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Kategorie: Rezensionen

Maha el Hissy: Getürkte Türken. Karnevaleske Stilmittel im Theater, Kabarett und Film deutsch-türkischer Künstlerinnen und Künstler. Bielefeld 2012. 287 S.

Jochen Neubauer: Türkische Deutsche, Kanakster, Deutschländer. Identität und Fremdwahrnehmung in Film und Literatur: Fatih Akin, Thomas Arslan, Emine Sevgi Özdamar, Zafer Šenocak und Feridun Zaimoglu. Würzburg 2011. 574 S.

Deutsche mit türkischen Namen, mit Zügen, die uns »türkisch« vorkommen, gehören inzwischen zu unserm Alltag, auf den Straßen wie auf dem Buchmarkt. Wir sollten sie als Teil der »Normalität« nehmen, plädieren die beiden Untersuchungen, zwei markante (sehr unterschiedliche) Beispiele der laufenden Forschungsbemühungen, die Resultate des »postcolonial turn« auch im hiesigen Wissenschaftsdiskurs einzubürgern. Das heißt: Kulturen stehen einander nicht geschlossen und schon gar nicht unveränderlich gegenüber. Die Menschen bewegen sich nicht »zwischen« ihnen, sie überschreiten sie, die eine wie die andere, haben Teil an mehreren zugleich, im Wechsel oder auch vermischt.

Sie schaffen aus partiellen, immer nur relativen Vorbildern sowie ihnen anhängenden Gewohnheiten unablässig, je nach Situation neue von bloß individueller Reichweite und der Verbindlichkeit von Vorschlägen. Diese Ablösung von festen Zugehörigkeiten oder Zuschreibungen (Normen sowieso), deshalb auch Verabschiedung von der starren Relation »Fremdheit« verfolgen die beiden Arbeiten als die wesentliche Errungenschaft der Filme, Romane, Theaterstücke von Immigranten oder Immigrantenkindern in den letzten 20 Jahren. Vom »cinemaofduty«  zu den »pleasures of hybridity«, so nennt es Göktürk (schon 1999). Die Absetzung von der vorausgegangenen Produktion ist so offenkundig, dass z.B. ein seinerzeit hoch gelobter Film der interkulturellen Aufmerksamkeit, Shirins Hochzeit von Sanders-Brahms (1975), inzwischen als »Lehrbeispiel« für die Affirmation von Stereotypen, ja die Festschreibung einer gängigen Opferrolle kenntlich wird (Neubauer 175-80), dass auch Wallraffs stellvertretender Einsatz für die von Ganz unten (1985) als »kultureller Voyeurismus« erscheint, der ethnische Kennzeichen nur »überspitzt und zementiert« habe (el Hissy 73f). Bei Akin, Kutluçan und Arslan (einem ruhigen »Roadmovie ohne Autos« quer durch Kreuzberg), bei Özdamar und Zaimoglu spielen Menschen türkischer Herkunft alle möglichen Rollen, versuchsweise oder aus Trotz, rasch wechselnd und oft voller Widersprüche, nur der »typische Türke« ist nicht darunter. Selbst die Älteren, einzeln oder in traditionellen Clans, leben und argumentieren, wenn man genauer hinsieht, stärker aus der jeweiligen Situation heraus als nach einem unveränderlichen ethnischen oder kulturellen Muster. In Šenocaks Roman (1998) wird vollends jedes Haften an einer der vorgegebenen, diskontinuierlich  zueinander stehenden ethnischen Identitäten (außer der türkischen und deutschen noch die jüdische) als ein Leiden erlebt und, obgleich faktisch immer noch wirksam, in der unablässigen Reflexion des Erzählers zersetzt (Neubauer 386-452).

Wie verbindlich, wie folgenreich für die gesamte (literarische und nicht nur literarische) Öffentlichkeit sich der »Turkish turn in der deutschen Literatur« (Adelson 2005) ausgewirkt hat, lässt el Hissy ebenso wie Neubauer dahingestellt. Aber von der perspektivischen Veränderung: dem immer neu durchgespielten Zerpflücken von zunächst vorherrschenden (trennenden) Stereotypen sehen sie eine beharrliche, feine, auf die Dauer unwiderstehliche Wirkung auf die ganze Begrifflichkeit der Gesellschaft ausgehen, die sich nach langem Sträuben dann doch als Einwanderungsgesellschaft begreifen musste. Da die »postkoloniale« Situation hierzulande weniger klar, weniger geübt und in anderer Weise belastet war (ist) als in den ›klassischen‹ Kolonialländern und den USA, verdient die Lockerungs-, die Entkrampfungsbewegung, wie sie sich (u.a.) in türkisch-deutschen Büchern und Filmen zeigt, umso mehr Aufmerksamkeit. Sie setzt am Selbstbewusstsein an (Özlan Ezli nennt die Entwicklung anlässlich von Akins Gegen die Wand: »Von der Identität zur Individuation«), setzt »spielerische ›Selbstvermöglichungsstrategien‹« frei (nach Constantinescu, 1998), lässt schließlich hoffen, dass Fremd- und Selbstbilder vielleicht gar nicht mehr »objektiviert«, sondern »als ästhetische Möglichkeiten und Vermöglichungen« (an)erkannt werden (Schlusssatz Neubauer). Die wissenschaftliche Begrifflichkeit dieser Veränderung in den »identitären Prozessen« wird in Neubauers ungemein methodischer Arbeit in Abgrenzung vom bisherigen Verständnis von »Migrationsliteratur« entwickelt, indem er sich auf Welschs Begriff der »Transkulturalität« statt Interkulturalität stützt, aber auch die Kritik daran von Mecklenburg und Gutjahr sorgfältig berücksichtigt. El Hissy hat es mit mutwilligeren, oftmals gewagten Formen des Umgangs mit dem Selbst zu tun. Sie bezieht eine Fülle von witzigen, ironischen, sarkastischen Stellungnahmen mit ein, die ganze Palette von Bachtins diabolischer Kompensationsveranstaltung Karneval. Von Zaimoglu bis Somuncu (sie schreibt Somunçu) findet sie nicht nur Frechheiten aller Art ausgespielt und durchgewirbelt, sondern mit Hilfe aller Verkehrungen und Entsicherungen (vor allem Ambivalenzen) eine »anarchische Differentialität« erzeugt, die zugleich mit älteren Strukturen immer auch früher erprobte Formen von Differenz aushebelt und (verbal oder dramaturgisch-situativ) erledigt. Auch Intertextualität gehört bei ihr (el Hissy, 81) zu den »Strategien der Konstruktion von Karnevaleskem«. Sprachliches Shifting, Mehrstimmigkeit, Dialoge in den unwahrscheinlichsten Konstellationen findet sie, mit Kristeva und Deleuze, weit über die ethnischen Grenzüberschreitungen hinaus verbreitet. Schreiben, Darstellen und Lachen würden als Retourkutsche gegen die Mehrheitskultur oder jedenfalls ihre Deutungshoheit eingesetzt (»writing back«, »performing back«). In neueren Filmen, Hauptbeispiel: Kutlug Ataman, sieht el Hissy die Geschlechtergrenzen und -zuordnungen ebenso (z.T. aber auch gegenläufig) durchbrochen oder karikiert wie die ethnisch/geographischen. Die Entfestigung und erhöhte Beweglichkeit – intellektuell ebenso wie praktisch, im Selbstentwurf, im Auftreten und im Ausdruck – bildet in beiden Dissertationen, so unterschiedlich sie vorgehen, den Ausgangspunkt, den roten Faden und den Clou. Sie konstatieren diese Veränderung fast flächendeckend und schreiben sich auch selbst mit hinein. Da man aber keine 200 oder 500 Seiten braucht, um dieses Paradigma zu begreifen, wirkt sie auch wie ein Strick, an dem die beiden in ihrer Exploration von Neuland festhängen. Sie erinnern an die »Braut« in Cechovs letzter Erzählung, die sich energisch von ihrem engen Zuhause samt Verlöbnis abstößt, aber über die permanente Abstoßung nicht hinwegkommt. Das ist nun 100 Jahre her.

Die untersuchten Filme, Romane, Theaterstücke und Kabarettprogramme selber beschränken sich nicht auf den Vollzug einer solchen unaufhörlichen Loslösung. Da sie in beiden Arbeiten viel Raum bekommen: in sprechenden Zitaten, in Handlungs- und Szenenwiedergaben und im Duktus der ebenso mitgehenden und zustimmenden wie einlässigen Darstellung, dominiert letzten Endes ihre Lebendigkeit über die strenge Regie, der die Untersuchungen aus Promotionsgründen unterworfen werden. Mit allen fünf physischen Sinnen sowie einer ziemlich frei flottierenden Einbildungskraft, einem regen Möglichkeitsdenken, Widerspruchsgeist, Überraschungssinn emanzipieren sie sich auch noch aus der Polemik, aus der Demonstration ihrer neu gewonnenen Freiheit: sind einfach frei, unbelangbar, nichts als sie selbst – soweit die sozialen Bedingungen ihres Spielorts und die literarischen ihrer Faktur so etwas zulassen. Der Humor, den nicht wenige deutsch-türkische Filme aufbieten, muss nicht pausenlos dazu dienen, Klischeebilder humoristisch zu unterlaufen (Neubauer 211 u. p.). Er erfreut auch ganz programmlos und scheut sich nicht, dazu auch stereotype »Türken«rollen einzusetzen, ohne Angst, sie dadurch erneut zu befestigen. Ein schlagendes Beispiel dafür, wie ein Immigrant die obligaten ebenso wie die feineren, kulturinhärenten Migrationsfolgeprobleme hinter sich lässt und aus der Problematik des nun einmal erreichten Landes heraus schreibt, lässt el Hissy ausgiebig zu Wort kommen: Der Kabarettist Somuncu liest Hitlers Kampf (el Hissy 161-84). Die Beanstandung, dass da ein Unbefugter sich etwas herausnimmt (wovor die einheimischen Deutschen sich lange genug gedrückt haben): »Türke führt Hitler vor«, ließ zwar nicht auf sich warten, brach aber bald zusammen, da der Erfolg (in mehr als 2000 Lesungen) ihm glänzend Recht gab: Das so obszöne und widerwärtige, dabei süffisant schlecht geschriebene Buch, dieser bis heute von den autochthonen Erben nicht angetretene »Nachlass eines Massenmörders«, darf nicht verboten, nicht als Tabu behandelt, es muss preisgegeben werden, vorzüglich dem Gelächter. (Google liefert unter »Serdar Somuncu liest aus dem Tagebuch eines Massenmörders« 13 Minuten Ausschnitte, Streit und Selbstkommentierungen). Ähnliche Aufgaben der Aufklärung über sich selbst bietet nicht nur die unheilige Vergangenheit dieses Landes, sondern ebenso dringlich sein gegenwärtiger Zustand. Die dazugewonnenen Autorinnen und Autoren fremder Herkunft und deutscher Zunge (Feder), aus mindestens 40 weiteren Ländern neben der besonders ergiebigen Türkei, arbeiten schon längst mit daran. Mit der Lösung ihrer Ankunfts- und Selbstpositionierungsdilemmata sind sie jedenfalls nicht mehr so präokkupiert, dass es sie hindern würde, überall mit einzugreifen.
Gerhard Bauer (Berlin)

Quelle: Das Argument, 54. Jahrgang, 2012, S. 605-607