Sundhya Pahuja: Decolonising, International Law. Development, Economic Growth and the Politics of Universality. Cambridge 2011. 303 S.

Aufs Erste erscheint das Völkerrecht als universelles Normengefüge par excellence. Die gegenseitige Anerkennung der souveränen Staaten, auf denen es wesentlich beruht, ist zunächst einmal Ausdruck des Gleichheitsprinzips, wie ja auch alle souveränen Staaten die Möglichkeit haben, Mitglied der Vereinten Nationen zu werden und in der Generalversammlung sämtlich gleichermaßen eine Stimme haben. Die Kritik aus der Perspektive der postkolonialen Studien sowie des Post-Development hat demgegenüber auf den westlichen Ursprung des Völkerrechts hingewiesen, dessen universelle Ausweitung über die europäische Provinz hinaus instrumentell für koloniale Herrschaft war, wodurch die Universalisierung des Prinzips gleicher souveräner Staaten bereits der Universalisierung eines provinziellen, jedoch auf globaler Ebene hegemonialen Ordnungsprinzips gleichkomme.

Sundhya Pahujan verfolgt einen anderen Ansatz. Er kann im strengen Sinne kritisch genannt werden: Es geht ihr nicht um Verdammung in Bausch und Bogen, sondern um die sorgfältige Rekonstruktion, das Herauspräparieren der Widersprüche, die dem Völkerrecht inhärent sind. Derartige Kritik wäre nicht der Mühe wert, gäbe es nicht bei allen Einwänden – einschließlich der Denunziation des Völkerrechts in seiner heutigen Gestalt als globales Herrschaftsinstrument – etwas, das dialektisch aufzuheben die Kritik zu ihrer vornehmsten Aufgabe hat: das Versprechen gleicher Rechte und endlich der Gerechtigkeit als Fluchtpunkt des Rechts. Wenn Pahuja vor allem in ihrer Exposition sowie im Schlusskapitel auf dieser im strengen und guten Sinne utopischen Perspektive insistiert, so leugnet oder übersieht sie keineswegs die Realität des Rechts und der durch es zum Ausdruck kommenden, zementierten und bewehrten Herrschaftsverhältnisse – im Gegenteil beschäftigt sie sich ganz vorwiegend hiermit. Ihre Grunddisposition, die hier nur sehr grob skizziert werden kann, erlaubt es ihr jedoch, gleichsam das Versprechen der Aufklärung über deren Dialektik nicht zu vergessen. Explizit kommt diese noch nicht einmal zur Sprache, wo die „Aufklärung“ angerufen wird. Ein Großteil der von Pahuja geleisteten begrifflichen Arbeit kann jedoch durchaus als Explikation eben dieser Dialektik gelesen werden. Nicht zuletzt unterscheidet sie – wiederum in deutlichem Anklang an die Kritische Theorie – im Recht zwischen einer Dimension der Bestrebungen und einer technischen Dimension (256). Ihr prominentester, ausführlich zitierter Gewährsmann ist jedoch sowohl auf epistemologischer wie auf im engeren Sinne rechtskritischer Ebene Jacques Derrida. Daraus ergibt sich vor allem eine dekonstruierende und textkritische Herangehensweise. In ihrem Zentrum steht die an Derrida angelehnte Konzeption des „Schnitts“, der bestimmt, was unter einen bestimmten Begriff – hier in erster Linie „Recht“ – fällt und was davon ausgeschlossen bleibt. Konkret bedeutet dies, zu fragen, welche Sachverhalte zu bestimmten Zeitpunkten und auch in zeitlicher Abfolge vom Recht erfasst werden, und welche als außerrechtlich gelten. Bei alledem hält Pahuja an der Entwicklungs-Kritik der Post-Development-Strömung in einem breiten Verständnis fest: Sie versteht unter Entwicklung, ausgehend von der Inaugurationsadresse Harry Trumans 1949, transformative Eingriffe des Westens in die Dritte Welt, die freilich bestenfalls der Angleichung herrschender Normen, sicher nicht jedoch der Verheißung eines Ausgleichs der Lebensverhältnisse dienen. Als empirisches Paradigma dienen ihr Praktiken und Strategien der Bretton-Woods-Institutionen, in erster Linie der Weltbank. Hier sieht sie eine „diffuse“ „Regierungs-Rationalität“ am Werk, die „zwischen den Bestandteilen des ideologisch-institutionellen Komplexes, den wir als ‘Völkerrecht’ bezeichnen, beständig neu konfiguriert wird“; „die entscheidende Achse in dieser Dynamik“ stellten „die Beziehungen zwischen den internationalen politischen und ökonomischen Institutionen sowie die Abgrenzung und Hin und Herbewegung zwischen ihnen“ (254) dar.

Pahuja erläutert ihre Analyse anhand von vier paradigmatischen Vorgängen, man könnte auch sagen, an Lehrstücken aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg: der Aushandlung und Gründung der internationalen Institutionen, insbesondere des UN-Systems sowie der internationalen Wirtschaftsinstitutionen (bes. IWF und Weltbank); der Dekolonisierung und der darauf folgenden subordinierten Einbeziehung der „Entwicklungsstaaten“ in das internationale System; der Auseinandersetzung um souveräne staatliche Verfügungsrechte über Bodenschätze und andere wirtschaftliche Potentiale; und endlich der Durchsetzung des Good-Governance-Diskurses seit etwa 1990.

Zunächst zeigt Pahuja die Folgen der Unterscheidung zwischen politischen und ökonomischen Institutionen im Rahmen des nach dem Zweiten Weltkrieg neu konfigurierten internationalen Systems auf. Dabei betont sie diese Unterscheidung selbst ebenso wie die damit einhergehende, freilich nur scheinbare und ideologische Objektivierung der Ökonomie – auch gegenüber dem in klarer Abgrenzung zum Rechtspositivismus festgehaltenen, in letzter Instanz politischen Charakter des Rechts. Die recht detaillierte Darstellung des Aushandlungsprozesses arbeitet vor allem diese von Anfang an bestehende Zweiteilung heraus, die nicht zuletzt in den völlig voneinander abweichenden Stimmverhältnissen Ausdruck fand: Während vor allem in der UN-Generalversammlung, aber auch in einigen Unterorganisationen der UN im Zuge der Entkolonialisierung klare Mehrheiten der Dritten Welt zustande kamen, stand in IWF und Weltbank die klare Dominanz der USA und des Westens bis in die jüngste Vergangenheit außer Frage. Die Neuverteilung von Stimmrechten zugunsten Chinas und anderer Schwellenländer hat Pahuja leider nicht mehr berücksichtigt.

Bekanntlich war freilich die Verschiebung der Stimmverhältnisse in der UN-Generalversammlung nur sehr bedingt gleichbedeutend mit einem tatsächlichen Machtzuwachs der Dritten Welt. Pahuja erklärt dies aus der Verknüpfung der Ansprüche auf staatliche Souveränität und auf Gleichheit mit einem in konventioneller Weise auf Harry Truman zurückgeführten Entwicklungskonzept, dessen zentrale Bezugspunkte Nachholen und wirtschaftliches Wachstum sind. Die Entstehung des „Entwicklungsstaates“ und seine Verallgemeinerung in den entkolonisierten Ländern folgten demnach Sachzwängen, die ökonomisch, nicht zuletzt durch die Bretton-Woods-Institutionen, definiert und politisch durchgesetzt wurden. Die Wirkung der Sachzwang-Ideologie wird dabei klar herausgearbeitet, doch springt die Fixierung des Entwicklungsdenkens an Trumans Inauguraladresse einmal mehr viel zu kurz. Nur so viel: Weder lässt sich damit die insbesondere von Frederick Cooper herausgearbeitete, zumindest in Afrika in den letzten Jahrzehnten der Kolonialherrschaft wurzelnde Genealogie des Entwicklungsstaates vereinbaren, noch die zweifellos nicht zuletzt für Indien wesentliche sowjetische Strategie des Einholens und Überholens. Nicht zufällig erscheinen denn auch die Blockkonfrontation und ihre Folgen für die internationale Politik in Pahujas Darstellung merkwürdig unterbelichtet.

Gleiches gilt für die Frage der souveränen Verfügung über nationale Ressourcen, das zweite große Lehrstück, das Pahuja vorführt. Zwar erwähnt die Autorin hier die sowjetische Rechtfertigung einer entschädigungslosen Enteignung von Produktivvermögen, doch kommt diese Dimension in der folgenden Darstellung nicht mehr vor. Hier geht es allein darum, dass der Westen erfolgreich das Prinzip der Entschädigung durchsetzte, dessen nahezu grenzenlose Ausweitung aufgrund der Betonung von Rechten der Investoren und den Sachzwängen der Investitionsfreundlichkeit letztlich alle Bestrebungen einer nationalen Kontrolle konterkarierte. Es Rezensionen wäre aber nicht unwichtig, in diesem Kontext auch die Erfahrungen mit der tatsächlichen Nationalisierung von Bodenschätzen zu vergleichen, etwa die sehr unterschiedlichen Verlaufsformen beim Kupferbergbau in Zambia einerseits und Chile andererseits.

Nicht nur wegen seiner Aktualität ist das Lehrstück über Governance und Menschenrechte das wohl aufregendste. Pahuja zeigt nicht allein, wie völkerrechtliche Normen gleichsam internalisiert und in Bestimmungen übersetzt werden, die nicht mehr zwischen Staaten, sondern innerhalb von Staaten gelten sollen. Es wird auch deutlich, wie im Zuge der Verschiebung des hegemonialen Entwicklungsdiskurses hin zu Governance und Menschenrechtskonditionalität Recht und politische Institutionen entpolitisiert wurden und nun als objektivierte Randbedingungen erfolgreicher Volkswirtschaften erschienen. Als solche erst konnten sie überhaupt legitim in den Aktionskreis der Weltbank treten, deren Mandat politische Interventionen ja ausdrücklich ausschließt. Pahuja erkundet die Konsequenzen dieser Wendung anhand einer Reihe von Dimensionen, von denen hier nur die Kritik der Millenium Development Goals sowie der Konzeptionen von Hernando do Soto und Amartya Sen genannt werden sollen. Hier leistet die Autorin qualifizierte Ideologiekritik. Dennoch wirft gerade dieses Kapitel die Frage auf, ob selbst der hegemoniale Entwicklungsdiskurs sich wirklich auf die Aussagen der Weltbank und eventuell noch der sich dieser annähernden UN-Institutionen beschränken lässt. Engführungen erscheinen hier ebenso unvermeidlich wie sich Fragen nach der Bedeutung der Menschenrechte oder auch der Korruption und ihrer Bekämpfung und allgemeiner nach der Realität postkolonialer Staaten aufdrängen, die bei Pahuja ausschließlich als Opfer der Verkehrung vorgeführt werden, denen das Völkerrecht und insbesondere das ihm inhärente Gleichheitsversprechen unterliegen. Es bleibt unbefriedigend, wenn die Autorin im Schlusskapitel alle diese und noch einige andere Frage künftigen Büchern zuweist. Dies kann gewiss als sympathischer Mut zur Lücke verstanden werden, verweist aber zugleich auf das große, hier nur sprachlich angedeutete Dilemma einer politischen Sympathie „mit den Menschen (wenn auch nicht notwendig mit den Staaten) der Dritten Welt“ (255), wenn Völkerrechtssubjekte doch meist Staaten sind – auch wenn Völkerrechtspositionen in Vorgaben innerstaatlichen Handelns gewendet und so implizit nicht nur Regierungen, sondern auch die Menschen entmündigt werden, über die sie herrschen. Dennoch bleibt der Verdacht, dass auch Pahuja letztlich die staatsfixierten Positionen weiter mitschleppt, die etwa die Dependenztheorie immer wieder reproduzierte. Verwirrend ist auch ihre Fixierung auf eine vom Westen dominierte Welt, wo doch gerade in dem zuletzt von ihr behandelten Bereich der Governance und daran anschließender Konditionalität diese Dominanz seit einigen Jahren zumindest entschieden in Frage gestellt ist und etwa aufgrund von systematischen Menschenrechtsverletzungen stigmatisierte afrikanische Regierungen – allen voran in Zimbabwe und im Sudan – bereits routinemäßig auf die Kooperation mit China zurückgreifen, die Konditionalität gerade ausspart. Gerade unter dem Aspekt der Unterscheidung zwischen Staaten und den Menschen, die sie repräsentieren und beherrschen wäre auch eine Analyse der Deklaration zum Recht auf Entwicklung wichtig gewesen.

Es bleibt ein überaus anregendes und gerade auch in seinen Lücken und Schwächen lehrreiches Buch. Dazu gehört nicht zuletzt der knappe, immer wieder wichtige Nachweis im Anhang, dass der Terminus „Dritte Welt“ nicht auf eine Abzählübung zurückgeht, sondern auf die Analogie zum Dritten Stand, der bekanntlich nichts war und alles werden sollte.

Reinhart Kößler

PERIPHERIE Nr. 125, 32. Jg. 2012, S. 110-113

 

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