Rainer Wehrhahn und Verena Sandner Le Gall: Bevölkerungsgeographie. Darmstadt 2011. 158 S.

„Die Bevölkerungsgeographie ist als Forschungs- und Lehrgebiet seit langem fest in der Humangeographie verankert“ (S. 1), wobei das Geographische Institut der Christian-Albrechts-Universität in Kiel, dem die Autoren angehören, sicherlich einen Schwerpunkt im deutschsprachigen Raum darstellt. In diesem Zusammenhang sei nur an die 2010 in der 5. Auflage (!) erschienene, umfassende „Bevölkerungsgeographie“ von J. Bähr erinnert, der an diesem Institut für dreißig Jahre als Hochschullehrer tätig war.

Vor dem Hintergrund des bisher meistens „weitgehend an den quantitativen Ansätzen der Demographie“ (S. 3) ausgerichteten Bevölkerungsgeographie sehen die Autoren aber „neue gesellschaftliche Herausforderungen“ (S. 2) für diese, die sich zum einen im Rahmen von Globalisierung und Umweltwandel ergeben, zum anderen aus stärker qualitativ-argumentativ ausgerichteten Forschungsansätzen. Vor allem unter Bezug auf Giddens (1988) werden die zentralen Begriffe von „Struktur und Handlung als sich wechselseitig konstituierende Kategorien“ begriffen (S. 4). Daraus ergibt sich, dass demographische Prozesse (z.B. Bevölkerungswachstum, Migrationen) durch menschliche Handlungen entstehen, die von sich wandelnden politischen, wirtschaftlichen und/oder gesellschaftlichen Prozessen beeinflusst werden. In diesem theoretischen Bezugsrahmen kommt den Konzepten der Kontextualität, Relationalität und den Institutionen eine zentrale Bedeutung zu. Betrachtet man jedoch die in Abb. 1.1 dargestellten Zusammenhänge und Interaktionen genauer, so stellt sich die Frage nach dem Innovativen dieses Ansatzes. De facto spiegelt sich – allerdings ohne diesen expliziten theoretischen Bezug – das nämlich seit vielen Jahren in bevölkerungsgeographischen, gerade auch interdisziplinär ausgerichteten Untersuchungen wider, auch hinsichtlich der Interpretation von Prozessen und Ergebnissen sowie in der immer stärkeren Anwendung von qualitativen Methoden.

Wenn am Beispiel des demographischen Wandels in Deutschland (genauer: den Komponenten von Schrumpfung und Wachstum) und den sich daraus ergebenden räumlichen demographischen Disparitäten (Abb. 3.12) die Fragen nach dem „wer handelt“ und nach dem „warum“ und „wie“ gestellt werden (S. 56), ferner nach den übergeordneten politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Parametern in Raum und Zeit, so ist diese Vorgehens- und Argumentationsweise nicht neu. Der für die Beantwortung dieser Fragen postulierte Bezug auf das Konzept der kontextuellen und relationalen Bevölkerungsgeographie lässt vielmehr manche Fragen offen, z.T. auch eine gewisse Stringenz in der Anwendung vermissen. Ein Beispiel dafür bildet die zutreffende Betonung der „demographischen Kluft“ (sehr unterschiedliche Geburten- und Sterberaten) zwischen Frankreich und Deutschland (S. 25; Abb. 3.2). Wieso werden denn hier nicht die Fragen nach dem „warum“ und den politischen etc. Parametern gestellt und beantwortet?

Der Aufbau des Buches (Kap. 1.4) und der flüssig geschriebene Text können überzeugen. Zu dem klassischen inhaltlichen „Kanon“ der Bevölkerungsgeographie tritt der sicherlich noch zu präzisierende und inhaltlich zu relativierende Versuch einer stärkeren theoretischen Fundierung, der allerdings noch manche Wünsche offen lässt. Hingegen wird die „Durchlässigkeit der Außengrenzen einer sozialwissenschaftlichen Bevölkerungsgeographie“ (S. 5), d.h. deren interdisziplinäre Vernetzung durchaus deutlich, ist in dieser Form vielleicht wirklich ein Novum. Insgesamt bietet die vorliegende „Bevölkerungsgeographie“ mit den aufgezeigten andersartigen, z.T. innovativen Perspektiven eine interessante, lesenswerte Ergänzung zu den bestehenden Werken.
Günter Mertins

Quelle: Erdkunde, 66. Jahrgang, 2012, Heft 2, S. 179-180

 

zurück zu Rezensionen

zurück zu raumnachrichten.de