139). Diese pendelnde Bewegung zwischen dem Aus-sich-selbst-Herausgehen und dem anschließenden Wieder-zu-sich-Zurückkehren ist für Mead (1934/1973) der Schlüssel zur Identitätsbildung und wird im Spiel wiederholt durchgeführt. Im kindlichen Spiel der Nachahmung denkt sich das Kind in die Rolle anderer Personen hinein und stellt sich ihnen spielerisch gegenüber. Dabei nimmt es die Außenperspektive auf sich selbst ein und objektiviert dadurch seine Identität, konstruiert deren Kohärenz und Dauerhaftigkeit. Dies ist für Mead auch in Wettkämpfen gegeben, bei denen die Spieler sich in die Rollen vieler verschiedener Mitspieler hineinversetzen und die verschiedenen Rollen zueinander in Beziehung setzen müssen. Die verschiedenen Rollen werden dabei vom Individuum zu einem sinnvollen und kohärenten Bild organisiert. Durch Wiederholung werden die Rollenübernahmen routiniert und die Identitäten gefestigt (Mead 1934/1973, 191-201).

Mit den Mechanismen des Hin und Her und der Wiederholung ist der Grundstein zum Verständnis der Herausbildung von sozialen und kulturellen Ordnungen gelegt. Differenzen werden spielerisch aus verschiedenen Perspektiven erfahren, in der Wiederholung in einen Sinnzusammenhang gebracht und durch die intersubjektive Anerkennung als sinnvolle bzw. bedeutende Grenzmarkierungen wird deren objektiver Charakter konstruiert. In dieser Lesart wird das Spiel zu einem Modus von Weltverstehen des Menschen, der durch das Ausbrechen aus intimen geschlossen Gedanken und das Eintreten in die Öffentlichkeit der sozialen und materiellen Umwelt sowie den anschließenden Rückzug ins Private gekennzeichnet ist. Ekstase und das „Sichzurückziehen“ gehen hierbei eine Verbindung ein (Bally 1945, 94; Huizinga 1956, 19; Scheuerl 1975, 207).

Der „Witz“ des Spiels (Huizinga 1956, 10), das heißt die von den Spielenden erlebte Intensität, basiert in weiten Teilen auf dem dem Spiel inhärenten Zufall. Er führt dazu, dass der Sieger den Sieg mit dem Glauben des Auserwähltseins oder an eine glückliche Fügung verbindet und sich über die Verlierer erhebt. Spielen, die Elemente des Zufalls beinhalten, wird daher eine besonders hohe Intensität zugesprochen (Huizinga 1956, 28, 53-55). Kultur besitzt demnach ein spielerisches Element und ist in der Bedeutungsebene verortet (Huizinga 1956, 51). In kulturwissenschaftlicher Sicht basieren die sozialen und kulturellen Ordnungen auf bedeutungsvollen Grenzmarkierungen, die arbiträr gewählt werden können. Die emergierenden Grenzen sind deshalb situative Grenzen, die im Hin und Her der Perspektiven Änderungen unterworfen sind.

Fruchtbar weiterentwickelt wurden die bisher dargestellten Gedanken von Clifford Geertz, der 1973 das Konzept „tiefes Spiel“ entwickelte, um die gesellschaftliche Verankerung des balinesischen Hahnenkampfes aufzuzeigen. Für ihn ist Kultur ein Bedeutungsgewebe, das den Hintergrund sozialer Ordnung bildet, die wiederum die Bedeutungen formt. Kultur konstituiert demnach soziale Ordnung und umgekehrt (Geertz 1973/1983a, 9; Roseberry 1982, 1016). Dabei ist für Geertz die Produktion von Bedeutung die primordiale Form des menschlichen Weltverstehens (Geertz 1973/1983b, 233).

In seinem Aufsatz „Deep play: Bemerkungen zum balinesischen Hahnenkampf“ zeigt er, dass im Hahnenkampf die Statushierarchie der Gesellschaft von den Spielenden in das Spiel überführt wird. Die Repräsentationen im Spiel sind dabei kein Spiegelbild des Alltags (Pollock 2003, 151), sondern stellen einen Metakommentar zur sozialen Ordnung dar, in dem die im Alltag verdeckten Bedeutungen und deren Ordnung symbolischen Ausdruck finden. Beim Hahnenkampf stehen sich nicht nur symbolisch die Besitzer der kämpfenden Hähne gegenüber, sondern auch deren Verwandtschaftsgruppen, Dorfgemeinschaften etc. Die kollektiven Identitäten werden symbolisch und metaphorisch verhandelt und repräsentiert und es werden spielerisch die gesellschaftlichen Hierarchien kommentiert (Geertz 1973/1983b, 235, 252).

Wo bisher die Spiele als selbstreferenziell beschrieben (Huizinga 1956, 54) oder als „geschlossene Welt“ (Caillois 1958/1960, 13) dargestellt wurden, machen es die Überlegungen von Geertz möglich, das Spiel in Bezug auf den Alltag und die soziale Umwelt zu interpretieren, auch wenn er die Selbstreferenzialität „nur“ ausweitet – vom Hahnenkampf auf die gesamte balinesische Gesellschaft (Ancelet 2001, 144; Niehaus und Stadler 2004, 364; Roseberry 1982, 1018).

Für Geertz werden Spiele „tiefer“, je bedeutungsvoller sie für die Spielenden werden. Die Bedeutung erhalten sie durch ihre Referenz auf bestehende Statusunterschiede, die im Alltag verdeckt sind und nun spielend angezeigt werden. Im Spiel werden die kollektiven Identitäten in der Öffentlichkeit dargestellt, weshalb die Darstellung von den Spielenden reflektiert wird. Die Art der Darstellung verbildlicht die kollektive Identität in einer mehr oder weniger kontrollierten Art und Weise und wird so selbst konstitutiv für die beteiligten Identitäten (Geertz 1973/1983b, 233). Dem Spiel ist es als kulturellem Metakommentar eigen, eine Reflexion der kollektiven Identitäten der Gesellschaft anzustoßen und diese dadurch zu objektivieren. Folglich verändert sich die Statushierarchie im Alltag durch Gewinnen oder Verlieren im Spiel nicht (Geertz 1973/1983b, 231-232).

Die (verdeckten) sozialen Ordnungen werden im Spiel repräsentiert und in einen sinnvollen Zusammenhang gebracht, indem sie mit Bedeutungen wie „[…] Tod, Männlichkeit, Wut, Stolz, Verlust, Gnade und Glück […]“ (Geertz 1973/1983b, 246-247) belegt werden, die über die alltägliche Bedeutung der Ordnungen hinausgehen. Repräsentationen sind daher als wirklichkeitsschaffende Darstellungen anzusehen. Über den Wettkampf wird in der Bedeutungsebene ein Zusammenhang zwischen sozialen Ordnungen konstruiert, der moralisch aufgeladen ist. Geertz meint folgerichtig, dass das Spiel eine „Art Gefühlsschulung“ (Geertz 1973/1983b, 254) darstellt, bei der die Spielenden lernen, was sie bei bestimmten Anlässen empfinden sollten. Die Tiefe eines Spiels ergibt sich somit aus der Fähigkeit des Spiels, kollektive Identitäten zur Reflexion der sozialen Ordnung zu animieren und dabei starke Emotionen hervorzurufen. Tiefe Spiele sind keine bloßen Darstellungen, die in eine Lebenswirklichkeit eingebettet sind, sondern sie sind höchst bedeutungsvoll, entfachen Leidenschaften und bringen soziale Wirklichkeiten hervor.

Doch die Kulturanalyse von Geertz blendet trotz ihrer interpretativen Schärfe die historische und politische Dimension des Spiels weitgehend aus. Seine dichte Beschreibung des balinesischen Hahnenkampfs wirkt, als wären die Regeln des Wettkampfs keinen Veränderungen unterworfen. Des Weiteren erwecken seine Ausführungen den Anschein, als sei die Bedeutung für die teilnehmenden Individuen und Kollektive eindeutig. So vernachlässigt die von ihm verwendete Metapher „Kultur als Text“ (Geertz 1973/1983b, 253) den Umstand, dass Texte von bestimmten Personen geschrieben werden, die bestimmte Interessen verfolgen. Seine Fokussierung auf die Bedeutungsebene lässt zudem die materielle Umwelt und die Verkörperung von Kultur in Praktiken und somit den performativen Charakter von Körpern und Handlungen unbeachtet (Roseberry 1982, 1019-1023).

Verschiedene aktuelle Artikel, die das Konzept „tiefes Spiel“ als interpretativen Rahmen nutzen, haben es passend weiterentwickelt. So zeigen die Artikel von Niehaus und Stadler (2004) über den Tanz muchongolo in Südafrika, der als Fest lokaler Gruppen zelebriert wird, und der Artikel über das Hegins-Taubenschießen5 von Bronner (2005), dass das Spiel historischen Veränderungen unterliegt, im Spiel verschiedene Bedeutungsebenen miteinander verwoben werden, die Identitäten bei der Darstellung in der Öffentlichkeit umkämpft sind und sich das Spiel auf verschiedene lokale und globale Kontexte bezieht.

Niehaus und Stadler (2004) verdeutlichen, dass neben den Tanzenden auch die Zuschauer den Verlauf des Tanzes beeinflussen und dem Tanz durch ihre Präsenz eine eigene Dynamik geben. Sie zeigen, dass, obwohl die Darstellungsformen relativ konstant bleiben, sich die Inhalte der gesungen Lieder je nach der aktuellen lokalen und globalen politischen Situation ändern. Die Tänzer und Zuschauer stellen nicht einfach etwas dar, sondern reflektieren das aktuelle Weltgeschehen, wodurch der Tanz Veränderungen unterliegt.

Bronner (2005) verdeutlicht, dass Tierschutzbewegungen einen großen Einfluss sowohl auf die äußere Form als auch auf den Inhalt von Spielen haben können. In seinen Darstellungen wird das Festhalten an den Traditionen des Wettkampfs zur Behauptung der kollektiven Identität gegenüber einer andersdenkenden Öffentlichkeit. Das Spiel selbst wird Ausdruck von sozialen Grenzen. Er zeigt, dass verschiedene Gemeinschaften bzw. Interessensgruppen das Taubenschießen mit verschiedenen Bedeutungsgehalten aufladen, die in seinem Fall miteinander in Konflikt stehen. Spiele zu interpretieren verlangt für ihn deshalb die verschiedenen „semiotic layers“ (Bronner 2005, 414) des Spiels zu berücksichtigen (Bronner 2005, 411-414). O’Donnell (2014) kommt in seinen Überlegungen über Computerspiele zu einem ähnlichen Ergebnis:

„Deep Play is always enmeshed in broader systems. There are ‘official’ boundaries, but even these can be surmounted, and often that is precisely the point, by various other mechanisms. Put another way, there is an outside to a game, but it is partial and contextual.“ (O’Donnell 2014, 409)

Spiele sind demnach nicht nur in einen sozialen Kontext eingebunden, sondern in verschiedene, die unterschiedliche Grade und Arten von Öffentlichkeit implizieren (Bronner 2005, 443). Das Spiel muss daher trotz seiner speziellen Logik als offenes kulturelles System interpretiert werden, das neben den lokalen sozialen Kontexten auch in globale Wirklichkeiten eingebettet ist. Zusätzlich zur Integration verschiedener gesellschaftlicher Wirklichkeiten in einen sinnvollen Bedeutungszusammenhang erlauben es die Darstellungen im Spiel, ein gewisses Maß an Kontrolle über die eigene kollektive Identität auszuüben. In einer global vernetzten Welt sehen sich Gemeinschaften der Notwendigkeit ausgesetzt, ihre kollektive Identität zu entäußern bzw. öffentlich darzustellen, um die Deutungshoheit über ihre Identitäten gegenüber einer sozialen, kulturellen und materiellen Umwelt nicht zu verlieren (Silverstone 2007, 54).


2 Anmerkungen zu den Erhebungsmethoden
Der Autor erhob die empirischen Daten während zweier Aufenthalte in Siena. Der erste Aufenthalt fand als Voruntersuchung im August und September 2014 statt. Das Ziel war es, den Untersuchungsfokus einzugrenzen, wozu unstrukturierte Gespräche, die anschließend protokollierte wurden, sowie Beobachtungen durchgeführt wurden. Während des zweiten Aufenthalts von Mai bis Ende August 2015 führte der Autor 20 semistrukturierte Interviews (drei Frauen und 17 Männer), die er aufzeichnete, und hielt gemachte Beobachtungen und Gespräche mit Informanten in Feldtagebüchern fest. Interviews führte er vor allem mit Personen, die Führungspositionen in den Contrade innehaben (12), aber auch mit Contrade-Mitgliedern ohne spezielle Aufgaben (sechs) sowie mit zwei Experten, die als Kulturanthropologen über längere Zeit mit den Contrade zusammenarbeiteten.

Die Beobachtungen im Jahre 2015 umfassten 39 Gespräche mit 22 Informanten, darunter fünf Frauen, Kartierungen und die Teilnahme an verschiedenen Veranstaltungen. Diese Gespräche zeichnete der Autor nicht auf, sondern protokollierte sie im Feldtagebuch, da so eine intime Gesprächssituation geschaffen wurde und auch heikle Themen angesprochen werden konnten. Darüber hinaus nahm der Autor an Umzügen durch die Stadt sowie an Veranstaltungen (Buchvorstellungen, Abendessen etc.) in den Contrade teil. Des Weiteren kartierte er die Absperrungen von Straßen und Plätzen, die im Rahmen des Palio vorgenommen wurden. Ferner kartierte er die Standorte der Gruppen von Contrade-Mitgliedern auf der Piazza del Campo und der um die Rennbahn herum aufgebauten Tribünen während der Veranstaltungen, die mit dem Palio in Verbindung stehen.

Um die verschiedenen Informationsquellen in der Auswertung auseinanderzuhalten und gleichzeitig die Anonymität der Interviewpartner zu garantieren, kennzeichnet der Autor die Interviewpartner als „IP“ plus eine Zahl zwischen 1 und 20. Die Informationen aus protokollierten Gesprächen werden mit dem Verweis auf die Informanten unter „IF“ plus eine Zahl zwischen 1 und 22 angegeben. Den historischen Bezug der Aussagen der Interviewpartner sowie die geschichtliche Entwicklung des Palio und der Contrade werden auf Basis wissenschaftlicher Quellen in die Auswertung eingebunden.


3 Der Palio von Siena: Ablauf, Spieler und Spielfeld
Jedes Jahr finden zwei Palii6 (Pl. von Palio) – am 2. Juli und 16. August – auf dem zentralen Platz Sienas, der Piazza del Campo, statt (vgl. Abb. 1). Beide Termine gehen auf kirchliche Festtage zurück, an denen über die Jahrhunderte hinweg Wettkämpfe und Umzüge verschiedenster Ausprägung (auch Militärparaden) mit religiösem Bezug veranstaltet wurden. Während der Palio zu Mariä Heimsuchung schon im 17. Jahrhundert regelmäßig stattfand, wird er am Tag nach Mariä Himmelfahrt erst seit Beginn des 19. Jahrhunderts kontinuierlich ausgetragen (Dundes und Falassi 1975/1994, 17-18). Dabei bilden beide Termine voneinander unabhängige Spielkreisläufe, das heißt, die Rituale und das Prozedere beider Palii werden voneinander unabhängig ausgeführt und beziehen sich auf das jeweilige Vorjahr (Silverman 1979, 415).

 

Abbildung 1: Die Innenstadt Sienas

 

Quelle: Dundes und Falassi 1975/1994, 25

 

Aufgrund der Enge der Rennbahn und der Kurven treten lediglich zehn der 17 Contrade gegeneinander an. Die offiziellen Vorbereitungen der nur ca. 80 Sekunden dauernden Rennen beginnen mit der Festlegung der teilnehmenden Contrade ca. einen Monat vor dem jeweiligen Wettkampf. Gesetzt sind die sieben Contrade, die im Vorjahr nicht teilnahmen. Sie wurden bereits im Vorjahr per Losverfahren7 in eine bestimmte Reihenfolge gebracht. Dazu gesellen sich die drei erstgezogenen Contrade, die unter der Aufsicht des Bürgermeisters und im Beisein aller 17 Capitani (Kapitäne) der Contrade ausgelost werden. Die Auslosung findet in der Podestà unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Jedoch werden die Resultate zeitgleich auf der Piazza del Campo verkündet. Anwesend sind dabei einige Hundert Menschen, meist Contrade-Mitglieder, und es kommt zu ersten Gefühlsausbrüchen ob der Enttäuschung, nicht dabei zu sein oder der Freude über die Teilnahme (Beobachtungen 2014, 2015). Seit dem 16. Jahrhundert sind die Contrade die Hauptprotagonisten der Festlichkeiten8 (Cecchini und Neri 1958, 54-68; Dundes und Falassi 1975/1994, 14-15) und bilden eine von der Stadtverwaltung losgelöste autonome städtische Ordnung (Savelli 2008, 68). Im Jahre 1721 wurde dies durch das 16 Artikel umfassende erste Regelwerk zum Palio rechtlich fixiert.9 Die Contrade und der Palio sind stark miteinander verbunden, jedoch sind nicht alle Aktivitäten der Contrade auf den Palio fokussiert. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts ist die Stadtverwaltung Sienas der Veranstalter und Schiedsrichter der Palii, nachdem zuvor Adlige Veranstalter waren (Dundes und Falassi 1975/1994, 18). Sie bezahlt die Pferdebesitzer, kümmert sich um die Einhaltung des aktuellen Regelwerkes von 1999, das nun 105 Artikel auf 23 Seiten umfasst10, und führt alle Auslosungen durch bzw. beaufsichtigt diese. Von der Stadtverwaltung wird seitens der Contrade-Mitglieder Neutralität erwartet (Beobachtungen 2015).

Der historische Ursprung des Palio wird von den Contrade-Mitgliedern im Mittelalter gesehen, als Siena eine autonome Stadtrepublik bildete und im ständigen Konflikt mit Florenz stand. Die Geschichte des Palio wird von allen Interviewpartnern als eine kontinuierliche Geschichte dargestellt. Einige gehen davon aus, dass die Contrade und der Palio schon seit dem Mittelalter (12. bzw. 13. Jahrhundert) existieren und die Contrade aus militärischen Einheiten hervorgegangen seien.11 Für die Contrade-Mitglieder ist die mittelalterliche Republik ein Symbol für Selbstbestimmung und Wohlstand. Im 19. Jahrhundert wurde offiziell beschlossen im Palio eine mittelalterliche Heraldik zu benutzen und ihn mit militärischen Kontexten zu verbinden, um an diese für die Stadtbewohner stolze Zeit der Autonomie und Fortschrittlichkeit Sienas im Mittelalter zu erinnern (Parsons 2004, 136). Die Contrada-Farben (vgl. Tab. 1), die mittelalterlichen Trachten, die unterschiedliche militärische Ränge darstellen, und die mittelalterlich anmutende Heraldik (Tab. 1) bilden das ästhetische Leitmotiv der Contrade, des Palio sowie des direkt vor dem Rennen stattfindenden Corteo Storico (historischen Umzugs). Bei Letzterem ziehen die Contrade symbolisch in die Schlacht, die heute symbolisch im Wettkampf stattfindet.

 

Tabelle 1: Die Contrade – ihre Wappentiere, ihre Farben sowie ihr Verhältnis  untereinander während des Wettkampfs

 

Quelle: Eigener Entwurf zusammengestellt nach den Webseiten der Stadtverwaltung Sienas12

 

Während die Geschicke der einzelnen Contrada in der Zeit außerhalb des Palio von einem Priore (Präsident) und einer „Friedenszeitregierung“ gelenkt wird, führt eine spezielle „Kriegszeitregierung“ die Verhandlungen, die sich auf den Palio beziehen. Beide Regierungen werden von den Mitgliedern gewählt, die in ihrer Gesamtheit das Popolo (Volk) darstellen. Wichtige Entscheidungen des Priore müssen vom Popolo zuvor abgesegnet werden, wofür Generalversammlungen einberufen werden. Die „Kriegszeitregierung“ besteht aus dem Capitano (Kapitän) und seinen Leutnants und ist damit beauftragt, den Palio zu gewinnen bzw. das beste Ergebnis für die Contrada zu erzielen. Dafür muss die „Kriegszeitregierung“ keine Rücksprache mit dem Popolo halten, obwohl sie dabei über hohe Geldsummen verfügen kann. Beide „Regierungsformen“ sind als Anspielung auf die mittelalterliche Republik Siena zu verstehen, die im Kriegsfall militärisch geführt, sonst aber als Comune mit relativ freien Wahlen regiert wurde (Beobachtungen 2014, 2015).

Die Contrade stehen, wie in Tabelle 1 dargestellt, zueinander in Rivalität oder Freundschaft oder verhalten sich „neutral“ zueinander. Befreundete Contrade helfen sich gegenseitig bei den Vorbereitungen und während des Rennens wird ihnen der Sieg (meist) gegönnt. Verfeindete Contrade versuchen den Sieg der Rivalen unter allen Umständen zu verhindern. Um dies zu erreichen, treffen die Contrade untereinander und mit den Jockeys, die in der Regel keine Contrada-Mitglieder sind, geheime Absprachen. Dabei werden hohe Geldsummen eingesetzt oder es wird Hilfe bei zukünftigen Palii vereinbart. Während das Pferd als Symbol für Glück und Unbestechlichkeit gilt, werden die Jockeys von den Contrade-Mitgliedern mit Argwohn betrachtet, da diese monetäre Interessen verfolgen. Die Jockeys gelten als bestechlich und illoyal. Die Abmachungen zwischen den Contrade werden von den Mitgliedern als ehrenvoll angesehen, was auf eine enge Beziehung zwischen ihnen hinweist. Dagegen werden die Abmachungen mit und zwischen den Jockeys als Risiko angesehen, denn diese repräsentieren ein unkontrollierbares Außen, das in erster Linie der Logik des Geldes folgt und nicht dem Wohl der Contrada verpflichtet ist. Allerdings wird den Jockeys Sachverstand zugesprochen, weshalb sie die Capitani bei der Wahl der Pferde beraten13 (IF 1; IF 16; IF 18; IF 20).

Die „heiße“ Phase des Palio beginnt ca. eine Woche vor dem Rennen, wenn auf der Piazza del Campo der Belag für die Rennbahn aufgetragen wird. Alle Contrade schmücken ihre Stadtteile und die Capitani verhandeln nun verstärkt miteinander, um durch geheime Absprachen die Erreichung der Ziele14 wahrscheinlicher zu machen. Die Contrade begeben sich in wechselseitige Abhängigkeiten. In den Absprachen werden verschiedene Szenarien des Rennens durchgespielt und Hilfe für eventuelle Strategien erbeten. Die Abmachungen bleiben auch für das Popolo geheim und verabredete Geldsummen werden nur vom Sieger beglichen. Dies geschieht noch am Abend des Sieges, denn diese Schulden sind Ehrenschulden (IF 5; Beobachtungen 2015). Die Spannung steigt stetig unter den Mitgliedern der Contrade, deren Gespräche sich um die Pferde, Jockeys, die eigenen Strategien und mögliche Strategien anderer Contrade drehen. Über genaues Wissen darüber verfügt jedoch niemand, weshalb es sich um Spekulationen handelt, wie die Gesprächspartner betonen (IF 4; IF 11).

In dieser Woche spielt sich ein Großteil des Lebens der Mitglieder im Privaten des Stadtviertels ab.15 Sie treffen sich täglich mehrmals zum Essen und Vorbereiten. Sie singen gemeinsam ihre Contrada-Hymne sowie Schmähgesänge gegen die verfeindete Contrada. Die Schmähgesänge haben bei allen Contrade die gleiche Melodie und einen ähnlichen Inhalt, aber der jeweilige Contrada-Namen und bestimmte Textstellen, die auf die verfeindete Contrada verweisen, werden ausgetauscht. Bei den vier stattfindenden Abendessen vor dem Rennen, an denen zwischen 100 und 1.500 Personen teilnehmen, werden die Straßen und Plätze für Fahrzeuge gesperrt (vgl. Fotografie 1) und Passanten gebeten die Festgesellschaft nicht zu stören. Bei gleichzeitigen Essen von 17 Contrade besetzen diese damit große Teile Sienas.16 Nichtmitglieder (auch Touristen) können als Gäste an den Abendessen teilnehmen, die zwischen 15 und 45 Euro kosten (Beobachtungen 2015).

 

Fotografie 1: Sperrung des Zugangs zur Straße Via dei Pispini durch die Contrada Nicchio, vor dem letzten Abendessen, Juli-Palio 2015



Quelle: Eigene Fotografie 2015

 

Die Rolle der eingesetzten Geldsummen für den Ausgang des Wettkampfs wird durch den Einsatz von Losverfahren in verschiedenen Stadien der Vorbereitung und damit durch einen institutionalisierten Zufall herabgesetzt. Die Pferde werden erst drei Tage vor dem Rennen von den Capitani der zehn teilnehmenden Contrade ausgewählt, je nachdem welche Taktik sie wählen, werden eher gleichstarke oder unterschiedlich starke Pferde ausgesucht. Dabei wissen sie nicht, welchem Pferd ihre Contrada am gleichen Tag später zugelost wird. Nach der Auswahl lost der Bürgermeister die Contrade den Pferden zu und nicht umgekehrt. Symbolisch wird dadurch das Glück der Contrade in die Hufe der Pferde gelegt und die Pferde werden zum Verwalter des Schicksals der Contrade. Bei der öffentlich abgehaltenen Auslosung kommt es daher zu starken Gefühlsausbrüchen unter den Contrade-Mitgliedern, die auf die Piazza del Campo strömen, je nachdem, ob sie einem Favoriten zugelost werden oder nicht. Auf dem Campo finden sie sich zu nach Contrade geordneten Gruppen zusammen (Beobachtungen 2014, 2015).

Danach finden sechs Probeläufe statt, bei denen die Pferde öffentlich auf der Rennbahn ausprobiert werden. Bei den Proben formen die Contrada-Mitglieder Gruppen, die „angestammte“ Standorte auf dem Platz besetzen. Obwohl die Sitzplätze der Tribünen, die die Rennbahn umgeben, frei verkauft werden, wird ein Großteil der Tribünenabschnitte von Contrade-Mitgliedern besetzt. Jede Contrada besetzt dabei bestimmte Abschnitte, wobei diese häufig nach Generation und Geschlecht unterteilt werden.17 Von ihnen erschallen die Schmähgesänge18, die schon bei den Probeläufen mit ausgestecktem Arm und geballter Faust gegen die rivalisierende Contrada geschmettert werden (IF 1; IP 19; Beobachtungen 2015). Am Tag des Palio findet morgens die letzte Probe statt. Nachmittags wird das Pferd in der Kirche der Contrada geweiht, wobei einige Contrada-Mitglieder aufgrund der großen Anspannung zu weinen beginnen. Bei diesem Ritual werden symbolisch die Hoffnungen der Contrada auf das Pferd übertragen. Den Mitgliedern wird bewusst, dass die Frucht aller Anstrengungen nun weitgehend vom Pferd und von dessen Tagesform abhängt (IF 4; Beobachtungen 2015).

Um 16:50 Uhr zieht der Corteo Storico auf der Piazza del Campo ein. Die im historischen Umzug dargestellten Figuren dürfen hierbei nur von Männern gespielt werden. Es dürfen auch nur Männer Fahnenträger und Trommler der Contrade werden, wobei die Frauen bei den Umzügen im Popolo hinter diesen herlaufen (Beobachtungen 2015). Begründet wird der Ausschluss der Frauen damit, dass Frauen im Mittelalter, dem historischen Vorbild des Umzugs, nicht in den Krieg zogen und es somit eine geschichtlich falsche Darstellung wäre. Eine Argumentation, die von Männern und Frauen anscheinend gleichermaßen anerkannt wird (IF 1; IP 17; IP 19).

Um ca. 19:20 Uhr betreten die Pferde und die Jockeys unter lautem Jubel und Gesängen sowie einem Kanonenschlag die Piazza del Campo und begeben sich zum Start. Nun erst wird die Startreihenfolge unter Aufsicht der Stadtverwaltung von einer Kommission ausgelost. Ein Startplatz in der Innenkurve gilt als günstig, ein außen gelegener als ungünstig. Die Anspannung der Contrada-Mitglieder drückt sich in Schweigen vor der Verkündung sowie in Schreien der Freude bzw. der Enttäuschung nach der jeweiligen Verkündung aus. Erst jetzt sind die Chancen auf den Sieg besser kalkulierbar. Erst jetzt, nachdem die Startreihenfolge festgelegt ist, die Contrade aber keinen direkten Einfluss mehr auf das Geschehen des Rennens haben. Die Eventualitäten mussten zuvor in den Verhandlungen bedacht werden und die finalen Verhandlungen werden nun von den Jockeys übernommen. Es beginnen komplexe Verhandlungen und Taktiken der Jockeys, um die Gegner zu ermüden und die eigene Ausgangssituation zu verbessern, die den Start des Rennens um bis zu eine Stunde hinauszögern können (Beobachtungen 2015).

Nach dem Rennen verfallen die Mitglieder der siegreichen Contrada in einen Freudentaumel. Das Gefühl nach dem Sieg können sie nur schwer beschreiben. Viele von ihnen beschreiben es als das „totale Glück“ und berichten von Erinnerungslücken aufgrund der enormen Anspannung und der starken Gefühle. In den ersten Sekunden sind sie laut eigenen Aussagen in sich selbst zurückgezogen und erst nach ein paar Sekunden/Minuten realisieren sie den Sieg und suchen die anderen Contrada-Mitglieder, um diese zu umarmen (IF 5; IP 1; IP 8; IP 11; IP 14; IP 20).

Aufgrund der eingebauten und mit Zeremonien verbundenen Zufälle wird der Sieg als glückliche Fügung angesehen, die jedoch durch harte Arbeit erzwungen wurde (IF 4; IP 3; IP 8; IP 14). Der institutionalisierte Zufall, der einen Kontrollverlust über das Spiel bedeutet, wird auf diese Weise mit Bedeutung belegt und zum Schicksal, bei dem eine höhere Macht, symbolisiert durch das Pferd, die Kontrolle über den endgültigen Ausgang des Spiels erhält. Das gütige Schicksal lässt unter den Mitgliedern der siegreichen Contrada ein Gefühl des Auserwähltseins aufkommen und verbindet diese eng miteinander.19

Nach dem Sieg feiern die Mitglieder der siegreichen Contrada ausgelassen in ihrem Stadtviertel, organisieren gemeinsame Abendessen und ziehen am nächsten Tag in Trachten und unter dem Schwenken ihrer Contrada-Fahne und begleitet von typischen Trommelrhythmen durch die Stadt. Nach dem Sieg gehört der siegreichen Contrada symbolisch die Stadt. Nur ihr ist es gestattet, solche Umzüge zu veranstalten. Nur sie darf ihr Stadtviertel mit ihren Fahnen und elektrischen Kerzenleuchtern in den Contrada-Farben noch über Wochen hinweg geschmückt lassen. Nur dieser Contrada ist es erlaubt, sich öffentlich über die anderen Contrade lustig zu machen bzw. diese zu verhöhnen. Nur sie feiert von Mitte August bis Ende September jeden Abend. Viele Mitglieder der unterlegenen Contrade sind hingegen über Tage hinweg deprimiert und über Wochen enttäuscht (Beobachtungen 2014, 2015).

Das Spielfeld des Palio umfasst die gesamte mittelalterliche Innenstadt, das heißt das Gebiet innerhalb der mittelalterlichen Stadtmauern (vgl. Abb. 1). Hier liegen die Territorien der Contrade und die Orte, auf denen die verschiedenen Zeremonien stattfinden. Im Rahmen des Palio werden verschiedene Orte mit bestimmten Funktionen belegt, die grob in private und öffentliche Funktionen untergliedert werden können.

An den „öffentlichen“ Orten werden Rituale durchgeführt, an denen alle Contrade teilnehmen und bei denen auch der häufigste Kontakt mit Nicht-Contrade-Mitgliedern stattfindet. Diese Orte sind in der Woche vor dem Rennen mit den Fahnen aller 17 Contrade in alphabetischer Reihenfolge oder in der Reihenfolge, die bei der Auslosung der Teilnahme der Contrade festgelegt wurde, geschmückt (vgl. Fotografie 2). Dazu gehört die Piazza del Campo, auf der die Rennen ausgetragen werden, die offiziellen Auslosungen stattfinden und die Jockeys gesegnet werden. In der Podestà, dem Sitz der Stadtverwaltung, finden geheime Auslosungen und Besprechungen mit der Stadtverwaltung statt. Im Dom endet nach dem August-Palio der Siegesumzug, nach dem Juli-Palio endet er in der Kirche Santa Maria di Provenzano. Weitere öffentliche Gebäude der Innenstadt werden während der Umzüge von allen Contrade angelaufen, um dort ihre Choreografien des Fahnenschwenkens auszuführen20 (Beobachtungen 2014, 2015).

 

Fotografie 2: Die Fahnen der Contrade werden während der Auslosung aus den Fenstern der Podestà, die an die Piazza del Campo grenzt, herausgehängt. In der unteren Reihe befinden sich die Fahnen der zehn teilnehmenden Contrade. In der oberen Reihe, die der Contrade, die nicht teilnehmen dürfen. Die Fahnen werden von rechts nach links ausgehängt



Quelle: Eigene Fotografie 2015

 

Die „privaten“ Gebiete bestehen aus den Straßen des Stadtviertels der jeweiligen Contrada und deren in diesem Stadtviertel liegenden Einrichtungen und Immobilien. Im Jahr 1729 wurde aufgrund andauernder Grenzstreitigkeiten unter den Contrade im sogenannten Bando di Violante die Anzahl der Contrade auf 17 fixiert und deren Grenzen in einem Dekret festgelegt, das noch heute Gültigkeit besitzt (Warner 2004, 74). In die Stadtviertel ziehen sich die Contrada-Mitglieder zurück, um die Strategien des Wettkampfs zu besprechen und intime Rituale durchzuführen. Jede Contrada verfügt seit dem 17. Jahrhundert über eine eigene Kirche (Grassi 1987, 15-17), in der das Pferd vor dem Rennen gesegnet wird, seit Ende des 19. bzw. Anfang des 20. Jahrhunderts über ein eigenes Vereinshaus (IF 22; IP 8), seit den 1950er-Jahren über einen eigenen Brunnen, in dem die neuen Mitglieder getauft werden21 (IF 1; IP 11) und einen Stall für das Pferd. Die Straßen werden während des Palio mit den Fahnen und elektrischen Kerzenhaltern der Contrade geschmückt (vgl. Fotografie 3) und auf der jeweiligen Hauptstraße oder dem Hauptplatz finden die Abendessen vor dem Palio statt (Beobachtungen 2014, 2015). Alle Informanten und Interviewpartner sind sich darüber einig, dass Außenstehende diese „privaten“ Veranstaltungen möglichst nicht besuchen und unter keinen Umständen stören sollten.

 

Fotografie 3: Die Straße Via di San Marco wird von der Contrada Chiocciola mit den Fahnen der Contrada sowie den elektrischen Kerzenhaltern in den Contrada-Farben geschmückt. In den vier letzten Tagen vor dem Rennen finden abends Essen statt, wofür Holzbänke und Tische aufgebaut werden. Tagsüber werden die Tische und Bänke an die Seite der Straße gestellt bzw. abgebaut, damit die Straße befahrbar ist



Quelle: Eigene Fotografie 2014


4 Das „tiefe Spiel“: Der Palio und die sozialen Ordnungen
„Il Palio è vita“ („Der Palio ist Leben“) stand auf den orangefarbenen T-Shirts der Contrada-Mitglieder der Selva, nachdem sie den August-Palio 2015 gewonnen hatte. Der Palio ist für die Mitglieder aller Contrade nicht nur ein Spiel, nach dessen Ende sie zur Tagesordnung übergehen, sondern Lebensinhalt. Aufgrund der vielfältigen Aktivitäten der Contrade, die einen Bezug zum Palio haben und das ganze Jahr hindurch andauern, findet der Palio nach Meinung der Interviewpartner und vieler Forscher das ganze Jahr hindurch statt. Er gibt der Stadt nach Silverman (1979, 426) einen zirkulären Lebensrhythmus vor, da sich die Geschehnisse jährlich wiederholen. Die Lebenswelt während des Wettkampfs scheint somit nicht völlig vom Alltag abgehoben zu sein, sondern ist mit ihm verzahnt. So bildet der Wettkampf das thematische und ästhetische Zentrum für die Contrade, das ihnen Zusammenhalt verleiht und dauerhafte Spielgemeinschaften hervorbringt. Es ist teilweise auch für die innere Differenzierung der Contrade verantwortlich.

Die innere Differenzierung der Contrade entwickelte sich über die Jahrhunderte in Relation zum Palio, was zeigt, dass er ein offenes Bedeutungssystem darstellt, das in Verbindung zum lokalen und globalen Alltag steht und historischen Veränderungen unterliegt. So wurden die Ordnungen der militärischen Compagnie (im 12. bis 16. Jahrhundert) (Cechini und Neri 1958, 10) und das soziale Ordnungsprinzip, bei dem Stadteilbürgermeister die Viertel administrativ führten (13. bis 16. Jahrhundert) (Warner 2004, 77), symbolisch in die ludische Ordnung der Contrade mit dem Palio als integrativem Zentrum überführt (Savelli 2008, 258). Diese Integration scheint im 19. Jahrhundert ihren Abschluss zu finden. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts wurden die Festlichkeiten noch von Königen und Adligen veranstaltet und bezahlt. Später übernahmen die sogenannten Protettori (Schutzpatrone), reiche Personen, die Finanzierung der geheimen Absprachen und der Trachten. Die Mitgliedschaft in einer Contrada wurde bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts über die Geburt in einem bestimmten Stadtteil bestimmt. Sie war jedoch wahrscheinlich nicht fixiert und orientierte sich an gemeinsamen Aktivitäten im Stadtteil (Savelli 2008, 214-218). Im 19. Jahrhundert wurden die Contrade zunehmend als autonome soziale Ordnung von der Stadtverwaltung anerkannt und finanzierten sich zunehmend über ihre Mitglieder. Am Ende des 19. Jahrhunderts wurden die Contrade endgültig auf eine bürgerliche Basis gestellt. Die offizielle Mitgliedschaft wurde eingeführt, die seither durch das Bezahlen eines jährlichen Beitrags und die Aufnahme in ein Register formalisiert wird. Alle Mitglieder sind seitdem automatisch Protettori ihrer Contrada (IF 3; IP 3; IP 7).

Bis zum Zweiten Weltkrieg konnten nur erwachsene Männer Mitglied werden, wobei die anderen Stadtteilbewohner als Teil der Contrada ohne Stimmrecht gesehen wurden. Durch Zuzüge aus weiten Teilen Italiens, die Expansion der Stadt und den Umstand, dass viele Babys in Krankenhäusern und damit außerhalb des Stadtviertels zu Welt kamen, änderten sich im 20. Jahrhundert die Mitgliedschaftsbedingungen. Das Prinzip des Geburtsrechts wurde durch familiär begründete Mitgliedschaft erweitert und Zugezogene wurden nach dem Wohnprinzip – sie gehören der Contrada an, in der sie wohnen – integriert. Alle Prinzipien werden noch heute angewandt und folgen mittlerweile familiären oder persönlichen Entscheidungsmotiven (IF 18; IF 22; IP 8).

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die laizistische Taufe zur Contrada-Mitgliedschaft eingeführt. Seit dieser Zeit können auch Frauen, Jugendliche und Babys offiziell Mitglied werden. Die Mitglieder müssen nicht mehr zwingend im Stadtteil der Contrada, der sie angehören, wohnen, wodurch die Mitgliedschaft heute nicht mehr an das Stadtviertel gebunden ist. Sie weist jedoch weiterhin territoriale Bezüge auf.22 Diese Zeit der Öffnung der Mitgliedschaft für alle an der Contrada und dem Palio interessierten Personen markiert den Beginn der beschleunigten Professionalisierung des Palio und der Contrade (IP 1; IF 18; IF 22). Wo zuvor nur 20 bis 100 Mitglieder pro Contrada die Festzüge finanzierten und in offiziellen Trachten begingen, stiegen die Mitgliederzahlen bis heute auf zwischen 800 und 3.000 Mitglieder an. Die Contrade eröffneten in den 1970er-Jahren die ersten Trommelschulen und Schulen für Fahnenträger, in denen die eigenen männlichen Mitglieder schon im Kindesalter die benötigten Techniken einüben. In den Vereinshäusern werden seither immer häufiger (heute wöchentlich) Veranstaltungen ausgerichtet, wobei die Mitglieder die Bewirtung ehrenamtlich übernehmen (IP 15; IP 17).

Die Contrade haben sich unter diesen Bedingungen formal weiter ausdifferenziert. Zu den beiden „Regierungen“ gesellen sich nun eine Vereinsführung und Verantwortliche für die verschiedenen neuen Arbeitsbereiche. Heute umfasst die Contrada eine ausdifferenzierte formelle Struktur, die von Kindergruppen, Sportgruppen, Trommlern bis hin zu Archiven, Buchhaltung, Kulturveranstaltungsbeauftragten und der Führungsriege aus Präsidenten und Stellvertretern reicht. Seit Ende der 1990er-Jahre verfügen alle Contrade über eine eigene Homepage, auf der diese Organisationsstrukturen nachvollziehbar sind und sie sich im weltweiten Netz präsentieren.

Das soziale Leben in der Contrada ist nach Geschlecht und Alter gegliedert. Es gibt Kindergruppen, Jugendgruppen und Erwachsenengruppen. Ab dem Jugendalter werden Männer- und Frauengruppen voneinander getrennt gebildet. Bei gemeinsamen Abendessen bedienen diese Geschlechts- und Altersgruppen in bestimmten Reihenfolgen und nach Verfügbarkeit (IF 16; Beobachtungen 2015). An den Tischen ist die überwiegende Zahl der Gruppen in ihrer Zusammensetzung nach Geschlecht und Alter homogen, falls nicht, handelt es sich meist um Familien (IF 1; IP 19; Beobachtungen 2015).

Die formale interne Gliederung der Contrada in zwei „Regierungen“, aber auch die Gliederung nach Alter und Geschlecht, wird im Palio historisch im Rückgriff auf ein imaginiertes Mittelalter begründet und damit legitimiert. Diese Ordnung beinhaltet eine Benachteiligung der Frau, die bei der historischen Repräsentation während des Palio nicht teilnehmen darf (IP 19). Die geschlechtliche Teilung der Contrada ist auch in den Führungspositionen bemerkbar. Während Frauen in allen anderen Funktionen in großer Anzahl vertreten sind, werden nur wenige von ihnen Priore oder Vicario (Vizepräsident) und noch weniger Capitano. Diese Rangordnung wird vom Großteil der Mitglieder anerkannt und selten kritisiert. Die internen sozialen Grenzen der Contrada werden im Palio mit historisch gewachsenen Bedeutungen belegt und drücken sich in physisch-räumlichen Zuordnungen23 aus. Diese sozialen Grenzen werden im Palio symbolisch an physische Merkmale von Personen und Orten gebunden und mit Bedeutung belegt. Den nach Alter und Geschlecht differenzierten Kategorien von Personen werden dabei geschichtlich legitimierte soziale Positionen zugewiesen.

Zusammen bilden die Contrade einen Gemeinschaftskomplex, der ihre Ähnlichkeiten gegenüber einer Öffentlichkeit hervorhebt und anzeigt. Diese erweiterte Öffentlichkeit gliedert sich einerseits in die am Spiel beteiligten Gruppen: die Stadtverwaltung, mit der die Contrade in Komplizenschaft stehen, die Jockeys und die Pferde, denen ambivalente Gefühle entgegengebracht werden, sowie die den Wettkampf ermöglichenden Entitäten und Personen24, die von den Contrade-Mitgliedern kaum wahrgenommen werden. Andererseits bilden die am Wettkampf unbeteiligten Zuschauer (Touristen etc.) eine weitere Form von Öffentlichkeit. Ihre Anwesenheit wird toleriert, solange sie nicht stören, Geld einbringen und sich für den Wettkampf interessieren. Eine andere Art dieser Außenstehenden ist für die Contrade-Mitglieder der uninteressierte Tourist, dem sie das Recht, die Festlichkeiten in Siena zu besuchen, absprechen. Als Spielverderber im Sinne Caillois (1958/1960, 12) und Huizinga (1956, 18-19) werden von den Spielern Personengruppen wahrgenommen, die die vereinzelt auftretende Gewalt während des Palio, die Organisationsstruktur der Contrade und/oder den Umgang mit den Pferden kritisieren. Dies sind vor allem die Tierschutzorganisationen (Beobachtungen 2014, 2015).

Im Wettkampf Palio und in den ihn umgebenden Veranstaltungen, wie dem Corteo Storico, und Umzügen religiösen Charakters, an denen die Contrade in ihren Trachten teilnehmen, sowie in den Auslosungen und Segnungen repräsentieren sich die Contrade als die traditionellen und eigentlichen Herren über die Stadt. In den Wochen des Palio markieren sie ihre Stadtviertel mit ihren Symbolen (Fahnen, Kerzenleuchter, Farben etc.), erfüllen die Innenstadt mit ihrem Gesang und eigenen sich diese durch Umzüge wiederholt an. Dabei zeigen sie mittels der zur Schau gestellten Symbole ihr historisches Recht auf die Deutungshoheit bezüglich der Stadtgeschichte und des „richtigen Lebens“ in der Stadt Siena an. Alle Interviewpartner – auch jene, die nicht in Siena geboren wurden – stimmen darin überein, dass die Geschichte der Stadt und der Contrade für sie eine sehr große Bedeutung besitzt und sie sich mit ihr identifizieren. IP 1 drück dies treffend aus: „[…] ohne unsere Geschichte zu kennen, hätte alles, was wir tun, überhaupt keinen Sinn.“ Das Wissen um die Geschichte Sienas ist die erste Pflicht der Contrade-Mitglieder. Sie begründet nach Meinung aller Gesprächspartner einen Großteil der gemeinschaftlichen Identität, die über die Grenzen der Contrade hinweggreift und alle Contrade-Mitglieder miteinander vereint (IP 1; Beobachtungen 2015).

Zu besonderen Gelegenheiten sperren die Contrade Straßen und Plätze in ihrem Stadtviertel. Auf diese Weise schaffen sie territoriale Innenräume, aus denen sie, wenn auch zeitlich beschränkt, „Fremde“ ausschließen können. Zuvor öffentliche Plätze werden während der Tage der Palii zu semiprivaten Gebieten umdefiniert und als solche markiert. Diese Innenräume werden von den Interviewpartnern als Rückzugsgebiete und Gebiete beschrieben, in denen sie keinen lästigen Verhaltensregeln unterworfen sind und Kinder nur geringer Beaufsichtigung bedürfen, da die meisten Anwesenden sich untereinander kennen und aufeinander aufpassen. Sie assoziieren mit den abgesperrten Gebieten Sicherheit sowie Entspannung und fühlen sich dort wohl (IP 8; IP 16; IP 19). Die Treffen auf den öffentlichen Plätzen im Rahmen des Palio sind hingegen strikten Verhaltensregeln unterworfen. Es ist eine Ehre, die Contrada dabei zu vertreten, doch für die Teilnehmer sind es Situationen enormer Anspannung (IP 8; IP 11). Der Palio stellt also nicht nur einen Metakommentar zur gesellschaftlichen bzw. gemeinschaftlichen Ordnung dar, sondern ebenfalls hinsichtlich der Einstellung der Contrade-Mitglieder zu Zeit und Raum.

Im Spiel findet, wie Geertz schon feststellte, eine Gefühlsschulung statt. Diese beschränkt sich nicht punktuell auf die starken Gefühle in wichtigen Momenten, wie der Segnung des Pferdes und dem Rennen. Vielmehr werden das Stadtviertel, die Geschichte und Geschichten der jeweiligen Contrada und der Stadt Siena über die emotionalen Situationen während des Palio in ihren räumlichen und zeitlichen Komponenten miteinander in Verbindung gebracht. Spezielle Orte, wie die Contrade-Kirchen, aber auch die Piazza del Campo, werden mit Geschichte und Geschichten um besondere Ereignisse sowie mit persönlichen Erinnerungen, aber auch mit Verhaltensregeln verbunden und zu höchst bedeutenden Orten. Sie werden bedeutend für die Contrade-Mitglieder und ihre tiefe Bedeutung wird durch die regelmäßige Ausrichtung von Zeremonien stetig aufgefrischt. Im Wettkampf werden somit bestimmte Zeit-Raum-Konfigurationen konstruiert, die zu Ankern der kollektiven, aber auch personalen Identität werden. Ausdruck dieser Identitätsformation ist das hohe Engagement der Contrade-Mitglieder, denn alle Funktionen innerhalb der Contrada, die zum Teil sehr zeitaufwendig sind, werden ehrenamtlich ausgeführt.

Das im 20. Jahrhundert gestiegene touristische und mediale Interesse scheint nicht nur die innere Ausdifferenzierung und Professionalisierung zu beeinflussen, sondern auch zur Bildung neuer Institutionen beizutragen. 1894 wurde der Magistrato delle Contrade als Vertretung der Interessen aller Contrade gegenüber dritten Parteien gegründet. Seit 1954 wird der Palio im nationalen Fernsehen übertragen und gewann dadurch national und international an Bekanntheit. Die zunehmende Kommerzialisierung der Symbole der Contrade veranlasste die Contrade 1981 das Consorzio per la Tutela del Palio di Siena als Untersektion des Magistrato zu gründen. Es hält die Bild- und Vermarktungsrechte der Symbole der Contrade sowie am Palio, um einerseits deren Urheberschaft zu schützen und andererseits die „richtige“ Darstellung des Palio25 in Zeitung und Fernsehen zu garantieren sowie Finanzmittel zu generieren (IF 3).

Zu den Touristen und am Palio nicht teilnehmenden Stadtbewohnern herrscht unter den Contrade-Mitgliedern ein ambivalentes Verhältnis. Einerseits sind die Contrade-Mitglieder ihnen gegenüber misstrauisch eingestellt. Andererseits bilden sie die ökonomische Grundlage der Stadt und ihr Interesse am Palio erfüllt die Contrade-Mitglieder mit Stolz. Zugezogene, aber auch Touristen können Mitglied werden, wenn sie Interesse am Palio und am Zusammenleben in der Contrada zeigen. Außer in den Funktionen des Priore und des Capitano sind heute in allen Funktionen zugezogene Personen zu finden.26

Dieser Einstellung gegenüber Dritten entsprechen die ambivalente Figur des Jockeys und das Pferd. Dem Jockey wird kaum vertraut, denn er steht außerhalb der solidarischen Logik der Contrade und symbolisiert fremde Interessen, die heute vor allem mit kommerziellen Interessen und Bestechlichkeit assoziiert werden (IF 5; IF 18; IF 19; IF 20). Diese Interessen sind nicht per se schlecht. Sie bringen Vorteile, wie Sachverstand, orientieren sich jedoch nicht am sozialen Wohl der Gemeinschaften. Die Jockeys symbolisieren demnach die heutige kommerzialisierte sozioökonomische Umwelt der Contrade, mit der sie sich tagtäglich außerhalb des Palio auseinandersetzen müssen. Im Palio wird den Jockeys und damit dieser Außenwelt eine nachrangige Rolle eingeräumt, obwohl sie den Ausgang und das Leben entscheidend beeinflussen. Das unbestechliche Pferd, Symbol schicksalhafter Fügung, gewinnt offiziell den Palio, aber die Jockeys verdienen das meiste Geld. Das Pferd wird von den Contrade-Mitgliedern geliebt, der Jockey häufig verachtet (IF 1; IF 18; IF 20).

Besonderen Einfluss auf die Contrade und den Palio üben die Tierschutzorganisationen aus, die regelmäßig Protestmärsche organisieren und die Rolle des Spielverderbers einnehmen. Die in den 1970er- und den 1980er-Jahren vielen für die Pferde tödlichen Unfälle während der Proben und der Rennen als Folge der Verwendung immer schnellerer Pferde und von Doping führte zu ausgedehnten Protestaktionen. Für die Tierschutzorganisationen ist der Palio ein vormodernes Fest, bei dem Tiere gequält werden. Einerseits reagierten die Contrade mit formalen Mitteln. Die Bildung des Consorzio ist in diesem Kontext sicherlich auch als Versuch zu verstehen, die Hoheit über die Darstellungen sowie die Deutung des Palio zu sichern. Andererseits wurden neue Regeln festgelegt, die die Pferderasse vorgeben, um die Teilnahme von Vollblütern, die fragiler gebaut und schneller sind als Halbblutpferde, zu verbieten. Des Weiteren werden die Pferde seit den 1990er-Jahren durchgängig ärztlich betreut sowie kontrolliert, um Doping und Verletzungen vorzubeugen. Ferner wurde in der Nähe Sienas ein Altersruhesitz für Rennpferde eingerichtet, der die Pferde aufnimmt, die aufgrund von Verletzungen nicht mehr an den Rennen teilnehmen können. Alle Interviewpartner sehen diese Maßnahmen als eine gute Entwicklung des Palio an. Dennoch sehen sie die Tierschutzorganisationen als Bedrohung des Palio und des Zusammenlebens in den Contrade. Gegenüber diesen Spielverderbern schließen sich alle Contrade und Sympathisanten zusammen, um Partei für die Contrade und den Palio zu ergreifen (IP 2; IF 16). Auch wenn die Interviewpartner immer wieder darauf hinweisen, dass sie den Palio nur für sich selbst veranstalten (IP 1; IP 11; IP 17), sind auch die äußeren Ebenen von Öffentlichkeit, wie die Touristen und die Spielverderber, konstitutive Elemente für die Spielgemeinschaften und das Spiel.


5 Spielräume: Prozesse der Grenzziehung im Rahmen von Stadtfesten
Die Interpretation des Palio von Siena zeigt, dass soziale und kulturelle Grenzen zwischen Personengruppen über Hin-und-her-Bewegungen zwischen eigener und fremder Perspektive geschaffen werden. Diese Bewegung ist der Grundmodus des Spiels, das somit als analytisches Konzept zur Erforschung gesellschaftlicher Vielfalt taugt. Des Weiteren wurde deutlich, dass die Gemeinschaftsgrenzen in sozialer, kultureller, emotionaler und raum-zeitlicher Dimension gebildet werden, wobei diese Dimensionen miteinander in Verbindung stehen.

Aus theoretischer Perspektive erscheint der Wettkampf zunächst als eigenständiges Bedeutungssystem, das sich von den Bedeutungszusammenhängen im Alltag abgrenzt. Die im Wettkampf verwendeten Symbole erhalten ihre Bedeutung aus dem Kontext des Wettkampfs. Jedoch zeigt die Auswertung, dass es sich um kein geschlossenes System handelt, da die Bedeutungszusammenhänge in enger Verbindung mit dem Alltag stehen und keine radikale Uminterpretation der Symbole außerhalb des Spiels stattfindet. Vielmehr öffnet der Wettkampf einen zeitlich begrenzten Spielraum, in dem die kollektiven Identitäten der Spielgemeinschaften und deren konstitutive Andere gefestigt und geschaffen werden, die jedoch historisch variabel sind.

Die Gemeinschaftsgrenzen zwischen der Spielgemeinschaft der Contrade und Außenstehenden sind dabei keine Wissensgrenzen, wie es die Grenzen des symbolischen Spielraums sind, da Personen diese Sinngrenzen überschreiten können. Sowohl Mitglieder der Contrade als auch Nichtmitglieder können um die Bedeutung der Symbole wissen oder auch nicht. Um Teil einer Contrada zu werden, müssen nicht alle Details des Wettkampfs bekannt sein, sondern die Mitgliedschaftsvoraussetzungen erfüllt werden, die über Interesse, Engagement und Sympathien sowie die Bereitschaft, einen Mitgliedsbeitrag zu zahlen, festgestellt werden. Demzufolge sind die Gemeinschaftsgrenzen zwar in gewissem Maße an das Wissen um die Bedeutungen der Symbole des Wettkampfs gebunden, jedoch stimmen die Wissensgrenzen nicht mit den sozialen Gemeinschaftsgrenzen überein.

Andere soziale Grenzen innerhalb der Contrada bilden sich um verschiedene Rollen, die funktional zum Wettkampf und zum Contrade-Leben stehen. Ihre spezifische Ausprägung wird durch historisch eingebettete Repräsentationen gestützt, die somit auch geschichtlich hergeleitete Legitimationsstrategien darstellen. Die sozialen Grenzen, wie die Grenzen zwischen Geschlechtern, aber auch zwischen den Contrade, werden im Spiel emotional aufgeladen und mit Bedeutung belegt.

Gebietsgrenzen zwischen den Stadtvierteln sind ein wichtiger Teil der kollektiven Identitäten der Contrade. Das sich darin befindliche Gebiet eigenen sich die Contrade im Wettbewerb situativ symbolisch an und wandeln es teilweise in private Rückzugsgebiete der jeweiligen Contrada um. Orte und Gebiete, auf die keine Contrada Anspruch erhebt, werden zu „öffentlichen“ Orten, an denen sie sich begegnen und sie auch Unbeteiligte, wie Touristen, an Zeremonien und am Wettbewerb teilhaben lassen. Die Grenzen zwischen den Stadtvierteln sind somit ebenfalls bedeutende Grenzen, die durch ihre Materialität (Fahnen und Kerzenhalter als Grenzmarkierungen) besondere Objektivität ausstrahlen. „Öffentliche“ Orte in Sienas Innenstadt werden durch die Präsenz aller Contrade-Fahnen als solche angezeigt, in ihnen sind aber die Contrade die Gastgeber und der Rest wird lediglich geduldet. Öffentlichkeit ist im Palio daher relativ zu den Contrade zu sehen.

Während des Wettkampfs werden verschiedene Ebenen von Öffentlichkeit situativ aufgespannt, die Grenzen der Solidarität zwischen verschiedenen Menschen und Gemeinschaften dabei situativ erweitert und wieder eingeschränkt. So kann der Wettkampf als ein hoch emotionales Hin und Her zwischen Rückzug in das intime Selbst bzw. die Contrada und der situativen Herstellung von Gemeinsamkeit mit anderen Personen bzw. anderen Contrade aufgefasst werden. Diese Hin-und-her-Bewegung in der Repräsentation ist das Grundprinzip der Verhandlung von Gemeinschaftsgrenzen. Über die Repräsentationen während der Festlichkeiten werden die kollektiven Identitäten objektiviert und soziale Wirklichkeit wird hergestellt. Sie sind somit als performative, wirklichkeitsbildende Praktiken anzusehen. Dabei erhalten die Gemeinschaftsgrenzen Dauerhaftigkeit und es bildet sich Öffentlichkeit in verschiedenen Ebenen aus: die einzelne Contrada, der Zusammenschluss aller Contrade, deren Zusammenschluss mit am Spiel teilnehmenden Gruppen sowie die Contrade zusammen mit Sympathisanten gegenüber Spielverderbern, wie Tierschutzorganisationen. Gegenüber Dritten stellen sich die Contrade als eine Spielgemeinschaft dar, die situativ auch die an der Durchführung des Wettbewerbs beteiligten Gruppen einschließen kann. Diese erweiterte Spielgemeinschaft kann nun situativ die Sympathisanten (am Wettkampf interessierte Personen) einschließen, mit denen sie sich gegen Spielverderber verbündet. So sind die Gemeinschaftsgrenzen als situative und dynamische Grenzen anzusehen, die nur in bestimmten Situationen relevant werden und je nach Kontext variabel sind.

Die emotional aufgeladenen Grenzmarkierungen zwischen den Gemeinschaften scheinen den Contrade eine relative Dauerhaftigkeit zu verleihen, das heißt, trotz des ständigen Wandels bleibt die Solidarität innerhalb der Gemeinschaften bestehen. Dabei scheint die Solidarität mit der Abnahme der emotionalen Bedeutung des Wettkampfs abzunehmen. Die einzelne Contrada bleibt ganzjährig als Gemeinschaft bestehen, während die Solidarität mit der Stadtverwaltung und Außenstehenden nur in bestimmten Situationen gegeben ist.

Die im Wettkampf präsenten Symbole, die Repräsentationen und die damit verbundenen Bedeutungen sowie Emotionen scheinen diese verschiedenen Dimensionen von Gemeinschaftsgrenzen in ein komplexes System von Grenzmarkierungen zu integrieren, das dieses Spiel mit den Ebenen von Öffentlichkeit ermöglicht. Das Spiel als Hin-und-her-Bewegung ist daher ein Modus des Schaffens der kulturellen und sozialen Welt, das heißt, die Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem, innen und außen werden verhandelt und soziale Ordnung wird (re-)produziert. Die Grenzmarkierungen zwischen Gemeinschaften können arbiträr aus einem weiten Feld von Möglichkeiten gewählt werden. Stadtfeste überall auf der Welt führen wohl zu ludischen Ordnungen mit speziellen sozialen Organisationsformen, die für das städtische Zusammenleben höchst bedeutend sind und weiterer Untersuchung bedürfen. Sie sind Teil der städtischen Geographien der Vielfalt.

 

Anmerkungen
1  Die Feldforschung im Jahre 2015 wurde von der Inneruniversitären Forschungsförderung der Johannes Gutenberg-Universität Mainz finanziert. Für die Unterstützung der Feldforschung danke ich den Contrade von Siena, sowie dem Magistrato delle Contrade di Siena und dem Dipartimento di Scienze Sociali, Politiche e Cognitive della Università di Siena. Besonders danken möchte ich den Interviewpartnern, Informanten sowie den Kollegen der Universität Siena Dr. Valentina Lusini, Dr. Pietro Meloni, Prof. Fabio Mugnaini und Dr. Daniela Salvucci.

2  Unter dem Begriff „Gemeinschaft“ werden in diesem Artikel Gruppen von Menschen bezeichnet, deren Mitglieder über ein Wir-Gefühl verfügen, das ihre Zusammengehörigkeit begründet. Demgegenüber werden mit dem Ausdruck „Kategorien von Menschen“ Gruppen von Personen bezeichnet, deren Zusammengehörigkeit über bestimmte Indikatoren von Dritten (z.B. einem Wissenschaftler) zugeschrieben wird, ohne dass die Personen dieser Gruppe über ein Zusammengehörigkeitsgefühl verfügen müssen.

Contrade ist der Plural von Contrada, was so viel bedeutet wie Stadtviertel oder Ortsteil.

4  Eine Literaturrecherche mit den Suchbegriffen „Spiel“, „game“ und „play“ ergab für die „Erdkunde“ null Treffer, die Zeitschriften „Berichte. Geographie und Landeskunde“, „Geographische Zeitschrift“ und „Geographica Helvetica“ jeweils einen Treffer. Die „geographische revue“ gab im Jahr 2010 ein Heft (12/2) zum Thema „Fußball“ mit drei thematischen Artikeln heraus. Die Recherche im englischsprachigen Raum ergab für die Zeitschriften „Progress on Human Geography“ drei und „Environment and Panning A-D“ zehn Treffer. Die gefundenen Artikel folgen dabei größtenteils dem quantitativen Ansatz der Spieltheorie (11 der insgesamt 19 Treffer). Auf kulturwissenschaftliche Theorien vom Spiel wird in keinem Fall Bezug genommen.

5  Hegins ist ein Ort in Pennsylvania, USA.

6  Der Begriff „Palio“ bezeichnet Stadtfeste im Allgemeinen, bei denen Wettkämpfe wie Pferderennen, Faustkämpfe, Büffelreiten etc. veranstaltet wurden und werden. Heute bezeichnet er im sienesischen Kontext das Pferderennen auf dem zentralen Platz und das vom Sieger gewonnene Banner aus Stoff. Letzteres wird jedoch häufiger als Drappellone bezeichnet.

7  Diese Ziehung legt die Reihenfolge der Contrade beim historischen Umzug, dem Corteo Storico, der vor dem Hauptrennen stattfindet, fest.

8  Bis 1729 waren noch zwischen 60 und 42 Contrade in der Innenstadt vorhanden (Dundes und Falassi, 1975/1994, 22).

9  Regolamento del Palio 1721 (http://www.ilpalio.siena.it/5/Reg/Regolamento1721.aspx).

10 Regolamento del Palio 1999 (http://www.ilpalio.siena.it/5/Reg/).

11 Eine Sichtweise, die unter Historikern und Kulturanthropologen umstritten ist: siehe Cecchini und Neri 1958, 10; Dundes und Falassi 1975/1994, 22; Savelli 2008, 63-66; Warner 2004, 77-78.

12 Die Informationen sind online verfügbar unter: http://www.comune.siena.it/La-Citta/Palio/Siena-e-il-Palio/Le-17-Contrade (Stand 03.04.2016).

13 Sachverstand wird ihnen wohl erst seit den 1980er-Jahren zugeschrieben, da erst seit dieser Zeit professionelle Jockeys engagiert werden. Heute sind die Jockeys untereinander gut vernetzt und koordinieren ihre Absprachen (IF 4; IF 18; IF 22).

14 Ziel ist nicht zwingend, den Palio zu gewinnen. Unter Umständen kann es wichtiger sein, den Sieg des Rivalen zu verhindern oder den wahrscheinlichen Sieger zu unterstützen, um von diesem für die Hilfe bezahlt zu werden.

15 Viele Contrada-Mitglieder, die nicht im Stadtviertel wohnen, ziehen in dieser Zeit zu Verwandten und Freunden. Paare, die verschiedenen Contrade angehören, verbringen diese Zeit häufig getrennt voneinander in ihren Contrade (Beobachtungen 2014, 2015; IP 11; IP 12; IF 19).

16 Es werden zwar keine Verbote ausgesprochen, doch sind einige Absperrungen nicht ohne erheblichen Kraftaufwand passierbar und gelegentlich bitten Hinweisschilder sowie abgestelltes Wachpersonal Passanten die Straßen nicht zu passieren (Beobachtungen 2015).

17 Es gibt auch gemischte Tribünenabschnitte.

18 Vor allem Männer zwischen 20 und 40 Jahren und die Abteilungen der Kinder zwischen sechs und 14 Jahren singen. Frauen gelegentlich, dabei vor allem die jungen Frauen zwischen 20 und 30 Jahren (Beobachtungen 2015).

19 Mit Abstand vom Palio gönnen sich die Contrade untereinander den Sieg, sogar die verfeindeten (IP 12, IP 14), denn „dieses Gefühl sollte jedes Mitglied einer Contrada mal erlebt haben“ (IP 11).

20 Zu bestimmten Rhythmen eines Trommlers schwenken zwei besonders gut ausgebildete Fahnenträger die Contrada-Fahne und werfen diese virtuos in die Höhe, um sie anschließend wieder zu fangen (Beobachtungen 2014, 2015).

21 Einzige Ausnahme ist die Valdimontone, die über keinen Brunnen verfügt (IP 18).

22 Ein Wechsel der Contrada-Mitgliedschaft kann offiziell nicht durchgeführt werden, in der Praxis wird er jedoch gelegentlich vollzogen (IP 18).

23 Beispielsweise in der Sitzordnung an den Tischen und auf der Tribüne um die Piazza del Campo herum.

24 Indirekt beteiligte Personengruppen sind die Besitzer und Angestellten von Reiterhöfen, Ärzte und freiwillige Helfer der Misericordia di Siena, Polizei und Versicherungen. Passive Teilnehmer sind interessierte Bewohner Sienas, die keiner Contrada angehören.

25 Bilder von Schlägereien werden im Fernsehen nicht übertragen und in Zeitungen nur gezeigt, wenn diese außerhalb des tolerierten Ausmaßes liegen, z. B. Gegenstände zum Schlagen benutzt werden oder Personen aus der Führungsriege verletzt werden. Es werden Berichte über alle Gewalttaten verfasst, die auf der Piazza del Campo und damit in der touristischen Öffentlichkeit stattfinden. Über Gewalt außerhalb dieser Gebiete wird nicht berichtet, obwohl sie existiert (IF 5; IF 6; IP 19).

26 Der  2015 amtierende Vicario (Vizepräsident) der Selva wurde in Mailand geboren. Einige der während der Feldforschung getroffenen Mitglieder stammten aus Sizilien, Sardinien, aber auch aus dem europäischen Ausland und aus afrikanischen und lateinamerikanischen Ländern.

 

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Zitierweise:

Tobias Boos 2016: Das „tiefe Spiel“ und städtische Vielfalt: Grenzziehungen städtischer Nachbarschaften in Siena. In: http://www.raumnachrichten.de/diskussionen/2019-tobias-boos-das-tiefe-spiel-und-staedtische-vielfalt

 

 

 

Anschrift des Verfassers:

Dr. Tobias Boos
Geographisches Institut
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
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