Leo Gabriel u. Herbert Berger (Hg.): Lateinamerikas Demokratien im Umbruch. Wien 2010. 340 S.

Beide Herausgeber und Autoren verfolgen die politischen Entwicklungen in Lateinamerika seit den 1970er Jahren aus nächster Nähe. Damit konnten sie die Dynamiken beobachten, die zu den als „neue Demokratien“ oder teilweise als „Linksruck“ bezeichneten Regierungen führten. Sie zeichnen in ihrer Einleitung, die sie „die schwere Geburt der Demokratie in Lateinamerika“ (7) nennen, die wechselhafte Geschichte der lateinamerikanischen Staaten seit ihrer Unabhängigkeit von der Krone in Spanien und Portugal nach. Dabei legen sie, um die spätere Entwicklung genauer zu verstehen, ein besonderes Augenmerk auf die Zivilgesellschaft und den Aufstieg der „Volksorganisationen“ (organizaciones populares) einschließlich der Indigenenorganisationen.

Nicht zuletzt als Ergebnis der Protestbewegungen gegen die neoliberalen Politiken schlug das Pendel um die Jahrtausendwende in Richtung der „neuen Demokratien“ um. Das Buch widmet sich in 12 Artikeln verschiedener AutorInnen der Beschreibung und Analyse der bekanntesten Beispiele. Im ersten der drei Themenblöcke wird unter der Überschrift „Die Gewalt des Neoliberalismus“ der Ausgangspunkt für demokratische Bewegungen kritisch betrachtet. Das zweite Thema ist „Die Kosmovision der Indigenen als Grundlage einer plurikulturellen Gesellschaft“, um schließlich perspektivisch „Partizipation als Gesellschaftsstruktur“ anhand von Länderbeispielen aufzuzeigen.

Als erstes Land wird Chile vorgestellt, das viele Jahre im Rampenlicht der Linken und der Solidaritätsbewegung stand und in dem die postdiktatorische Entwicklung mit besonderem Interesse verfolgt wurde. Der Autor Herbert Berger gießt aber reichlich Wasser in den wunderbaren chilenischen Wein, wenn es um demokratische politische Errungenschaften geht. Die vom Diktator Augusto Pinochet verordnete Verfassung bindet den Regierungen nach wie vor die Hände. Die Regierungen der breiten Koalition (concertación) unter der Führung von Christdemokraten und (sozialdemokratischen) Sozialisten haben wenig Anstrengungen unternommen bzw. Chancen nicht wahrgenommen, grundlegende demokratische Strukturen einzuführen und eine wirkliche Beteiligung zivilgesellschaftlicher Organisationen und Kräfte zu ermöglichen. Fast folgerichtig wurde die abgewirtschaftete Koalition abgewählt und vom konservativen Kandidaten beerbt.

Am Beispiel des Putsches in Honduras zeigt Leo Gabriel den Konflikt auf, der hinter den Kulissen den Staatsstreich auslöste. Der gestürzte Präsident Zelaya hatte seine ursprüngliche politische Heimat nicht in den Gruppen, die sich an den revolutionären Bewegungen anderer zentralamerikanischer Länder orientierten, sondern kommt aus dem konservativen Lager der Großgrundbesitzer. Im Laufe seiner Regierungszeit hatte er sich jedoch stärker für das einfache Volk interessiert, das zahlenmäßig ein politisches Gewicht darstellt. So gab es Kontakte zu Hugo Chavez von Venezuela, ein Fakt, der sicher das Fass zum Überlaufen brachte und das konservative Lager zum Eingreifen motivierte.

Zur Einleitung des zweiten Themenblocks analysiert René Kuppe aus rechtshistorischer Sicht sehr aufschlussreich die Rolle der indigenen Völker im Nationalstaat, wobei er insbesondere auf die verfassungsrechtlichen Fragen der neuen plurikulturellen Verfassungen und der plurinationalen Staatlichkeit in einigen Ländern eingeht. Zunächst wurde die europäische Rechtskultur übernommen. Damit wurden die Rechte der indigenen Völker vollständig ignoriert. Die Verfassungsreformen sollen zumindest teilweise die kulturelle Eigenständigkeit der indigenen Völker und deren Kontrolle über die Ressourcen sichern. Es wird im Beitrag deutlich, dass es dabei auch um gesellschaftliche Umgestaltungen und um die Ablehnung des liberalen Staatsmodells geht, vor allem aber um eine tiefgreifende Dekolonisierung. Die Entwicklung steht erst am Anfang. Der Autor geht wenig auf die konkrete Umsetzung und damit sicher verbundene Schwierigkeiten ein. Dabei bezeichnet er die neue Verfassung von Kolumbien gemäß seiner juristischen Analyse als Dammbruch (131), doch haben sich die dortigen politischen Strukturen nicht grundlegend verändert.

Robert Lessmann beschreibt „Boliviens steinigen Weg zum plurinationalen Staat“ (145-163). Er geht von drei Krisenfaktoren aus, die mit Evo Morales zum Wahlsieg des ersten indigenen Präsidenten in der über 185-jährigen Geschichte des Landes führten. Die sozio-ökomische Dauerkrise lässt Bolivien auf Platz 113 des Human Development Reports verharren; das Land gilt damit als das ärmste in Südamerika. Der Ressourcenreichtum hat vor allem dazu geführt, dass ausländische Konzerne die Gewinne ins Ausland fließen ließen. Die nationalistische Revolution von 1952 schließlich blieb auf halbem Weg stehen. Sie mündete in eine 18 Jahre währende Militärdiktatur. Als danach die selbe Partei (Bewegung) MNR (Movimiento Nacionalista Revolucionario) als linksliberale Regierung ihre eigenen Errungenschaften von 1952 abschaffte und mit einer neoliberalen Politik Bolivien vollends an den Tropf der internationalen Entwicklungshilfe hängte und zum „Aid Regime“ degradierte, leitete sie ihr eigenes Ende ein und ebnete den Weg für Evo Morales und seine Partei MAS (Movimiento al Socialismo – Bewegung zum Sozialismus).

Bolivien neu gründen, das hatten sich Evo Morales und seine MAS schon nach dem ersten Wahlsieg zum Ziel gesetzt; die Revolution sollte mit dem Stimmzettel, nicht mit Waffen erfolgen. Die Konstruktion eines neuen Staates hat allerdings noch eine Reihe von Aufgaben zu bewältigen. Bisher konnte die Regierung auf die traditionell starke Gewerkschaftsbewegung, auf die Unterstützung wohlwollender Nachbarregierungen und den Kollaps des traditionellen Parteiensystems bauen. Das indigene und das populare Lager stellen indes bei weitem keinen monolithischen Block dar. Es ist aber schon viel erreicht: Noch nie waren so viele Angehörige indigener Völker in die Regierungsverantwortung eingebunden, ein „emanzipatorischer Quantensprungsprung“ (162). Aber eine institutionalisierte Demokratisierung von unten steht noch aus.

Auch im Beitrag zu Ecuador „Zur Genealogie des indigenen ‘guten Lebens’ (‘sumak kawasay’) in Ecuador“ (167ff) stellen David Cortez und Heike Wagner die Lebensformen und die Lehren der Urbevölkerung in den Mittelpunkt, um im politischen Projekt und in der Verfassung nach einem umfassenden Paradigmenwechsel zu suchen. Intensiv erläutern sie das Konzept des sumak kawasay, die damit verbundene Lebensphilosophie sowie das daraus resultierende Politikverständnis und stellen es der abendländisch verstandenen Tradition (169) gegenüber. Besonders informativ sind die Abschnitte, in denen Autorin und Autor ausführlich auf die Beziehung des sumak kawasay zum demokratischen Wandel und zum Entwicklungsparadigma eingehen. Das indianischen Traditionen entstammende Konzept schließt mit seiner holistischen Perspektive alle Lebensbereiche ein, von persönlichen Beziehungen über die Politik und das Verhältnis zur Natur bis hin zu den Geschlechterverhältnissen. Es kann insgesamt als eine Basis für eine solidarische Ökonomie verstanden werden (195).

Die neue Qualität der politischen Debatte und der titelgebende Umbruch der Demokratien werden vor allem in den Beiträgen dieses zweiten Themenblocks deutlich. Die Autoren und die Autorin widmen sich einer Entwicklung, wie sie in Lateinamerika, außer in den Zeiten der Befreiungskriege, seit der Conquista nicht mehr zu beobachten war: die Einbeziehung der Rechte der indigenen Bevölkerung ins politische Projekt. Während der fast 200 Jahre seit der Gründung der Staaten im amerikanischen Subkontinent war das westlich-abendländische Politikmodell und Rechtsverständnis dominant und ließ die indigenen Strukturen nur in weniger wichtigen Bereichen – eher dekorativ und als Folklore – nebenher bestehen, jedoch ohne wirkliche politische Einflussmöglichkeit. Der Band nimmt die neue Diskussion auf, bei der es um die Schaffung von plurinationalen Staaten und die Aufnahme indigener Rechtskonstrukte in die neuen Verfassungen geht. Die Autorin und die Autoren zeichnen die Entwicklungen in den Beispielländern sehr anschaulich nach. Sie begründen den Erfolg der indigenen Organisationen und ihrer politischen Projekte nicht zuletzt mit dem Scheitern der neoliberalen Politik und der zunehmenden Verarmung der Bevölkerungsmehrheit, zu der in einigen Ländern im Andenraum die Indigenen zählen, welche überall als unterste Schicht rangieren.

Auf Alternativmodelle der Gesellschaftsstruktur geht der dritte Themenblock ein. Hier werden, wen wundert es, Argentinien, Brasilien und Venezuela als Länderbeispiele vorgestellt. Christian Cwik, der als Gastprofessor in Venezuela Gelegenheit hatte, die aktuellen Entwicklungen zu beobachten, stellt fest, dass die bolivarianische Revolution von Hugo Chavez, die über die partizipative zur direkten Demokratie in einer sozialistischen Gesellschaft gelangen will, mit der Transformation noch nicht sehr weit gediehen ist. Der Beitrag zu Brasilien von Gottfried Stockinger konzentriert die Analyse – sicher etwas zu stark – auf die Person Lula, wie auch der Titel besagt: „Das Brasilien des Lula da Silva“ (252).

Auf die Umbrüche bei den wirtschaftlichen Strukturen gehen die beiden recht unterschiedlichen Beiträge zu „ALCA – ALBA – MERCOSUR“ von Birgit Zehetmayer und „Vom Neoliberalismus zur Solidarwirtschaft“ von Clarita Müller-Plantenberg ein. Letzterer erläutert sehr anschaulich die Optionen einer solidarischen Wirtschaft als Gegenmodell zu den herrschenden kapitalistischen, auf den globalen Weltmarkt hin orientierten Strukturen. Allerdings ist die Realität, wie sie sich in Lateinamerika immer noch darstellt, weit von diesen etwas euphorisch klingenden Vorstellungen entfernt.

Alles in allem ist das Buch empfehlenswert, vor allem deshalb, weil es sich nicht in die allgemeinen Darstellungen zur politischen Entwicklung und zu den Regierungswechseln einreiht. Hier werden die neuen Ansätze, vor allem in den Andenländern, und grundsätzliche Fragestellungen wie die der indigenen Gesellschaftsmodelle versus koloniale Politikstrukturen analysiert und diskutiert.

Theo Mutter

PERIPHERIE Nr. 125, 32. Jg. 2012, S. 121-124

 

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