Henry Heller: The Birth of Capitalism. A Twenty-First-Century Perspective. London 2011. 305 S.

Die Frage der Entstehung des Kapitalismus aus dem Feudalismus ist Gegenstand kontroverser Diskussionen in unterschiedlichen Zusammenhängen. Der kanadische Historiker Heller nimmt die Krise sowie die durch den Aufstieg neuer kapitalistischer Zentren gekennzeichneten weltpolitischen Verschiebungen zum Anlass, eine Rekonstruktion und Neubewertung der Übergangsdebatte vorzunehmen. Dabei versucht seine erfrischende Intervention, die Relevanz der Übergangsdebatte für die politische Praxis heute zu untermauern, während er sie zugleich sozial und historisch kontextualisiert.

 

Der rote Faden ist die kritische Auseinandersetzung mit Robert Brenner und mit seinen Schüler/innen Ellen Wood, Benno Teschke und George Comninel, deren Ansatz als »Politischer Marxismus« bekannt geworden ist (2). In Reaktion auf reduktionistische und ahistorische Tendenzen in der Historiographie rückte dieser Ansatz gesellschaftliches Handeln und den Klassenkampf ins Zentrum. Dabei habe er jedoch – so Verf. in Anlehnung an Bois und Harman – den Blick auf die Produktivkräfte vernachlässigt (44f). Verf. wirft den »politischen Marxisten« ein ökonomistisches Vorgehen vor; sie würden dem Anspruch nicht gerecht, den Kapitalismus als politische und ökonomische Entität zu begreifen: »The state played a critical role from the very beginnings of capitalism, and capitalism cannot really consolidate itself as a mode of production without control of the state.« (103) Ein wesenticher Kritikpunkt am Politischen Marxismus richtet sich damit gegen die Zurückweisung der Bedeutung bürgerlicher Revolutionen für die Entfaltung des Kapitalismus. Diesen komme jedoch eine entscheidende Funktion zu (115f): »As a result of revolution, the state was restructured in each case to enhance the further accumulation of capital at home and abroad, and to advance the social and political ambitions of the bourgeoisie.« (134)

Das Buch ist in sieben Kapitel gegliedert, die sich um verschiedene Problemstellungen konzentrieren. Zu Beginn setzt sich Verf. mit den historischen Debatten um den Niedergang desFeudalismusundAufstiegdesKapitalismusauseinander.DiezentraleFrageseigewesen, ob und zu welchem Grade interne Faktoren – die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse – oder externe – das Aufkommen von Märkten und Handel (»Kommerzialisierungsthese«) – die gesellschaftlichen Entwicklungen beeinflussten. Während Dobb, Hilton und Brenner exemplarisch für den erst genannten Zugang stehen (den Verf. trotz Differenzen als näher an Marx und der historischen Evidenz erachtet), repräsentieren Pirenne, Sweezy und Wallerstein den letzteren. Verf. bezeichnet diese Gegenübersetzung als falsche Dichotomie und betont stattdessen die Einheit von Produktion und Austausch (76): »[T]he unity of the process of capitalist accumulation […] entails both the extraction of surplus value through the development of capitalist relations of production (capitalists and workers) and the realization of profit through the development of the market.« (243)

In seiner Auseinandersetzung mit dem breiten Spektrum der Literatur (obwohl deutsch­sprachige Literatur wie Gerstenberger oder auch einige andere Vertreter des »Politischen Marxismus« ausgespart werden) kritisiert Verf. die »Brenner­These« über die Herausbil­dung des Agrarkapitalismus in England. Angelehnt an Bois, Byres und Harman hebt er hervor, dass die Kleinproduzenten und nicht die Herren die Initiative bei der Durchsetzung kapitalistischer Verhältnisse übernommen hätten (23). Ein Argument, das im weiteren Verlauf in seine an Marx und Lenin orientierte Theorie über die Entwicklung des Kapita­lismus »von oben« und »von unten« mündet (135f).

Darüber hinaus – und dies ist Thema des zweiten Kapitels – könne die Entwicklung des Kapitalismus nicht ausschließlich in England verortet werden (51). Verf. widmet sich dementsprechend der Analyse »kapitalistischer Experimente« im historischen Italien, Deutschland und Frankreich. Damit fokussiert er auf kapitalistische Entwicklungen in Ländern, die bisher selten in die Übergangsdebatte einbezogen wurden. Verf. weitet den Blick aber nicht nur auf Europa aus, sondern plädiert bei der historischen Rekonstruktion der Herausbildung kapitalistischer Produktionsverhältnisse für eine globale Perspektive (90). Insgesamt ermöglicht sein sowohl räumlich als auch zeitlich weit gefasster Analyserahmen, »Übergangsphänomene« besser in den Blick zu bekommen, statt in der Geschichte entweder nach feudalen oder kapitalistischen Verhältnissen zu suchen.

Instruktiv ist die Auseinandersetzung mit postkolonialen Ansätzen (trotz der z.T. holzschnittartigen Kritik, vor allem wenn es um den Einfluss postmoderner Ansätze geht, 220) sowie mit der so genannten »Great­Divergence«­Debatte. Trotz grundsätzlicher Differenzen kommt Verf. zu dem Schluss, dass die »große Divergenz« erst an der Wende zum 19. Jh. in Erscheinung tritt: »It was only after 1800 that European Capitalism came to dominate the globe.« (216) Verf. resümiert, dass die Zentren der Kapitalakkumulation sich wiederholt verschoben haben und dies auch in Zukunft zu erwarten sei. Hier bemüht er den von Harvey geprägten Begriff des »spatial fix«, um auf den Aufstieg Chinas zu verweisen: »Capitalism has repeatedly attempted to overcome its crises of over­accumulation […] through the abandonment of old centres […] and movement toward new poles of accumulation.« (239). Verf. liefert eine willkommene Lektüre für alle, die sich sowohl für die historische Herausbildung des Kapitalismus als auch für die diesbezüglichen theoretischen Debatten interessieren – ohne jedes Argument teilen zu müssen. Erfreulich ist die Bezugnahme auf wissenschaftliche und politische Diskussionen, die zur weiteren Auseinandersetzung mit aktuellen Problemstellungen anregen, sei es die gegenwärtige Lage des globalen Kapitalismus oder die sich verändernde Rolle von Staatlichkeit.
Veronika Duma (Wien)

Quelle: Das Argument, 54. Jahrgang, 2012, S. 628-629

 

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