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Kategorie: Rezensionen

Jürgen Hasse: "Ein apfelgrüner 2CV." Über die Schwierigkeiten, einen Ort zu beschreiben

Der französische Schriftsteller Georges Perec (1936 - 1982) hat 1974 ein ungewöhnliches Buch geschrieben, das nun von Tobias Scheffel ins Deutsche übertragen wurde. Der "Versuch, einen Platz in Paris zu erfassen" (Original: "Tentative d´Epuisement d´un Lieu Parisien") ist eine tentative Annäherung an einen Ort oder - mit einem Wort aus dem Originaltitel - der Versuch der "Ausschöpfung" seiner Vitalität.

 

Rezension zu:
Georges Perec: Versuch, einen Platz in Paris zu erfassen. Konstanz 2010 (Erstveröff. 1975).

Der französische Schriftsteller Georges Perec (1936 - 1982) hat 1974 ein ungewöhnliches Buch geschrieben, das nun von Tobias Scheffel ins Deutsche übertragen wurde. Der "Versuch, einen Platz in Paris zu erfassen" (Original: "Tentative d´Epuisement d´un Lieu Parisien") ist eine tentative Annäherung an einen Ort oder - mit einem Wort aus dem Originaltitel - der Versuch der "Ausschöpfung" seiner Vitalität. Auf knapp 50 Druckseiten knüpft Perec eine chronologische Kette von Ereignissen, die die Raum-Zeit des Ortes in verschiedenen Zeitfenstern lebendig werden lässt. Er beschreibt nicht, was geschehen ist, er notiert in einer außerordentlich dürren Sprache Gegebenheiten und Sachverhalte einer in Segmenten aufscheinenden Wirklichkeit.  Dabei verzichtet er auf sprachliche Ästhetisierung, denn er wollte keinen "schönen" Text verfassen, sondern den Versuch einer Beobachtung (in seinen Erfolgen und Vergeblichkeiten) illustrieren.

Einstimmende Zusammenfassung
Wenn Perec am 18.10.1974 auf der Terrasse des Café de la Mairie notiert: "Ein 96er fährt vorbei. Ein 87er fährt vorbei. Ein 86er fährt vorbei. Ein 70er fährt vorbei. Ein "Grenelle Interlinge"-Laster fährt vorbei.", so provoziert er die Frage, wovon eigentlich Zeugnis abgelegt wird. Was sollte ihn angesichts der Gleichzeitigkeit aller in einem Moment an einem Ort geschehenden Ereignisse dazu gezwungen haben, ausgerechnet diese Aufzählung aufzuschreiben. Ist er es nicht vielmehr selbst, der von sich Zeugnis ablegt, indem er einen Einblick in sein Beobachten gewährt? So gilt der Versuch, einen Platz zu beschreiben, weniger der Sache des Platzes, als vielmehr der Sache des Versuchs, etwas zu beschreiben. Nur auf den ersten Blick ist der beinahe im Jargon eines Buchhalters geschriebene Text banal, wenn es auch tatsächlich um Banalitäten geht. Gleichwohl verlangt die schier endlose Kette protokollierter Beiläufigkeiten doch eine ausdauernde und aufmerksame Lektüre. Erst die Wiederholung von Fall zu Fall variierter Gewöhnlichkeiten (Perec selbst sprach vom "Infra-Gewöhnlichen") lässt einen Taumel im Immer-gleichen aufkommen, aus dem heraus ein Moment jener Faszination spürbar wird, die den Autor an seine Orte getrieben und für kurze Zeit an ihnen gehalten haben mag.
Die Wiederholung erweist sich als eindrucksvolle Methode, um die Ereignis-Amplituden eines Platzes zum Ausdruck zu bringen, ein in gewisser Weise pathisches Nacherleben anzubahnen. Die monotone Aufreihung ähnlicher Abläufe hat aber auch Methode, indem der willkürliche Abbruch seiner Aufzeichnungen diese selbst fragwürdig macht. In diesen immer wieder auftauchenden Situationen schreibt er - wenn auch nur in kurzen Einschüben - anders und Anderes. Er betrachtet dann nicht mehr den Platz, sondern sich selbst im Spiegel seiner Platzbeschreibungen. Warum dieses und nicht jenes aufschreiben? Woher kommt das Interesse an Linienbussen oder 2 CV´s, einer alten Frau oder einem Baguette, das aus einer Papiertüte hervorguckt? Was macht die Aufmerksamkeit für Tauben, die eine Platzrunde drehen, müde?
Perecs Büchlein ist kein wissenschaftlicher Text! Wenn es dennoch in einer wissenschaftlichen Zeitschrift zur Besprechung ansteht, so verlangt das eine Begründung, die sich nicht aus der Qualität des zu rezensierenden Textes herleiten lässt. Wie Perecs Buch zwei Seiten hat, so auch der Sinn seiner Rezension. Zum einen schlägt der Autor mit seinen unorthodoxen Einlassungen auf einen Platz eine Seite des Wirklichen auf, die aus dem Blickwinkel der Wissenschaften extramundan anmutet und deshalb die Frage nach methodologischen Grenzziehungen aufwirft. Zum anderen ist es die selbstreferentielle Methode seiner Einlassung auf einen Raum, die nicht nur das In-der-Welt-sein Perecs, sondern auch das des Wissenschaftlers exotisiert, entwindet dieser sich doch - ganz anders als Perec - aus dem Dilemma zwischen "Engagement und Distanzierung"(1) in aller Regel mit abstrakter Sprachakrobatik, also durch die Distanzierung. In beiden Gründen, sich Perecs Versuch in wissenschaftlicher Mission anzunehmen, steckt ein Potential produktiver Verwirrung.

Der Raum eines Platzes
Georges Perec gilt als Großmeister der Literatur. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen für seine Werke, u.a. für den Roman "Das Leben. Gebrauchsanweisung". Die längste Zeit seiner Berufstätigkeit arbeitete er als Archivar im Hôpital Saint-Antoine in Paris. Diese Beschäftigung mag ihn dazu motiviert haben, das Prinzip des Archivierens auch auf andere Welten anzuwenden. Seine häufigen Umzüge innerhalb von Paris mögen zur Steigerung seines Interesses an der Dynamik städtischen Lebens beigetragen haben.
Den "Versuch, einen Platz in Paris zu erfassen", schrieb Perez an drei Tagen im Oktober 1974 (dem 18.,19. und 20., Freitag bis Sonntag) und an verschiedenen Orten rund um den Place Saint-Sulpice im 6. Arrondissment für die Dauer von ungefähr je einer halben Stunde.(2) Die protokollähnlichen Notierungen sind meistens auf die Essenz eines Ereignisses verdichtet und im Telegrammstil niedergeschrieben. Nur gelegentlich finden sich knappe Erläuterungen über drei oder vier Zeilen, die etwas vom registrierten Geschehen erklären, es hinterfragen oder pointieren. Sein Interesse galt nicht der exakten Autopsie eines Ortes, vielmehr all dem, "was man in Allgemeinen nicht notiert". Perec wandte sich dem Nebensächlichen zu, dem, "was keine Bedeutung hat, [...] was passiert, wenn nichts passiert." So widmet er sich i.e.S. weniger dem Platz, als den Rhythmen performativer Lebens-Spuren, die ihre Bahnen durch den Raum ziehen und mit den verschiedenen Sinnen wahrnehmbar sind. Im Nachwort des Übersetzers heißt es, Perec sei nie am Extraordinären interessiert gewesen, sondern am Infraordinären, am Infra-Gewöhnlichen, an den Hintergrundgeräuschen, wie er selbst über sein Interesse schrieb.
Hin und wieder ist aus der Aufreihung des performativen Stroms des städtischen Pulsierens der rote Faden einer vorscheinenden Chronologie herauszulesen. Scheinbar nur zufällige Abläufe lassen sich dann zu Sequenzen verknüpfen, wenn innerhalb des Beobachtungszeitraums evidente Sinn-Beziehungen zwischen Einzelelemente aufgeschienen sind. Dann verbindet sich Einzelnes zu einer Ereigniskette - z.B. der einer Trauerfeier: Läuten der Glocken, Menschen betreten die Kirche, ein Bestattungsunternehmen bringt einen Trauerkranz - viel später werden dann Kränze aus der Kirche getragen und "der Leichenwagen fährt davon, gefolgt von einem Peugeot 204 und einem grünen Méhari. [...] Das Totengeläut hört auf." Solche Ketten, die einen zusammenhängenden Sinn erkennen lassen, bilden eher die Ausnahme. Durch die Notierung des Peugeot 204 und grünen Méhari(3) wird dieser Kontext jedoch nicht zufällig wieder aufgehoben und ins Beliebige zerstreut.
Die Lebendigkeit des Platzes ist für Perec nicht Produkt von Handlungen intelligibler Akteure, vielmehr Resonanzraum dahinströmenden städtischen Lebens. Es kommt ihm auf die Resonanzen selbst an und nicht auf irgendeinen dahinter liegenden Sinn. Er sammelt nicht Zeichen einer verborgenen sozialen Ordnung, sondern aus Zusammenhängen entbundene Phasen unterschiedlichster Aktionen, die die Vitalität des Ortes ausdrücken. Wie Photographien nur Zeichen sind, "die nicht richtig abbinden, die gerinnen wie Milch"(4), so sind auch Perecs Aufzeichnungen Schnappschüsse mit den Mitteln der Sprache. Sie liefern allein Hinweise auf ein unerschlossenes Ganzes, auf Mikrologien zu Situationen des Platzes.
Perec schreibt alles auf, was scheinbar ohne Bedeutung ist, nicht nur Dinge und deren Farben, den Habitus von Menschen, sondern auch Geräusche, die Art des Lichts, in dem das eine und andere zur Erscheinung kommt, einen Geruch, der ihm zuweht oder die sich wandelnden Stimmungen von Menschen, die mitunter wiederholt, aber doch stets als situativ andere im Feld der Beobachtungen auftauchen: "Die beiden Knöllchenangestellten vom Vortag kommen vorbei; heute wirken sie sorgenvoll".
Schon auf dem thematischen Niveau der ausschöpfenden Erfassung eines Platzes liefert der Text eine Fülle von Anregungen für eine kritische Revision raumwissenschaftlicher Analysen (nicht nur von Plätzen und öffentlichen Räumen). In den Mittelpunkt rückt die Frage, wodurch sich die "Vitalqualität" eines "gelebten Raumes"(5) vermittelt. Die Sensibilisierung für das dem Handeln Vorausgehende, es Begleitende und ihm Nachlaufende macht nicht nur auf Zufälligkeiten aufmerksam, sondern auch auf die atmosphärische Macht dahinfließenden städtischen Lebens, dessen Sinnstrukturen der Wahrnehmung des situativ distanzierten Betrachters fern bleiben, gleichwohl die Erlebnisqualität eines Raumes konstituieren. Damit erweist sich die Art und Weise der die Raum-Zeit eines Ortes gestaltenden Performativität als eine Resonanz von Handlungen, Tätigkeiten, habituellen Ausdrucksweisen, Gesten usw. So gesehen steckt in Perecs Büchlein zugleich eine Mahnung an die allein handlungstheoretisch sich konstituierenden Wissenschaften, ihren Blick über die Grenzen des Rationalen und Berechenbaren (wie berechenbar Illusionierten) hinaus zu öffnen. Der Autor sensibilisiert für die Ent-deckung eines Forschungsfeldes, das in den Raumwissenschaften derzeit noch ein Schattendasein fristet - die Atmosphären und die Performativität des städtischen Raumes.

Versuch einen Platz zu erfassen - ein Selbstversuch?
Perec folgt einer zweifachen Aufmerksamkeit; sie ist auf einen Raum gerichtet, zugleich aber auch auf seine Aufmerksamkeit selbst. Deshalb spiegelt er seine Platzerfassung - als Moment ihrer Prozesshaftigkeit - immer wieder an ihren eigenen Befunden. Er nimmt seine Beobachtungen zum Anlass zugespitzter Selbstbefragungen zur Methode der Beobachtung. So eicht er sein registrierendes Vorgehen an Erfolgen und Fehlschlägen. Seine selbstreferentiellen Bemerkungen - oft nur Halbsätze, wie auch die meisten seiner Beschreibungen des Platzgeschehens - haben einen scheinbar banalen Charakter: "Es ist fünf nach vier. Müdigkeit der Augen. Müdigkeit der Worte." Darin klingt indes ein wissenschaftspsychologisches Thema an, das in der methodenkritischen Begleitung der Produktion wissenschaftlichen Wissens kaum Beachtung findet, obwohl gerade dadurch die Frage nach der Disponiertheit forschungsspezifischer Kreativität dem wissenschaftskritischen Diskurs entzogen wird. Dass die Erträge wissenschaftlichen Arbeitens nicht nur durch die intellektuelle Beherrschung theoretischen Wissens strukturiert und artikuliert, sondern auch durch äußerst mannigfaltige Formen leiblicher Befindlichkeit des Forschenden (im unmittelbaren Sinne des Wortes) ge-stimmt werden, entgeht damit der Wissenschaftssoziologie und -kritik als Forschungsfeld. Was der wissenschaftliche Diskurs aus Gründen sprachkultureller Diszipliniertheit und kollektiver Selbstdisziplinierungen unter dem Druck vorherrschender Denkstimmungen(6) ignoriert, spricht Perec aus: "Ich trinke ein Vittel, während ich gestern einen Kaffee getrunken habe (inwiefern verändert das den Platz?)". Schon die Frage ist Metapher, weiß er doch, dass es nicht der Platz (auf der Objektseite) ist, der sich durch das, was er gerade zu sich nimmt oder an sich geschehen lässt, ein anderer wird, sondern er selbst es ist, der sich in seiner Aufmerksamkeit, seiner Konzentration, wie insgesamt in der affektlogischen Disposition seiner persönlichen Situation verändert. Insofern wird schließlich auch "der" Platz ein anderer, denn für den Beobachter gibt es ihn nur in der Welt seiner erlebten Eindrücke. Während Planer einen Platz konstruierend entwerfen und tiefbautechnisch ins Werk setzen lassen, konstruiert Perec "seinen" Platz nicht; er konstituiert sich in seinem Erleben in der Raum-Zeit seiner Anwesenheit. Perec lässt sich überraschen.
Die den Platz kreuzenden Linienbusse bilden eine rhythmische Kette immer wiederkehrender Ereignisse. Dabei sind es aber nicht nur die Busse, die er beschreibt, sondern zugleich ihr immerwährendes Ankommen und Abfahren; so setzt er das rhythmische Leben des Platzes in ein sprachliches Bild. Die Methode der notorischen Wiederholung kommt einem Sprachspiel gleich, das als komplementäre Form der Monotonie der Ereignisse ein atmosphärisches Moment des erlebten Raumes freilegt. Das Immer-gleiche in einer abstrahierenden Sprache nur zu vermerken (dass die Busse nach einem beinahe vorhersehbaren Takt kommen, halten und weiterfahren), wäre nicht dasselbe gewesen. Wenn er schließlich, nachdem er über viele Seiten jeden kommenden und weiterfahrenden Bus notiert und mitunter knapp annotiert hat, überraschend aufschreibt, "Autobusse fahren vorbei. Ich verliere vollständig das Interesse an ihnen", weist er damit nicht nur auf eine gewisse Übersättigung von regelmäßig wiederkehrenden Ereignissen hin. Eher macht er nachspürbar, dass die Wiederkehr des Ähnlichen die Wahrnehmung in ihrem Festsitzen in Protentionen gegenüber der tatsächlichen Variation von Geschehnissen abstumpft: "Zwangsvorstellung von apfelgrünen 2CVs." Die scheinbar so profane Bemerkung impliziert die wissenschaftspsychologische und methodenkritische Fragen nach den Einflüssen, die uns ein Interesse an etwas verlieren lassen.
Die Aufmerksamkeit gegenüber Dingen und Prozessen der Forschung resultiert nicht allein aus der Logik der Sache und deren Bedeutung in übergeordneten Systemen. Dass sie durch Motive zumindest mitgeprägt  
wird, die mit der Ästhetik des Forschungsprozesses, mit erwarteten und erwünschten Befunde zu tun haben, kommt in der folgenden Anmerkung zur Sprache: "Warum die Busse zählen? Sicher weil sie wiedererkennbar und regelmäßig sind: Sie unterteilen die Zeit, sie rhythmisieren die Hintergrundgeräusche; im Zweifelsfall sind diese vorhersehbar."
Auch die Not der Interpretation, die im Fluss des alltäglichen Lebens durch das automatische Einspringen von Erfahrungswerten (taken for granted world) gleichsam ent-sorgt wird, karikiert er in der Pointierung einer mehrdeutigen Beobachtung: "Ein kleines Mädchen, flankiert von seinen Eltern (oder seinen Kidnappern), weint." Interpretation ist ein Wagnis. Auch eigene (rare) Deutungen des Platzgeschehens bietet er deshalb auf subtile Weise dem Zweifel an. Wenn er mitunter nicht eine anonyme alte Frau oder irgendeinen hinkenden Mann über den Platz gehen sieht, sondern z.B. Paul Virilio, über den er zu wissen vorgibt, er wolle "Gatsby den Widerlichen am Bonaparte anschauen", bleibt im Dunkeln, ob es tatsächlich Virilio gewesen ist. In der Markierung einer namentlich ansprechbaren Person in den Heerscharen anonymer Menschen verleiht er dem Wunsch Ausdruck, im Hin- und Hergezogensein zwischen Distanz und Nähe einen persönlichen Orientierungspunkt zu setzen. Persönlich dürfte die tatsächliche Identifizierung Virilios schon deshalb gewesen sein, weil er mit ihm (und Jean Duvignaud) die Zeitschrift Cause commune herausgab. Methodologisch gewendet, scheint die Frage auf, unter welchen Bedingungen wir Personen, die im Forschungsfeld auftauschen, einen Namen geben und uns damit aus der Disziplin zur Distanz befreien. Dasselbe gälte für eine nicht der Logik der Sache geschuldete Aufwertung einer Einzelheit zu einer Besonderheit.
An die Stelle der zu Beginn seiner Aufzeichnungen schier endlos notierten Ströme von Linienbussen treten am Ende Citroen-Modelle. Auch sie sind Momente einer Kette ähnlicher Ereignisse, die - wie zuvor die Busse - einer Metamorphose der Aufmerksamkeit unterliegen. Zunächst finden sie eine ihr Auftauchen und Verschwinden würdigende Beachtung. Dann werden sie plötzlich als Medien der Anästhesie zu Undingen. Wenn immer wieder (apfelgrüne) 2 CV´s gesehen werden, verfängt sich die Offenheit des Blicks in einem fixen Raster von Erwartungen. Auch dahinter verbirgt sich eine Fußnote zur Methode der Beobachtung wie zur Wissenschaft als Methode schlechthin: Was sieht man, wenn immer nur Ähnliches allein mit geringen Variationen zur Erscheinung kommt und sich ein Sog aufbaut, der alles in sich hineinzieht, was sich in vorausschießende - jede unvoreingenommene Interpretation vereitelnde - Seherwartung einfügen lässt?


Wenn die Beobachtungen gegen Ende des Büchleins wieder denen seines Anfangs ähnlich werden, wird abermals die Perspektivität des Beobachtens als Akt eines stets nur in Grenzen gelingenden Ausschöpfens von Wirklichkeit fassbar: "Vorbeifahrt eines 63ers [...] Vorbeifahrt eines 63ers [...] Vorbeifahrt eines 63ers [...] Vorbeifahrt eines 96ers [...] Vorbeifahrt eines 63er-Busses [...] Vorbeifahrt eines 96ers". Die Dinge und Eindrücke wiederholen sich, und die Methode, einen Platz zu erfassen, verfängt sich in sich selbst. Im Verlauf des gesamten Textes wurde sie immer wieder unterströmt von selbstreferentiellen "Störungen" des reibungslosen Notierens scheinbar objektiv benennbarer Ereignisse in einem "übersichtlichen" Raum. An seinem Ende stürzt schließlich der gesamte Versuch in die Fragwürdigkeit dessen, was er eigentlich hervorgebracht hat.

Jürgen Hasse

Anmerkungen
(1) Elias, Norbert: Engagement und Distanzierung. Frankfurt/M. 1987.
(2) Mitunter lässt sich aus den Aufzeichnungen die Dauer seines Aufenthalts an einem Ort ablesen; so befand er sich am 18. in der Zeit von 17:10 Uhr bis ca. 18:45 Uhr auf der Terrasse des Café de la Mairie.
(3) Ein "Méhari" war ein offener Freizeit-Pkw von Citroën, der Ende der 1960er bis 80er Jahre auf der Karosserie des Citroën 2CV gebaut wurde.
(4) Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, Frankfurt/M. 1985.
(5) Vgl. Dürckheim, Graf Karlfried von: Untersuchungen zum gelebten Raum. Neu herausgegeben von Jürgen Hasse, mit Einführungen von Jürgen Hasse, Alban Janson, Hermann Schmitz und Klaudia Schultheis. ( = Natur - Raum - Gesellschaft, Bd. 4) Frankfurt/Main 2005 (Erstveröff. 1932).
(6) Carola Meier-Seethaler macht mit Ludwik Fleck deshalb darauf aufmerksam, dass "Denkstile" nie in einem wissenschaftssystematischen und rationalistischen Sinne "rein" sind, sondern in vorherrschenden "Denkstimmungen" aufgehen (Meier-Seethaler, Carola: Macht und Moral. Zürich 2007, 79).


Zitierweise:
Jürgen Hasse 2011: "Ein apfelgrüner 2CV." Über die Schwierigkeiten, einen Ort zu beschreiben. In: http://www.raumnachrichten.de/rezensionen/1268-perec


Anschrift des Verfassers
Prof. Dr. Jürgen Hasse
Institut für Humangeographie
Fachbereich Geowissenschaften/Geographie
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Tel.: +49 (69) 798-23859
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