Werlen, Benno: Sozialgeographie. Eine Einführung. Bern, Stuttgart, Wien 2000. 400 S.

Es war nur eine Frage der Zeit, bis Benno Werlen, dem die deutschsprachige Geographie eine äußerst konstruktive Befruchtung der theoretischen Diskussion zur wissenschaftlichen Begründung des Faches verdankt und der mit seinen Veröffentlichungen zur Sozialgeographie, zur Gesellschaft und zum Raum die Szene der Deutschen Geographie nachhaltig belebt, auch ein Lehrbuch zur Sozialgeographie vorlegen würde.

Nun hat er es getan! In der UTB - Reihe "Für Wissenschaft" des Verlages Paul Haupt legt Benno Werlen sein neuestes Werk vor: "Sozialgeographie. Eine Einführung". Das 400 Seiten umfassende Werk in Kleinoktavausgabe umfasst zwölf Kapitel, die von einem Vorwort, der Literatur und einem Glossar eingerahmt werden. Dem Vorwort ist die klare Zielsetzung des Werkes zu entnehmen, an der auch die Kritik das Gelingen des Unternehmens zu messen hat: Das Buch beabsichtigt, dem geneigten Leser einen Einstieg in die Entwicklungsgeschichte der Sozialgeographie zu bieten und will den aktuellen Forschungsstand der Sozialgeographie darstellen. Als methodische Basis verweist der Autor auf seine langjährige akademische Unterrichtspraxis an den Universitäten Zürich, Salzburg und Jena. Das Schwergewicht des Buches ist somit - wie auch anderen Anmerkungen zu entnehmen ist - die didaktische Darstellung der deutschsprachigen Sozialgeographie des 20. Jahrhunderts.
Zunächst sei es gestattet, gerade weil es sich um ein schwerpunktmäßig unter didaktischen Gesichtspunkten gestaltetes Werk handelt, auf Aufbau, Gliederung und Struktur des Buches einzugehen, um danach die Aussagen der einzelnen Kapitel anzusprechen sowie abschließend auf die besonderen gestalterischen und didaktischen Elemente der Publikation einzugehen. Die inhaltliche Konzeption der Sozialgeographie von B. Werlen bleibt daher im Hintergrund.
Die strukturelle Gestaltung des Buches überrascht und beeindruckt gleichzeitig. Benno Werlen ist es gelungen, für sein Buch einen Aufbau zu wählen, der inhaltlich äußerst knapp gehalten und deswegen leicht erfassbar ist, aber dennoch nicht die Komplexität der Sache reduziert. Die Arbeit gliedert sich in zwölf Kapitel, die sich bei entsprechender Leseart in vier übergeordnete Abschnitte zusammenfassen lassen.
In den ersten drei Kapiteln wird die Kernidee der Sozialgeographie erläutert und die Sozialgeographie als Wissenschaft des Alltags sowie des Ausdrucks der Moderne begründet. Dem Leser wird dabei der Grundgedanke der Sozialgeographie, die alltägliche Rückbindung der Sozialgeographie mit der Lebenswelt als auch die Notwendigkeit sozialgeographischer Erkenntnis im Zeitalter aufgeklärten Denkens und sich selbst suchender gesellschaftlicher Ordnung vermittelt. Bereits auf den ersten Seiten wird deutlich, dass die neue Sozialgeographie, die Sozialgeographie, für die B. Werlen steht, auf das Subjekt Mensch und auf die subjektive Wahrnehmung des Menschen abzielt. Im zweiten Abschnitt, der die Kapitel 4 und 5 umfasst, gelingt es dem Verfasser trotz der verschiedenen und manchmal etwas unklaren Überschriften Entwicklungsaspekte, Denkansätze und Diskussionen in der französischen, angelsächsischen, holländischen    und skandinavischen Denktradition aufzuzeigen. Weiterhin werden die Entwicklungslinien der deutschsprachigen Rezeption dieser Denkansätze von Mitte des 19. Jahrhunderts bis Ende des 20. Jahrhunderts auf 31 Seiten, allerdings unter Fokussierung auf F. Ratzel und A. Hettner ausgebreitet. In den Kapiteln 6 bis 9 skizziert der Autor deutschsprachige sozialgeographische Konzeptionen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die in hohem Maße an Einzelpersonen festgemacht werden. Dabei scheint es, als wolle der Verfasser die Ikonen der deutschen Sozialgeographie definieren: H. Bobek, W. Hartke, K. Ruppert und F. Schaffer sowie D. Bartels. Nach Lektüre der entsprechenden Seiten lassen sich die Konzeptionen aus der Sicht des Autors möglicherweise wie folgt zusammenfassen: H. Bobek entwirft mit seiner Landschaftsforschung einen möglichen Zugang zu einer umfassenden Geographie des Menschen, manövriert aber aufgrund seiner methodologisch-kategorialen Ausrichtung die Sozialgeographie in einen Randbereich der sozialen Wirklichkeit. Der Sozialgeograph W. Hartke erfindet das Geographie-Machen und rückt den Menschen weiter in den Mittelpunkt empirischer Analyse. K. Ruppert und F. Schaffer denken die deutsche Sozialgeographie weiter, führen sie zwar in eine theoretische Sackgasse, aber zu einer neuen praktischen Anwendung. Das theoretische Fundament für diese Anwendungsorientierung liefert der Mann, der den Weg zur Handlungsorientierung der Sozialgeographie weist: D. Bartels. Allerdings gelingt es ihm weder - W. Christaller hatte sich darin schon versucht - die räumliche Organisation der Landschaft noch die raumbezogene Organisation der Gesellschaft mit Hilfe von Gesetzen, die den Naturwissenschaften nachgeahmt sind, zu erklären. Damit ist die Entwicklung der deutschen Sozialgeographie vorerst am Ende und B. Werlen beginnt mit dem Kapitel 10 "Gesellschaft - ein räumliches Mosaik" wieder in der Mitte des 19. Jahrhunderts und fährt im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts mit dem Anliegen der Sozialökologie der Chicago School of Sociology fort. Im Kapitel 11 "Umweltwahrnehmung" thematisiert der Autor vor allem die methodologische "kognitive Wende" in der Sozialgeographie. Die beiden Kapitel dienen nochmals dazu wichtige Etappen der Sozialwissenschaft, die auf die Personen E. Park und K. Lynch fokussiert und mit zahlreichen deutschsprachigen Rezeptionen angereichert werden, nachzuzeichnen und die Argumentation für die Sozialgeographie Werlens vorzubereiten. Im letzten Kapitel legt B. Werlen seine bekannte Vorstellung von "Gesellschaft, Handlung und Raum" sowie seine Konzeption und seine Forschungsbereiche der Sozialgeographien des Alltags dar.
Quer zu dieser Struktur finden sich im Text biographische Skizzen und photographische Portraits der - aus der Perspektive des Autors - wichtigsten Forscher. Dabei wird dem Leser deutlich, dass die Geographie eine männlich dominierte Wissenschaft ist. Jedes Kapitel schließt mit "Merkpunkten" und Hinweisen auf "Weiterführende Literatur" ab. Die "Merkpunkte" können als gute Ansatzpunkte zu Rezeption der Inhalte für Studierende dienen und sind damit didaktisch sicherlich wertvoll. Allerdings beinhalten sie die Gefahr der verzerrenden Reduktion der darzustellenden Sachverhalte. Die genannte weiterführende Literatur führt bei verschiedenen Kapiteln leider nicht weiter, d.?h. über die bereits dargestellten Sachverhalte und schon genannten Literaturzitate hinaus, sondern auf diese zurück. Sie sollte deshalb nicht als weiterführende, sondern als vertiefende Literatur verstanden werden. In den Kapiteln 6 bis 12, die sich mit scheinbar klar definierten Wissenschaftskonzeptionen befassen, ist vor dem Ende jedes Kapitels eine kritische Diskussion zu den vorher vorgestellten Konzeptionen eingeschaltet. Die Darstellung der Gegenargumente macht die Konzeptionen besser verständlich und die Bemühungen der weiteren Forschung transparent. Eine gelungene Strategie, den wissenschaftlichen Diskurs voranzutreiben und Argumente nicht zu verschleiern, sondern offen zu legen.
Wie in nahezu allen wissenschaftlichen Publikationen schließt das Verzeichnis der verwendeten Literatur die Arbeit ab. Sicherlich ist eine begrenzte Nennung von Literatur in einem Lehrbuch wichtig! Dennoch hätte eine stärkere Einbeziehung soziologischer, anthropologischer und ethnologischer Literatur dem Verzeichnis nicht geschadet. Ebenfalls sucht man die sozialgeographischen Publikationen der Geographinnen und Geographen, die sich mit außereuropäischen Ländern und mit der Entwicklungsproblematik beschäftigen, vergeblich. Die zitierte Literatur sollte für den studierenden Leser gut erreichbar sein: die starke Orientierung auf Schweizer Publikationen mag ja noch nachvollziehbar sein, aber die häufige Nennung nicht veröffentlichter Arbeiten in einem Lehrbuch ist aus didaktischen Gesichtspunkten fraglich.
Auf den letzten 22 Seiten werden in Form eines Glossars wichtige sozialgeographische und sozialwissenschaftliche Begriffe, die zum Verständnis der Sozialgeographie unabdingbar notwendig erscheinen, erläutert. Ein Glossar ist eine gute und wichtige Sache. Die Formulierungen sind gut verständlich, aber leider wurde auf informative Zitate aus Originaltexten gänzlich verzichtet. Dadurch wirken die Ausführungen oftmals etwas handgestrickt und sie sind nur bedingt kompatibel mit der Wissenschaftssprache der Nachbardisziplinen.
Unabhängig von den kritischen Anmerkungen halte ich das Lehrbuch von B. Werlen für die weitere Diskussion im Rahmen der Sozialgeographie und für den Einsatz in der akademischen Lehre derzeit für unverzichtbar, denn es könnte, nein, es ist ein weiterer Baustein auf den Weg in eine differenzierte, reflexive Sozialgeographie, die den Menschen, sein Handeln, seine Wahrnehmungen und seine Vorstellungen in den Mittelpunkt rückt. Die Darstellung disziplingeschichtlicher Aspekte der Geographie und die Skizze der Sozialgeographie von B. Werlen ist dem Autor gelungen.
Autor: Anton Escher

Quelle: Geographische Zeitschrift, 89. Jahrgang, 2001, Heft 4, Seite 251-252