Wissenschaft, Öffentlichkeit, Wissenschaftskommunikation

In der im Oktober 2009 erschienenen geographischen revue geht es um die problematische Beziehung von Wissenschaft und Öffentlichkeit und um Wissenschaftskommunikation.
Wir veröffentlichen hier Auszüge aus zwei Aufsätzen, die ermuntern sollen, die vorgetragenen Argumente aufzugreifen und zu diskutieren.

Macht und Kontrolle in der Wissenschaftskommunikation

Die wichtigsten Funktionen wissenschaftlicher Journale sind nicht mit der Förderung der Wissenschaftskommunikation, sondern mit ihrer Kontrolle verbunden. Hardliner unter Verlegern, Herausgebern, Evaluatoren behaupten: Referierte Journalaufsätze seien die einzige für die Bewertung wissenschaftlicher Leistungen relevante Literatursorte, und die einzig legitime Quelle bei Erstellung von Lehrbüchern. Die Garantie für die Qualitätskontrolle wissenschaftlicher Journale sei das "Peer-Review-System".
Doch ein einheitliches Prüfsystem gibt es nicht. Zu unterschiedlich sind die Prozeduren. Bei seriellen Verfahren ziehen die Journalherausgeber zu Beginn einen einzigen Gutachter bei. Stimmt dieser zu, wird das Manuskript gedruckt. Lehnt er ab, wird ein weiterer Gutachter beauftragt. Bei parallelen Verfahren konsultieren die Herausgeber von Beginn an zwei bis vier Gutachter zugleich. Diskrepante Voten führen meist zur Abweisung des Manuskripts, ansonsten zur Rücksendung zwecks Überarbeitung - dabei gilt die Faustregel: je mehr Gutachter, umso eher Diskrepanzen und Ablehnungen.
Variieren kann der Grad bewusster Informationsvorenthaltung zwischen den Beteiligten. Beim am häufigsten praktizierten Einfachblindverfahren wissen die Einreicher nicht, wer sie begutachtet. Bei Doppelblindverfahren wird auch den Gutachtern die Identität der Autorinnen vorzuenthalten versucht. Bei Dreifachblindverfahren sollte auch den Herausgebern die Identität der Autoren verborgen bleiben. Bei der "Zeitschrift für Soziologie" sollen so auch Manuskripte von Starautoren abgelehnt worden sein - als zu unverständlich und inhaltsleer.
Die geschilderten Probleme des Refereesystems lassen eine Reform dringend angeraten erscheinen. Die folgenden, stichwortartig vorgestellten Vorschläge könnten als Elemente einer solchen Reform dienen:
1. Transparenz der Herausgeberpraxis. Vielfach werden angebliche Gutachterurteile bloß als Ausrede vorgeschoben.
2. Beschleunigung der Kommunikation zwischen Autoren, Redaktionen, Referees via Internet.
3. Zufällige Zuteilung der Gutachter, d. h. systematische Ausschöpfung des gesamten Gutachterpools.
4. Dreifachblindbegutachtung: auch Herausgebern sollte die Identität der Autoren vorenthalten werden.
5. Mitteilung sämtlicher Gutachten und Stellungnahmen in voller Länge und Berufungsrecht der Einreicher. Richtigstellung eindeutiger Fehler und Missverständnisse der Gutachter als Standard.
6. Nach erfolgreich absolviertem Verfahren Offenlegung aller Äußerungen auf einem Server, damit die gesamte "scientific community" davon profitieren kann.
7. Anrechnung der Gutachtertexte als Publikationen, ein Motivationsschub für die bislang im Verborgenen Wirkenden.
8. Systematische Förderung von Herausgeber- und Gutachterkompetenzen. Die kritischen Befunde der Peer-Review-Forschung sollten zu Reformen führen. Schulungen in professioneller Datenbanknutzung und informationswissenschaftlichen Methoden.
9. Abkehr von der veralteten Papierform der Publikationen und deren völlige Umstellung auf digitalisierte Kommunikation. Freier Zugriff für Datenbanken, Suchmaschinen und Prüfprogramme ("Open Access", vgl. Fröhlich 2009b).

Textauszug aus: Gerhard Fröhlich 2009: Die Kontrolle der Wissenschaftskommunikation. Peer Review-Praktiken auf dem Prüfstand. In: geographische revue 2/2009 S. 58-63



Weiterführende Literatur des Verfassers:
2008, Gerhard Fröhlich, Wissenschaftskommunikation und ihre Dysfunktionen: Wissenschaftsjournale, Peer Review, Impact Faktoren, in: Holger Hettwer et al. (Hg.): WissensWelten. Gütersloh: Verlag der Bertelsmann Stiftung, ISBN 978-3-89204-914-2, 64-80
(leider (noch) nicht open access)
Gerhard Fröhlich, Anonyme Kritik. Peer Review auf dem Prüfstand der empirisch-theoretischen Wissenschaftsforschung, in: Pipp, E. (Hg.), Drehscheibe E-Mitteleuropa. Wien: Phoibos Verlag, 2002, 129-146.
http://eprints.rclis.org/archive/00008499/
(ausführlichere Darstellung der verschiedenen Forschungsdesigns in der Peer-Review-Forschung und deren Ergebnisse)
Gerhard Fröhlich, "Informed Peer Review" - Ausgleich der Fehler und Verzerrungen? In: HRK (Hochschulrektorenkonferenz), Hg., Von der Qualitätssicherung der Lehre zur Qualitätsentwicklung als Prinzip der Hochschulsteuerung. Bonn 2006, 193-204
http://eprints.rclis.org/archive/00008493/
(Kritik des "Informed Peer Review" (Kombination Peer Review-Szientometrie)
Gerhard Fröhlich, Plagiate und unethische Autorenschaften. Information: Wissenschaft & Praxis 57 (2) 2006, 81- 89
http://www.b-i-t-online.de/daten/iwp-06-02-auszug.pdf, kostenfreier Volltext des Verlags oder
http://eprints.rclis.org/archive/00006014/
(Das Versagen der Peer-Review-Verfahren bei Plagiat, Betrug und Täuschung; Missbrauch der Referee-Position)
Gerhard Fröhlich, Die Wissenschaftstheorie fordert OPEN ACCESS. Information: Wissenschaft & Praxis 60 (5) 2009b, 253-258
http://www.b-i-t-online.de/pdf/IWP2009-5.pdf
Gerhard Fröhlich, Editorial: Open Access. Information: Wissenschaft & Praxis 60 (5) 2009a, 249
http://www.b-i-t-online.de/pdf/IWP2009-5.pdf
(Erhöhung der intersubjektiven Überprüfbarkeit und der Kritik der 'einfachen' LeserInnen, d.h. Förderung kritischer Wissenschaftsöffentlichkeit, zur verstärkten Aufdeckung der von gängigen Peer-Review-Verfahren übersehenen Fehler, Plagiate, Betrugs- und Täuschungspraktiken)




Öffentlichkeitsarbeit als Rechenschaftspflicht

Prinzipiell, so meine These, lassen sich die konkreten Selektionsentscheidungen der Massenmedien mit den traditionellen Mitteln der Pressearbeit nicht entscheidend beeinflussen. Dafür fehlt es an jeglicher Evidenz. Dies ist nicht als ein Plädoyer misszuverstehen, auf Pressearbeit zu verzichten, im Gegenteil. Pressearbeit ist eine Art conditio sine qua non für öffentliche Aufmerksamkeit, d.h., ohne Pressearbeit ist massenmediale Rekonstruktion von Wissenschaft unter den gegenwärtigen Bedingungen gar nicht denkbar. Dies darf man aber nicht fehldeuten in dem Sinne, dass Auswahlentscheidungen der Massenmedien durch die Art und Weise beeinflussbar wären, wie man Wissenschaft im Einzelfall verkauft. Stattdessen ist es ein Plädoyer dafür, die auf die Massenmedien gerichteten Anstrengungen zu rationalisieren in dem Sinne, dass man diese von den irrationalen Erwartungen großer Resonanzerzeugung entlastet und sie stattdessen vornehmlich rationalisiert und legitimiert als Pflicht der Universitäten und Forschungsinstitutionen, der Öffentlichkeit Rechenschaft abzulegen über das eigene Tun.
Dieses Plädoyer kann im Hinblick auf die Quantität massenmedialer Thematisierung von Wissenschaft weiter gestützt werden durch Beobachtungen, die bislang fast vollständig außerhalb des Blickfeldes wissenschaftlicher Popularisierungsbemühungen sind. Diese richten sich auf Determinanten von Medienselektionen, die deutlicher erkennbar weit jenseits dessen liegen, was sich mit Mitteln traditioneller Pressearbeit beeinflussen lässt. Dazu zählen Spezifika des Mediensystems innerhalb eines Landes, das direkt Einfluss gewinnt auf die Wahrscheinlichkeit der Wissenschaftsthematisierung. Es ist unlängst gezeigt worden, dass Wissenschaft im Radio und im Fernsehen die Domäne der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ist, und zwar nicht nur in Deutschland, sondern überall in Europa (Lehmkuhl et al. 2009). In einem Mediensystem, dass von privaten Rundfunkanbietern dominiert wird und zusätzlich einen eher unterfinanzierten öffentlich-rechtlichen Rundfunksektor hat (Griechenland, Spanien, Osteuropa), hat Wissenschaft weit geringere Chancen, von Massenmedien populär aufbereitet zu werden, ganz gleich, wie groß die Anstrengungen seitens der Wissenschaft auch sein mögen. Deutschland verfügt im europäischen Vergleich über die weitaus meisten Sendeplätze für Wissenschaft, weil der öffentlich-rechtliche Rundfunk vergleichsweise gut finanziert ist und dank vieler Kanäle über reichlich Sendeplatz verfügt. Schwer zu rationalisieren sind deshalb Bemühungen der DFG, eine Art eigenen Fernsehsender im Internet zu etablieren. (...)
Die Öffentlichkeitsarbeit der Wissenschaft weist beträchtliche Rationalitätsdefizite auf. Sie hat Schwierigkeiten, die eigenen, auf die Öffentlichkeit gerichteten Aktivitäten hinreichend zu plausibilisieren. Außerdem reflektiert sie zu wenig über negative Nebenfolgen eigener Popularisierungsbemühungen. Es ist zum Beispiel völlig unbekannt, wie das Publikum auf werbende Botschaften der Wissenschaft reagiert, von der sie derlei Eigenwerbung nicht erwartet.

Textauszug aus: Markus Lehmkuhl 2009: Öffentlichkeitsarbeit der Wissenschaft und Ihre Rationalität. In: geographische revue 2/2009 S. 22-26


Vom Autor empfohlene weiterführende Links:
Wissenschaft in Hörfunk und Fernsehen in Europa (www.fu-berlin.de/avsa)
Wissenschaftsfernsehen der DFG (http://www.dfg-science-tv.de/)
Aktuelle Reflexionen zum Wissenschaftsjournalismus in Deutschland (zuletzt Schwerpunkt "Popularisierung der Paläowissenschaften") im wpk-quarterly. (http://www.wpk.org/de/quarterly/index.php)