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Kategorie: Diskussionen

Natur, Mensch, Gesellschaft und das „Brückenfach“ Geographie – ein Interview mit Henning Nuissl

geographische revue: Herr Nuissl, Sie arbeiten als Sozialwissenschaftler am UFZ, dem Hemholtz-Zentrum für Umweltforschung in Leipzig. Bei dem Ausdruck „Umweltforschung“ denkt man ja nicht in erster Linie an Sozialwissenschaften. Welche Rolle haben denn hier Sozialwissenschaftler, auch in Ihrer Person? Auf welche Weise funktioniert hier die interdisziplinäre Zusammenarbeit?


Henning Nuissl: Zunächst scheint es mir auf einem verbreiteten Missverständnis zu beruhen, wenn mit dem Begriff der Umweltforschung nicht auch die Sozialwissenschaften assoziiert werden. Denn es ist doch ziemlich unstrittig, dass es so etwas wie eine ‘natürliche Umwelt’ heutzutage eigentlich gar nicht gibt – die Frage, ob es sie in der Geschichte bzw. aus der Perspektive der Menschheit überhaupt je gegeben hat, dürfte in Abhängigkeit vom jeweiligen erkenntnistheoretischen Standpunkt unterschiedlich beantwortet werden. Mehr oder minder alle Strukturen und Prozesse auf, über und vielfach auch knapp unter der Erdoberfläche sind heute anthropogen beeinflusst und überformt; das gilt auch für Areale, die von der persönlichen Anwesenheit von Menschen bislang weitgehend verschont geblieben sind, wie etwa die Antarktis. Hinzu kommen zwei weitere Aspekte. Zum einen sind scheinbar natürliche Prozesse nicht von sich aus bedeutsam; relevant werden sie vielmehr erst als Ergebnis von Deutungsakten und zum Gegenstandwissenschaftlicher Analysen erst in der Folge gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse. Und zum anderen zählt die Umweltforschung weitenteils zum Typ der sogenannten angewandten Grundlagenforschung; d. h. sie will wissenschaftliche Grundlagen dafür schaffen, dass Veränderungen zum Besseren hin vorgenommen werden können. Umweltforschung muss sich daher auch mit der Frage auseinandersetzen, wie auf die Gesellschaft, bzw. auf den Menschen, eingewirkt werden kann, um solche Veränderungen herbeizuführen – ganz abgesehen davon, dass sie auch kontinuierlich reflektieren sollte, wie bzw. von wem ein jeweiliges „Besser“ definiert wird oder werden sollte. All dessen ist sich eine zeitgemäße Umweltforschung selbstredend bewusst, und insofern spielen die Sozialwissenschaften auch am UFZ eine durchaus gewichtige Rolle. In einer Reihe von Projekten sind sie auf Augenhöhe mit den Naturwissenschaften an der Formulierung von Forschungsfragen und -designs beteiligt. Ich will freilich nicht verhehlen, dass es in der Verwirklichung des Anspruchs auf interdisziplinäre Zusammenarbeit immer wieder auch zu Reibungen kommt, die auf divergente Erwartungen hinsichtlich des sozialwissenschaftlichen Beitrags zur Umweltforschung zurückzuführen sind. So wird den Sozialwissenschaften nicht selten eine Doppelfunktion zugewiesen, die sie gleichwohl aus dem wissenschaftlichen Kerngeschäft der Generierung neuer Erkenntnisse fernhält: zum einen als Input- bzw. Datenlieferanten für ökologische Systemmodellierungen, zum anderen als Transmissionsriemen in die Praxis, dem die Aufgabe zufällt, wissenschaftliche Befunde und Handlungsempfehlungen an Entscheidungsträgerinnen und -träger zu vermitteln.

geographische revue: Wieso arbeiten am UFZ eigentlich so wenig Geographen? Interdisziplinarität ist doch das Kennzeichen der Geographie als wissenschaftliche Disziplin. Mit dieser disziplinären Selbstzuschreibung – nämlich „Integrations-“ und „Brückenfach“ oder auch „dritte Säule“ sein zu wollen – sind ganze Generationen von Wissenschaftler sozialisiert, sind Identitäten gebildet und Abgrenzungen zu anderen Wissenschaften vorgenommen worden. Müssten am UFZ nicht mehr Geographen arbeiten, um eine Brücke zwischen den Disziplinen herzustellen?

Henning Nuissl: Der Eindruck, dass am UFZ wenig Geographen arbeiten, täuscht. Beispielsweise in den Bereichen der Stadt- und Regionalforschung, der angewandten Landschaftsökologie und der  Naturschutzforschung ist eine Reihe von Geographinnen und Geographen – auch federführend – tätig. Und oft sind diese Personen in der Tat auch Motoren der fachübergreifenden Zusammenarbeit, weil sie keine allzu großen Berührungsängste mit anderen Disziplinen haben. Sie leisten insofern den von Ihnen nahegelegten wertvollen Beitrag zur Integration.

geographische revue: Geographen haben nach Ihren Worten also die Qualität, dass sie aufgrund ihrer fachlichen Sozialisierung keine Berührungsängste mit anderen Fächern haben. Innerhalb der Geographie wird dieser Aspekt aber weniger betont, vielmehr hingegen die Interdisziplinarität des Faches selbst. Die Frage ist nur: Gibt es diese Integrationsdisziplin überhaupt? Jedenfalls fällt es nicht leicht, Forschungsleistungen zu finden, die die Mensch-Natur-Beziehungen explizit wissenschaftlich untersuchen. Die postulierte  disziplininterne Interdisziplinarität des Fachs Geographie findet man in der dortigen Praxis in erster Linie in den regionsbezogenen Darstellungen der Länder-, Landes- und Landschaftskunden, d. h. in Beschreibungsformen, die zahlreichen außerwissenschaftlichen Voraussetzungen folgen. Man findet sie jedoch kaum in der tatsächlichen Forschungspraxis. Wie schätzen Sie diesen Problempunkt ein? Ist das eher Zufall oder kann es so etwas wie Interdisziplinarität innerhalb einer Disziplin gar nicht geben?

Henning Nuissl: Ihre Frage betrifft ein ziemlich komplexes Problem und lässt sich, glaube ich, nicht umstandslos beantworten. Denn interdisziplinäres wissenschaftliches Arbeiten ist ein weites Feld, das viele Spielarten kennt und um dessen präzise Definition die Wissenschaftstheorie bekanntlich schon lange – ’mal mehr, ’mal weniger intensiv – ringt. Aber im Prinzip stimme ich der in Ihrer Frage ja bereits enthaltenen Nahelegung zu: Interdisziplinarität innerhalb einer Disziplin ist ein Widerspruch in sich, und eine Disziplin, die sich konsequent als interdisziplinär versteht, muss zwangsläufig ein Identitätsproblem bekommen. Soweit ich die Geschichte der Geographie überblicke, war der Anspruch der „klassischen“ Länder- und später der Landschaftskunde allerdings auch nicht in erster Linie ein interdisziplinärer; vielmehr wollte die Geographie
durch ihre konsequent auf einen bestimmten Erdausschnitt bezogene Perspektive sowie die systematische Analyse von Geofaktoren durchaus etwas ganz Eigenständiges, unverwechselbar Geographisches erzeugen. Dass andere Disziplinen in diesem Erkenntnisprozess als – heute würde man sagen – Daten- oder Inputlieferanten hinzugezogen wurden, widerspricht diesem Anspruch keinesfalls: auch aktuell beruht der wissenschaftliche Fortschritt in einzelnen Disziplinen beinahe regelmäßig darauf, dass Erkenntnisse, aber auch Ansätze oder Methoden anderer Disziplinen aufgegriffen werden. In der jüngeren Wissenschaftsgeschichte finden sich hierfür zahlreiche Beispiele – man denke etwa an die große Bedeutung, die die Physik für die Grundlagenforschung in der Chemie erlangt hat, an den anhaltenden Hype der Hirnforschung, der zumindest in Teilen der Psychologie zu einer Art Wiederentdeckung der biologischen Grundlagen von Bewusstseinszuständen geführt hat, oder aber an den Einfluss der Ethnologie – oder ganz allgemein der Kulturwissenschaften – auf die Soziologie und mit gewisser zeitlicher Verzögerung auch auf die Humangeographie. Hinzu kommt, dass sich mit der Proliferation von häufig äußerst kreativ ‘getauften’ Studiengängen in der Folge von ‘Bologna’ disziplinäre Lagerungen – zunächst einmal in der Lehre, aber absehbar auch in den universitären  Organisationsstrukturen – langsam zu verflüssigen scheinen. Bei alledem: Sie haben natürlich recht mit dem Hinweis, dass die ‘alte’ – immer in irgendeiner Form geodeterministische – Form der geographischen Weiterverarbeitung von Erkenntnissen anderer Disziplinen erkenntnistheoretisch und methodologisch nicht haltbar ist. Ihr Abtreten hat allerdings eine schmerzliche Lücke hinterlassen, die, so scheint es jedenfalls, bislang nicht – zumindest nicht dauerhaft – geschlossen werden konnte.

 


geographische revue: Könnten Sie diese Lücke etwas genauer beschreiben? Was verstehen Sie darunter?

Henning Nuissl: Bei aller Fragwürdigkeit des verdeckten oder offenen Geodeterminismus, der in dem Versuch steckt, Struktur bzw. Sinn in einem wie immer abgegrenzten Ausschnitt des „geo“-metrischen Raums zu entdecken: aus diesem Versuch vermochte die Geographie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts offenbar ein seitdem nicht mehr erreichtes Maß an Selbstbewusstsein als eigenständige wissenschaftliche Disziplin schöpfen. Die beiden wohl einflussreichsten Strömungen in der Humangeographie der letzten 40 Jahre, die sich angeschickt haben, die von Länder- und Landeskunde zurückgelassene Leerstelle in der disziplinären Fundierung zu schließen, scheinen mir nicht die gleiche paradigmatische Kraft entfaltet zu haben: damit meine ich zum einen die eine Zeitlang sehr bestimmende Raumwissenschaft, zum anderen die von sozialwissenschaftlichem ‘cultural’ und kulturwissenschaftlichem ‘spatial turn’ gewissermaßen gleich doppelt ermutigte – neue – Kulturgeographie. Beide Theorieströmungen haben versucht, Anschluss zu halten an den – zunächst „kritisch-rationalen“, später dann kulturalistisch gewendeten – sozialwissenschaftlichen Mainstream der vergangenen Jahrzehnte. Erstere erwies sich mit ihrer Distanzversessenheit schlicht als sozial- bzw. handlungstheoretisch nicht ausreichend begründbar – warum das so ist, lässt sich zum Beispiel bei Benno Werlen in, wie ich finde, recht schlüssiger Form nachlesen. Letztere scheint mir mit ihrer weitgehenden Weigerung, physischmateriellen Gegebenheiten eine eigenständige Bedeutung zuzuerkennen – und damit letztlich wohl auch auf den Anspruch auf Einheit der Geographie –, zwangsläufig nur einem Teil der Geographie ein theoretisches Fundament bieten zu können. Und dieser Teil der Geographie steht darüber hinaus dann noch vor einer besonderen Herausforderung: weil sich beispielsweise auch die Ethnologie oder die Kultursoziologie für räumliche Repräsentationen und deren soziale Erzeugung interessieren, ist es weder über den Forschungsgegenstand und die Forschungsfrage noch über die Forschungsmethoden so ohne weiteres möglich, eine gewisse disziplinäre Eigenständigkeit der ‘cultural geography’ gegenüber anderen kulturwissenschaftlichen Disziplinen zu begründen.

geographische revue: Die Wiedervereinigung von Physiogeographie und Humangeographie und die Fokussierung auf die Mensch-Natur-Thematik – oder moderner gesprochen: die Gesellschaft-Umwelt-Forschung, das Mensch-Erde-System – werden als besonders erfolgversprechende Strategien zur Neupositionierung der Geographie angesehen. Disziplinpolitisch scheint mit der Wiederentdeckung der Brückenfunktion der Geographie die Hoffnung verbunden zu sein, dem Fach neue wissenschaftliche und gesellschaftliche Bedeutung zusprechen zu können. Dennoch dürfte die Überbrückungs-Frage primär ein theoretisches und nicht vorwiegend ein praktisches Problem kennzeichnen. Wo sind hier die Fallstricke zu verorten?

Henning Nuissl: Wenn es tatsächlich so ist, wie ich gerade behauptet habe, dass sich die Geographie mit der Aufgabe des Anspruchs, eine systematische, theoretisch fundierte Verbindung zwischen physischer und sozialer Welt herstellen zu können, ein gewisses Identitätsproblem eingehandelt hat, dann muss die Wiederentdeckung der Brückenfunktion der Geographie doch beinahe zwangsläufig große disziplinpolitische Hoffnungen wecken – dies um so mehr, da sich diese Wiederentdeckung ja in einem wissenschaftspolitischen Umfeld vollzieht, das ihr ausgesprochen förderlich ist: angesichts eines als gleichermaßen bedrohlich wie anthropogen wahrgenommenen globalen Wandels gilt es ja derzeit als eine der drängendsten Menschheitsherausforderungen, die Interdependenzen zwischen Mensch und Umwelt grundlegend zu überdenken. Das zentrale Betätigungsfeld einer als Brückenfach verstandenen Geographie ist also in den Mittelpunkt auch des öffentlichen Interesses gerückt – mit Blick auf die verstärkten Bemühungen um eine globale Umweltpolitik könnte man vielleicht sogar sagen: in den Mittelpunkt des weltpolitischen Interesses. Die gestiegene Sensibilität für Umweltfragen allein generiert aber selbstredend noch keinen theoretischen Fortschritt innerhalb der Geographie. Es wäre illusorisch zu hoffen, dass sich im Kielwasser der aktuellen Konjunktur umweltpolitischer Themen auch das Schisma zwischen den Teilbereichen der Geographie gewissermaßen im Vorbeigehen überwinden lasse. Und deshalb wäre es auch vermessen, von der gegenwärtigen Umweltdebatte umstandslos einen Anspruch der Geographie auf intellektuelle Führerschaft abzuleiten – nach dem Motto: weil sich die Geographie ja schon immer mit der Mensch-Umwelt-Thematik befasst hat, hält sie den Schlüssel für die Bewältigung der großen Probleme des 21. Jahrhunderts in Händen. Gleichwohl: als Anstoß, die Potentiale eines Brückenfachs Geographie auszuloten, ist das gestiegene Umweltinteresse für die Disziplin hilfreich, vielerorts auch willkommen. Ich bezweifle allerdings, dass es überhaupt ein – genuin geographisches oder auch anderweitiges – Forschungsparadigma geben kann, das sowohl an die Natur- als auch die Sozialwissenschaften unmittelbar anschlussfähig ist. Meines Erachtens wird geographische Forschung, wie schon in der Vergangenheit, entweder natur- oder sozialwissenschaftlich arbeiten müssen. Das heißt aber nicht, dass sich die Geographie nicht als institutioneller Ort innerhalb des Wissenschaftsbetriebs, an dem Brücken zwischen den großen disziplinären Lagern der Natur- und der Sozialwissenschaften geschlagen werden, einen Namen machen könnte. Nur: diese Brücken werden weniger theoretischkonzeptioneller Art, sondern eher praktischer Natur sein. Insofern würde ich Ihnen ein Stück weit widersprechen: Ich denke, wenn es der Geographie gelingt, eine führende Rolle in der Organisation des Austauschs zwischen denjenigen, die Umweltveränderungen mit naturwissenschaftlichen Methoden untersuchen – zu denen ich übrigens auch jene zählen würde, die in ihre Modelle einen anthropogenen Faktor mit einbauen –, und denjenigen, die gesellschaftliche Relevanzen, Diskurse und Muster der Ressourcennutzung untersuchen, hat sie schon ziemlich viel erreicht. Und dies ist eben, jenseits aller theoretischen Debatten, zunächst einmal eine sehr praktische und an praktischen Problemstellungen zu bewältigende Herausforderung.

geographische revue: Ist in diesem Zusammenhang nicht auch an das zu erinnern, was Hard 1973 in Anlehnung an Stegmüller geschrieben hat: Dass nämlich die Basis aller Irrtümer solcher problematischen Gegenstandsbeschreibungen darin zu suchen ist, dass der Erkenntnisprozess nicht als eine zweigliedrige Relation aufzufassen ist (S erkennt A), sondern, dass A immer als etwas erkannt wird (S erkennt A als B)? Eine Schichtstufe z. B. als geomorphologische Formation ist eben nicht als ein Gegenstand ‘an sich’, sondern ‘für uns’ aufzufassen, d. h. er ist zunächst für den Forscher mit seinen Fragen und auch seinen gesellschaftlichen Bezügen da, und dann z. B. auch als ein Phänomen, das Touristen ästhetisch anspricht und den Fremdenverkehr beeinflusst, zu begreifen?

Henning Nuissl: Ob Hard zuzustimmen ist oder nicht, hängt von der gewählten erkenntnistheoretischen Position ab. Ich persönlich teile seine Position – was angesichts meiner sozialwissenschaftlichen Prägung freilich nicht allzu sehr überraschen dürfte. Ich frage mich allerdings, wie viel damit für den Austausch zwischen den Disziplinen gewonnen ist. Die Einsicht, dass es sich bei unseren Erkenntnisgegenständen um Konstruktionen handelt – die man wiederum entweder als soziale oder, ganz platonisch, als individuelle begreifen kann – ist ja so alt wie die idealistische Philosophie. Und dieser Einsicht wird wohl auch jede einigermaßen reflektierte Naturwissenschaftlerin zustimmen können und ab und an vielleicht sogar darüber nachdenken, ‘was’ sie da eigentlich untersucht. Nur: im Forschungsalltag muss sie ihren Gegenstand als real, als ‘an sich’ gegeben voraussetzen, um in ihrer Disziplin wissenschaftliche Fortschritte zu erzielen. Und dass dieses Vorgehen ziemlich erfolgversprechend ist, das haben die Naturwissenschaften insbesondere mit den aus ihren Erkenntnissen hervorgegangenen technischen Anwendungen in den letzten paar Jahrhunderten ja durchaus eindrucksvoll bewiesen – da macht auch die Erforschung geomorphologischer Formationen keine Ausnahme.

geographische revue: Als besondere Form der Gesellschaft-Umwelt-Forschung befürwortet der Geograph Peter Weichhart ein „Drei-Säulen-Modell“ (Säule 1: Natur/Umwelt-Forschung; Säule 2: Mensch/Gesellschaft-Forschung). Das Besondere des geographischen Blicks ist dabei nicht eine spezifische Form der Betrachtung, sondern es wird ein eigenständiges Erkenntnisobjekt konstituiert: die Gesellschaft-Umwelt-Interaktion (Säule 3). Zentrales Erkenntnisziel einer so verstandenen Mensch-Umwelt-Forschung ist der Zusammenhang von „Sinn und Materie“. Sind das nicht die alten geographischen kosmologischen Fantasien, vor denen im Fach schon sehr früh Gerhard Hard gewarnt hat? Teilen Sie die Auffassung, dass die Erforschung eines  Sinn-Materie-Zusammenhangs ein möglicher Gegenstand einer empirischen Wissenschaft ist? Inwiefern kann es sich hier überhaupt um ein sinnvolles Forschungsprogramm handeln?

Henning Nuissl: Meines Erachtens weist Weichharts Ansatz durchaus in eine sinnvolle programmatische Richtung – und zwar aus zwei ziemlich pragmatischen Gründen: Zum einen stehen – bei aller Berechtigung der Kritik am allfälligen ‘Klimahype’ – die globalen Umweltprobleme nicht rein zufällig ganz oben auf der umwelt- und auch der wissenschaftspolitischen Agenda. Vielmehr wird immer deutlicher, dass wir ein ‘echtes’ Problem mit der Art und Weise unseres Umgangs mit den Ressourcen dieser Welt haben. Die Frage nach den Umweltbezügen menschlichen Handelns – das ja, frei nach Max Weber gesprochen, qua definitionem einen Sinn hat, den es zu verstehen gilt – ist daher hoch relevant. Und naturwissenschaftliche Diagnosen zum Zustand der Umwelt müssen ebenso wie naturwissenschaftlich untermauerte Appelle an unser individuelles und politisches Handeln zu den Umweltbezügen unseres Handelns in Beziehung gesetzt werden, sofern die Wissenschaft überhaupt einen Beitrag zur Lösung virulenter Umweltprobleme leisten will. Hierzu gibt Weichhart wichtige Anstöße, indem er grundlegende Argumente der Gesellschaft-Umwelt-Debatte auf den Punkt bringt und diesen damit – hoffentlich – zur weiteren Anerkennung in den gegenwärtigen Debatten um globalen Wandel und globale Umweltveränderungen verhilft. Denn letztere sind ja vielfach von einem anhaltend essentialistischen – um nicht zu sagen: undifferenzierten – Verständnis der scheinbar natürlichen Umwelt geprägt. Der andere Grund, warum ich Weichharts Ansatz für sinnvoll halte, ist schlicht ein  disziplinenpolitischer: er markiert den Anspruch der Geographie, zur Lösung drängender Probleme sowohl konzeptionell als auch praktisch etwas beitragen zu können. Auch er scheint mir allerdings nicht wirklich ‘zwischen’ den Welten der Naturwissenschaften einerseits und der Geistes- und Sozialwissenschaften andererseits zu stehen – und wenn ich ihn richtig verstehe, beansprucht er das auch gar nicht, sondern anerkennt, dass in beiden Wissenschaftswelten in grundsätzlich unterschiedlicher Weise auf die Welt zugegriffen wird. In diesem Sinne gehören auch Weichharts Ausführungen zur dritten seiner drei Säulen meines Erachtens ganz in eine der beiden Welten, nämlich in die sozialwissenschaftliche: denn während der Begriff der Materie auch in dieser Welt ‘sinnvoll’ und – aus einer nicht radikal konstruktivistischen Perspektive – sogar notwendig ist, kommen die Naturwissenschaften sehr gut ohne das Konzept des Sinns aus. Sinnzusammenhänge lassen sich nun einmal nur jenseits der Naturwissenschaften und mit anderen Methoden als den dort verwendeten untersuchen.

geographische revue: Damit wäre aber das Problem der Interdisziplinarität noch nicht gelöst. Wenn etwa die Naturwissenschaften ihren Forschungsgegenstand als die Realität betrachten und z. B. die Soziologen es bei ihrem ebenso machen, wer leistet dann die Arbeit, die jeweiligen Perspektiven auf einen Begriff zu bringen und damit überhaupt kommunizierbar zu machen? Wäre das nicht eine Aufgabe für die Geographie?

Henning Nuissl: Ich würde Ihre Frage durchaus bejahen. Die Geographie scheint mir auch heute noch prädestiniert dafür zu sein, die Kommunikation zwischen den Wissenschaftswelten zu befördern – dies gerade aufgrund ihrer langen, mit einem gewissen Hang zur  Selbstzerfleischung einhergehenden Erfahrung mit dem Auseinanderdriften von ‘Physio-’ und ‘Anthropo-’, aber auch weil die meisten Absolventinnen und Absolventen geographischer Studiengänge noch immer über eine zumindest vage Vorstellung von den unterschiedlichen Wissenschaftskulturen, Sprachspielen und Theoremen in den Teilbereichen ihrer Disziplin verfügen. Von der Hoffnung, die Dinge auf ‘einen’ Begriff zu bringen, würde ich mich in diesem  Zusammenhang allerdings verabschieden – das erscheint mir kaum möglich. Stattdessen ist schon sehr viel gewonnen, wenn die Vertreterinnen und Vertreter unterschiedlicher Disziplinen in groben Zügen verstehen, und das heißt in ihre eigenen Denkzusammenhänge einordnen können, wovon bei den ‘anderen’ jeweils die Rede ist. Solch ein gegenseitiges Verständnis kann meines Erachtens am ehesten dann erwachsen, wenn von der Disziplin praktische, wie immer gesellschaftlich definierte Problemstellungen aufgegriffen werden, zu
deren Lösung es sowohl natur- als auch sozialwissenschaftlicher Expertise bedarf, wie es bei den meisten Umweltproblemen ja ganz offensichtlich der Fall ist.

geographische revue: Die diesbezüglich eingesetzten Erkenntnisfilter sind bekanntlich Disziplinen, Theorien, Erkenntnisinteressen, historische, kulturelle und soziale Situationen etc. Hilft es da weiter, aus der Mensch-Umwelt-Interaktion ein eigenständiges Erkenntnisobjekt zu machen? Kann uns dieser Gegenstand etwas von sich aus ‘sagen’ – und wenn ja –, wie ist er zu begreifen, welche Fragen wirft er auf, welche Probleme verbinden sich mit ihm?

Henning Nuissl: Gestatten Sie mir zunächst den Hinweis, dass ich anstelle von Interaktion hier lieber etwas vorsichtiger von der Beziehung oder den wechselseitigen Bezügen zwischen Mensch und Umwelt sprechen würde. Zum Interagieren gehören meines Erachtens immer zwei Agenten mit eigenem Handlungsantrieb bzw. der Fähigkeit zu sinnhaftem Handeln. Nun aber zu Ihrer Frage – die verlangt wohl nach einer ausführlicheren Diskussion über theoretische Prämissen und Perspektiven, die den Rahmen unserer Unterhaltung sicherlich sprengen würde. Daher nur so viel: Auch ich bin ein wenig skeptisch, ob sich die Beziehung zwischen Sinn und Materie – oder eben etwas weniger ambitioniert gesprochen: zwischen Mensch und Umwelt – tatsächlich als eigenständiges Forschungsobjekt konstituieren lässt. Dagegen spricht, dass der konzeptionelle Zugriff auf drängende Umweltfragen wohl immer entweder vom Menschen – bzw. von der Frage nach dessen Zugriff auf die Welt – oder vom Materiellen – bzw. von der Frage nach den anthropogenen Bestimmungsfaktoren von Umweltphänomenen – her erfolgen muss und nie beide Perspektiven zugleich einnehmen kann. Vielleicht weist aber die empirische Forschung in der von Weichhart definierten dritten Säule hier tatsächlich auch einen dritten, von mir noch nicht in aller Deutlichkeit erkannten Weg. Was ich aber auf jeden Fall sagen würde, ist, dass wir es hier unabhängig von der jeweils eingenommenen Perspektive mit einer spannenden  Forschungsfrage zu tun haben, zu der die Geographie viel beitragen kann – und dies obwohl, was in den aktuellen Diskussionen in meiner Wahrnehmung meist vergessen wird, auch in anderen Sozialwissenschaften schon allerhand Erhellendes zur Mensch-Umwelt-Beziehung vorgedacht wurde. Spontan fallen mir zum Beispiel zwei Arbeiten aus den siebziger Jahren ein, die eine von Hans Linde, die andere von Elisabeth Konau, die beide versuchen, die weitgehende Ignoranz gegenüber materiellen bzw. räumlichen Sachverhalten in der Soziologie und der soziologischen Handlungstheorie zu überwinden.

geographische revue: Bleiben wir beim Letzteren: Welche Fragen, welche Probleme sehen Sie gegenwärtig als zentral in Bezug auf die Gesellschaft-Umwelt-Forschung an, und zwar zunächst in theoretischer Perspektive, dann auch in empirischer Hinsicht und schließlich vielleicht auch in praktischer Absicht?

Henning Nuissl: Zu den theoretischen Herausforderungen für die Gesellschaft-Umwelt-Forschung haben Sie mir ja mit Ihren Verweisen auf Hard und Weichhart bereits das ein oder andere entlockt. Ich fange daher von hinten, d. h. bei den praktischen Herausforderungen an – die bieten, wie gesagt, meines Erachtens auch den vielversprechenderen Ansatzpunkt für eine disziplinenübergreifende Kommunikation. Die Sorge um die natürliche Umwelt findet derzeit ja breite öffentliche Resonanz – man ist geneigt zu sagen: endlich, nachdem sie lange Zeit ja lediglich ‘notorische Gutmenschen, Bedenkenträger und Spaßbremsen’ umtrieb. Damit rückt ein reiches wissenschaftliches Betätigungsfeld ins Blickfeld, das es selbstverständlich schon immer gab und das auch bislang nicht zuletzt von Geographinnen und Geographen beackert wurde: Es geht erstens darum, etablierte Praktiken der  gesellschaftlichen Nutzung von Umweltressourcen – z. B. im Bereich der Landnutzung, der Mobilität oder der Rohstoffgewinnung – zu hinterfragen und dann zweitens zu überlegen, wie sie sich in die gewünschte – ‘umweltschonendere’ – Richtung verändern lassen. Das sind praktische Fragen, die sich meines Erachtens nur auf der Basis empirischer Forschung klären lassen. Spätestens für die Beantwortung des zweiten Teils der Frage, nämlich wie sich Muster verändern lassen, ist es dann aber auch erforderlich, zu verstehen, welche Rationalitäten dem gesellschaftlichen Zugriff auf die Umwelt zugrunde liegen. In diesem Zusammenhang halte ich es übrigens häufig für nicht allzu zielführend, derlei Rationalitäten auf individuelle Präferenzen zu reduzieren, die sich dann in modellstrategisch leicht verarbeitbare Nutzen-Kosten-Kalkulationen übersetzen lassen. Die wohl größte Herausforderung in der anwendungsorientierten Untersuchung des gesellschaftlichen Zugriffs auf die Umwelt besteht insofern vielleicht darin, in der Analyse von Handlungsmotivationen und -vollzügen das jeweils angemessene Maß der Komplexitätsreduktion zu finden.

geographische revue: Um zum Schluss noch einmal auf die Ausgangsfrage zurückzukommen: Sehen Sie diese Aufgaben als Gegenstand einer interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Natur- und Sozialwissenschaftlern an oder könnte solcherart Forschung auch Gegenstand einer integrativen (oder „Brücken“-)Disziplin – vielleicht nicht notwendigerweise der Geographie! – sein?

Henning Nuissl: Beides! Denn die beiden von Ihnen angesprochenen Wege zur Integration schließen einander ja keineswegs aus. Eine Brückendisziplin zu sein heißt für mich zu allererst Brücken zu ‘schlagen’ – sprich: zwischen den Vertretern der unterschiedlichen geographischen Teildisziplinen wie auch der Nachbarwissenschaften, an die sich diese Teildisziplinen weit angenähert haben, Übersetzungsleistungen zu erbringen und Kommunikation zu ermöglichen. Der Anspruch, Brücken zu ‘bauen’, d. h. Konzepte oder gar ganze Theorien zu formulieren, die sowohl ein eigenständiges Fundament haben als auch auf beiden Seiten anschlussfähig sind, scheint mir hingegen kaum einlösbar zu sein. Ich lasse mich da aber auch gern eines Besseren belehren. Nur: Würde das nicht – dies als meine abschließende Gegenfrage, da ich Sie bereits Ihre Unterlagen zuklappen sehe – letztlich bedeuten, dass es der Geographie gelänge, die spätestens mit Anbruch der Neuzeit verlorengegangene Einheit der Wissenschaft wiederherzustellen? Das wäre eine ziemlich hohe Erwartung an eine Disziplin, die buchstäblich mit beiden Beinen auf der Erde steht.

Das Interview führte Jörg Becker.