Perry Anderson: The New Old World. New York 2011. 561 S.

Verf. bewertet das europäische Projekt seit der neoliberalen Wende und dem Zusammenbruch des Realsozialismus: »Dieser Doppelstrudel veränderte die Gestalt der EU und bog all ihre Mitgliedsstaaten in neue Richtungen« (xiv). Die EU heute unterscheide sich fundamental von der »Gemeinschaft der 50er und 60er; trotzdem ist meine Bewunderung für die ursprünglichen Architekten ungemindert« (xv). Genauso ungemindert ist die Verachtung für die heutigen und die »Selbstgerechtigkeit von Europas Eliten«(ebd.).Seine Aufgabe sieht Verf. darin, gängige Elite-»Mythen« zu zerstreuen, wie z.B., dass Europa »ein höheres Wertesystem verkörpere als die USA« (ebd.): »Nicht bloß die Verschiedenheit, sondern auch die Unabhängigkeit von Amerika ist kleiner als angenommen« (xvi).

 

Im ersten Kapitel über die »Ursprünge« Europas kritisiert Verf. die These von Alan Milward über den demokratischen und sozialen Charakter des Gemeinschaftsprojekts. Ziel der EG sei kein postnationales System gewesen, sondern die nationale Machtsteigerung durch die Expansion der sozialen Basis, bei der »durch eine Mischung aus Wachstums-,  Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik die Bauern, Arbeiter und Kleinbürger zum ersten Mal in der Geschichte voll in den Staat integriert wurden« (5). Milward unterschätze auch die geopolitische Bestimmung: »Jegliche Politik in Europa war durch amerikanische Macht begrenzt.«(15) Vier Ziele seien ausschlaggebend gewesen: Die Verhinderung neuer Kriege in Europa; ein antisowjetisches Bollwerk im besonderen Interesse der USA; Frankreichs Ziel, im Verhältnis zu Deutschland »primus inter pares« zu werden; und Deutschlands Wiedergewinnung der Souveränität und der ›Ostgebiete‹ über den Umweg der Westintegration (20). Von Anfang an handelte es sich um ein Eliten- und kein populares Projekt (16).

Den neuen Kontext (›Wiedervereinigung‹, neoliberale EWWU, Osterweiterung) beschreibt Verf. als »fundamentale Geschichtsoffenheit« (46). Er beobachtet die wachsende Macht Deutschlands, die stärker durch Wettbewerbsfähigkeit als die neue Größe bedingt sei. Eine »informelle Hegemonie« zeichne sich zwar »derzeit nicht ab« (52); dennoch sei eine »harschere deutsche Machtausübung – vermittelt eher über den Markt als über den Staat oder die Zentralbank – durchaus denkbar« (ebd.). Ein Problem sei neben den sinkenden Wachstumsraten die sich abzeichnende Krise: »Kommt es zu einem abrupten anstelle schleichendem Niedergang im US-Immobiliensektor[…],wie weit wäre die Eurozone von einer transatlantischen Rezession geschützt?« (51) Die formelle Einheit zwischen West- und Osteuropa sei eine »historische Errungenschaft ersten Grades« (53), vollzöge ich allerdings als extensive Akkumulation analog zum »neuen Süden in der US-Ökonomie seit den 70er Jahren«, bei der Osteuropa als »Zone wirtschaftsfreundlicher Steuersysteme, einer schwachen oder nichtexistenten Arbeiterbewegung, niedrigen Löhnen und – deshalb – hohen Investitionen« diene (55). Entscheidend an der neuen EU sei zum einen das als ›Demokratiedefizit‹ verharmloste Fehlen von Demokratie und im Grunde von Politik überhaupt. Das Scheitern der wenigen gewährten EU-Volksabstimmungen bedeute, dass »das Licht der Welt und Vorbild für die gesamte Menschheit nicht einmal auf die Zustimmung daheim zählen kann« (60). Zum anderen sei es die mangelnde Unabhängigkeit von den USA, die heute »wohl so gering ist wie zu keinem anderen Zeitpunkt seit 1950« (69). Die französisch-deutsche Opposition zum Irakkrieg sei rein rhetorisch gewesen, die CIA habe in Europa freie Hand gehabt und gefoltert habe man gemeinsam (76); die USA bestimmten mit, welche Länder der EU beitreten und welche nicht (70).

Im dritten Kapitel befasst sich Verf. mit der EU-Integrationswissenschaft. Der US-Einfluss zeige sich z.B., wenn die einflussreichsten Arbeiten, mit denen sich Verf. detailliert auseinandersetzt (Eichengreen, Moravcsik, Majone u.a.),aus den USA stammen. Verf. weist nach, dass für fast alle Wirtschaftsliberalismus wichtiger ist als Demokratie. Den Mainstream kennzeichne, dass »die Sprache der Klasse im Europa-Diskurs keinen Platz hat« (131), in der aktuellen Literatur mangele es an »einer eigentlichen politischen Ökonomie der Integration« (ebd.). Es überrasche kaum, dass die »besten Arbeiten« marxistische seien (ebd.). Die Dominanz der US-amerikanischen, liberalen EU-Theorie sei die Folge des höheren Prestiges der Politikwissenschaft (als der typischen EU-Wissenschaft) und ihrer besseren Ressourcenausstattung in den USA. Zudem sähen sich Amerikaner in Europa selbst: »Die EU hat sich ihren Grundannahmen angenähert. Die Folge ist […] eine neue ideologische Affinität zwischen Subjekt und Objekt […]. Europa ist […] zum theoretischen Testgelände des heutigen Liberalismus geworden.« (133)

In den nächsten Kapiteln liefert Verf. exemplarische Länderstudien. Die politische Ökonomie wird hier in eine Analyse des kulturellen und gesellschaftlichen Wandels im Neoliberalismus eingebettet. Frankreich wird als kultureller und politischer Niedergang geschildert: »Das korruptionsdurchsetzte politische System wird von der Bevölkerung verachtet« (145); »es dominiert das allgemeine Gefühl des Kulturverlusts und der Verdummung [und] der Verflechtung geistiger mit finanzieller und politischer Korruption« (146). Der Niedergang sei besonders an der Kulturproduktion und der intellektuellen Debatte abzulesen. Zur Zeit de Gaulles seien »die politischen Auseinandersetzungen stärker und der Meinungsstreit in den Zeitschriften sehr viel lebendiger gewesen« (148). 1968 sei eine totgeborene Revolution. Die Furcht vor dem Gemeinsamen Programm der KPF und der Sozialisten habe einen bestimmten Intellektuellentypus und den Aufstieg des liberalen pensée    unique befördert. Das Ziel, die Loslösung vom französischen Revolutionserbe, sei »ein geistiger Sieg, der in allen westlichen Ländern seinesgleichen sucht« (163). Die Intellektuellen und Eliten im Land mit der ehedem größten Unabhängigkeit von den USA orientierten sich heute an Amerika als Inbegriff der Modernität (186). In keinem Land seien die Bereitschaft, sich kollektiv zu organisieren oder einer Partei beizutreten, so gering (170ff). Trotzdem hofft Verf., dass in Frankreichs politischer Kultur »das plötzliche Umschlagen von Konformität in Rebellion und zurück noch nicht vorbei« (213) ist.

Das Deutschlandkapitel behauptet die These, dass »das stabilste politische System im Nachkriegseuropa« durch den EU-Stabilitätspakt in eine »Phase unvorhersehbarer Turbulenzen« eingetreten sei. Die Einheit habe »die Wirtschaftsverfassung […] transformiert« und einen »ungezügelten, rücksichtsloseren Kapitalismus« (248) und damit ein »neues politisches System« hervorgebracht. Die Zukunft der deutschen Linkspartei hänge davon ab, »ob es ihr gelingt, die Jugend landesweit anzusprechen« (255). Die von Verf. mit der Schröder-Wahl 1998 konstatierte »soziologische Mehrheit« der ›Linken‹ (218) sei rein arithmetisch, solange sich die LINKE nicht der NATO unterwerfe. Dies sei die »eigentliche Demarkationslinie der politischen Klasse Europas« (255). Das Wachstumspotenzial der LINKEN sieht Verf. darin, dass in Deutschland Massenarbeitslosigkeit noch ein politischer Skandal und wachsende soziale Ungleichheit» explosiver als anderswo« (259) sei. Intellektuell konstatiert Verf. eine Rechtswende: Liberale Linke wie Habermas, Luhmann, Wehler und Winckler hätten im Historikerstreit die Angriffe von Nolte u.a. zurückgeschlagen; das Klima habe sich dennoch nach rechts verschoben. Als Beleg führt er den Merkur an; unter Karl-Heinz Bohrer habe die Zeitschrift eine »entscheidende Rolle« gespielt, den »sicher geglaubten Linksliberalismus des Nachkriegsestablishments zu stürzen« (274). Zudem sei die Bedeutung der Intellektuellen insgesamt gesunken: »Die deutsche Kultur im letzten Drittel des letzten Jahrhunderts kennzeichnet eher ein Gefüge aus Bildern denn aus Ideen.« (276)

Auch die Zweite Italienische Republik nach Ende des Kalten Krieges sei ein kultureller und politischer Niedergang. Das Ziel der ersten Mitte-Links-Regierung, das politische System »an den westlichen Standard anzuschließen« (294), sei angesichts der ideologischen Demobilisierung einerseits und der Wahlenthaltung eines Drittels der Bevölkerung andererseits (306) gescheitert. Die Erste Republik sei durch einen »genuinen Pluralismus an politischer Meinung […], lebendige Beteiligung in Massenorganisationen und des politischen Lebens […], eine robuste Hochkultur und höchst bemerkenswerte […] soziale Bewegungen wie in keinem anderen europäischen Land in dieser Zeit« (306) gekennzeichnet gewesen. Heute würden auch in Italien die USA als Maßstab der Modernität gelten: »Die Bemühungen, Italien zu normalisieren, gingen dahin, das Land nach dem Bilde der USA oder jenes Europas, das ihm selbst immer ähnlicher wird, zu gestalten.« (307) Die Linke stünde angesichts der Erfolge der Lega Nord unter den Arbeitern so schlecht da wie seit 60 Jahren nicht mehr. Die Lega sei »heute die älteste« und dazu die »letzte leninistische Partei in Italien«, die noch über die »Dynamik einer Massenorganisation mit Kadern und Aktivisten« verfüge (317). Die Jahre seit 1993 seien in allen Lebensbereichen die »verheerendsten seit dem Ende des Faschismus« (323). Die KPI trage eine Mitschuld, da sie nach dem Krieg »keinen Finger rührte, die […] Apparate der Mussoliniherrschaft zu beseitigen« (333), weshalb sich die Christdemokraten als dominante Kraft etablieren konnten. Ein Fehler der KPI sei gewesen, »Gramscis […] politische Strategie auf den Stellungskrieg […] zu reduzieren, als ob der Bewegungskrieg […] im Westen ausgedient habe« (335).

In Is Socialism Doomed? The    Meaning of Mitterand fragte Daniel Singer einst, ob die Zukunft Europas amerikanisch sei. Verf. liefert Argumente, dass Europa auf diesem Weg weit fortgeschritten ist, selbst wenn das Ergebnis nicht feststeht. Im Anschluss an Kapitel über die Türkei und Zypern (auf Deutsch separat veröffentlicht, vgl. die Rezension in Das    Argument 284, 998f) sowie die Ideengeschichte der europäischen Einheit bis zum Zweiten Weltkrieg schlussfolgert er: »Wie tief die Fäulnis ins Gebälk der EU vorgedrungen ist und wie hartnäckig sie sein wird, ist unklar. Fest steht, dass die Währungsunion, geschaffen für eine stabile Währung, die weit zurückreichenden Schwächen der Kontinentalökonomien nicht heilen konnte.« (508) Die europäischen Sozialsysteme gerieten unter Druck; weder nationale noch übernationale Lösungen seien vorhanden. »Die wachsende Arbeitslosigkeit und die wirtschaftlichen Probleme können sowohl zentrifugale als auch zentripetale Kräfte […] auslösen.« (508f) Ein ›europäisches Sozialmodell‹ mit »öffentlichen Gütern für den Umweltschutz und Einkommenszuschüssen für die ganz Armen« (512) schließt Verf. trotzdem nicht aus. Anders als nach Kriegsende bestehe jedoch kein Konsens, was Sinn und Zweck der Union sein solle. In der Außenpolitik konkurrierten zwei Großmachtprojekte – eines unabhängig und ein anderes als Juniorpartner der USA (522) und »subimperiale Macht« (524). Ein gerechteres Europa bedinge die Mobilisierung der Arbeiterklassen und ihrer Verbündeten im Sinne der Klassenpolitik. »Der Gedanke auch nur irgendwelcher Konflikte, geschweige denn des Klassenkampfes, meidet [die europäische Sozialdemokratie] jedoch wie der Teufel das Weihwasser.« (537) In Folge dessen träten ethnisch-religiös verbrämte Konflikte, bei denen Einwanderer zu Sündenböcken gemacht werden, an dessen Stelle: »Anstatt sich gemeinsam gegen den Arbeitgeber oder den Staat zu vereinen, geht man auf die eigenen Kollegen los; die Armen hetzen gegen die Armen.« (537) Die Amerikanisierung der Sozialverhältnisse gehe mit der kulturellen Amerikanisierung einher. Sozial seien die EU »heute einkommensungleicher als die USA und die zwischenethnischen Verhältnisse harscher. Ökonomisch ist die Entwicklung seit Beginn der Neoliberalismuskrise schlechter als in den USA und die popularen Reaktionen auf die Krise konservativer« (540). Grund zur Hoffnung bestehe wenigstens, weil die »Erinnerungen an den Klassenkampf und ideologische Spannungen weniger verkümmert« (543) seien als in den USA. »Eine lange ökonomische Rezession« könnte die »Motoren des politischen Konfliktes und der ideologischen Differenzierung, denen der Kontinent seine dynamische Vergangenheit zu verdanken hat, neu in Gang bringen […]. Dass die Zeit und der Widerspruch zum Stillstand gelangen, ist nicht zu erwarten.« (547)
Sam Putinja (Toronto)
Aus dem Amerikanischen von Ingar Solty

Quelle: Das Argument, 54. Jahrgang, 2012, S. 622-625

 

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