Benno Werlen (Hg.): Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen. Band 3: Ausgangspunkte und Befunde empirischer Forschung. Stuttgart 2007 (Erdkundliches Wissen 121). 336 S.

Nach zwei theoretischen Bänden befasst sich der dritte von Benno Werlens Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen mit "Ausgangspunkte(n) und Befunde(n) empirischer  Forschung". Unter diesem Leitmotiv wurden elf Aufsätze verschiedener Autoren gesammelt, denen ein Vorwort und eine Einleitung von Werlen (S. 7-16) vorangestellt sind.
Die Erdung eines theoretischen Ansatzes an die Praxis ist immer mit gewissen Problemen verbunden, muss sie doch zwischen dem Neuen, Entankernden eines innovativen Theoriekonzepts und dem als Anwendung in der Disziplintradition verankerten Kanon einen Kompromiss suchen, eine Brücke bauen. Werlen hatte die handlungstheoretische Geographie auf jenen Brückenbau vorbereitet.

Der immanente Dualismus von wissenschaftlichem und alltäglichem Geographie-Machen, in das man alles übrige Geographische ablegen konnte, wartete nur darauf, zugunsten des letzteren ausgespielt zu werden. "Die wichtigste praktische Aufgabe der wissenschaftlichen Untersuchung alltäglicher Regionalisierungen besteht somit in der Rekonstruktion der verschiedenen Formen alltäglicher Regionalisierungen und ihrer Beziehungen" heißt es in Werlens Einleitung auf S. 12. Einerseits klingt dies nach Philosophie - explizit soll Aufklärung geleistet werden. Andererseits schimmert das Ansinnen durch, mit Kategorien der akademischen Malerei über die naive zu befinden.
Die elf Aufsätze lavieren zwischen beidem. Alltägliches Geographie-Machen wird dem Normalbürger unterstellt, wenn er ein Grundstück mit einem Häuschen besetzt und im Garten landschaftet. Ein knappes Drittel des Buches ist dem Wohnen - nicht dem Mietwohnen - und seinem Umfeld gewidmet. Odermatt und van Wezemael setzen damit zu einer "handlungstheoretischen Konzeptualisierung und empirischen Umsetzung ... der geographischen Wohnforschung" an (S. 17-46). Monzel gibt "sozialgeographische Hinweise" zu einer "kinderfreundlichen Wohnumfeldgestaltung (S. 109-133). Hermann und Leuthold lesen aus Wohnvierteln "Weltanschauung und ungeplante Regionalisierung" ab (S. 213-249).
Ein weiteres Drittel des Buches haben regionale Identität, Regionalismus, Heimat und Regionalmarketing zum Thema. Schlottmann, Felgenhauer, Mihm, Lenk und Schmidt untersuchen den Slogan "Wir sind Mitteldeutschland!" und fragen, wie er unter raum-zeitlich entankerten Bedingungen bei der Bevölkerung ankommt (S. 297-336). Eine Teilmenge jenes Mitteldeutschlands wird ebenfalls über einen Slogan erschlossen. "Ich bin Thüringer ... und was isst Du?" wiederholt Felgenhauer die Frage des Thüringen-Marketings (S. 47-67) und untersucht, wie "Konsum als herkunftsorientierte Qualitätserwartung" beflügelt werden kann. Richner nimmt die Betroffenheit der Luzerner Bevölkerung über den Brand der hölzernen Kapellbrücke zum Anlass, um nach symbolistischer Aufladung über die "Geographie eines sakralisierten Ortes" nachzudenken (S. 271-295). Schwyn zeichnet die Argumentation zur regionalistisch getragenen Abspaltung des französischsprachigen Jura vom Kanton Bern nach (S. 185-211).
Das letzte Drittel des Bandes befasst sich mit Ausländern, Problemen anderer Randgruppen und der Dritten Welt. Arber zeigt am Beispiel von Zürich, wie die Boulevardpresse die Drogenszene am Platzspitz und im Letten verteufelt (S. 251-270). Giger demaskiert einige Aspekte der offiziellen Ausländerpolitik der Schweiz (S. 165-184). Reutlinger untersucht den Aktionsraum von Jugendlichen in La Coruña (S. 135-163). Schlottmann kritisiert die Organisation eines Agroforstprojekts in Tansania (S. 69-108).
Von den elf Aufsätzen befassen sich sieben mit Themen aus der Schweiz, so dass man das Buch auch als selektive Sozialgeographie dieses Landes lesen kann.
Alle Arbeiten ordnen sich in ihren Einleitungen und Schlusskapiteln der handlungstheoretischen Sozialgeographie nach Werlen zu. Bisweilen wirkt das etwas gewollt. Die Arbeiten über Thüringen, Mitteldeutschland und Luzern enthalten starke perzeptionsgeographische Elemente. Andere stehen dem handlungstheoretischen Konzept bedeutend näher und finden zu interessanter Kritik des Bestehenden. Giger schließt seine Argumentation zum politisch teilweise gescheiterten Modell des Bundesrates über die drei Kulturkreise: "Die angestrebte Abwendung von rassistischen Denkmustern wird, nicht zuletzt aufgrund mangelnder ontologischer und theoretischer Klarheit, im Rahmen der eigenen (des Bundesrates, H. K.) Argumentation auf geradezu paradoxe Weise unterlaufen ... Jede verräumlichte Form von Kulturkreisen führt, gerade unter globalisierten Bedingungen, zu prekären politischen Praktiken" (Giger, S. 182). Es wäre spannend, dieses sehr überzeugende Statement auch auf geographische Praktiken (etwa der neuen Kulturgeographie) zu beziehen. Schwyn kommt in der Verallgemeinerung seiner Studie über den jurassischen Regionalismus zu einem ähnlichen Befund: "Der Rückgriff auf ethnische, kulturelle, regionale oder nationale Werte kann sich zu einem Rückzug, zu einer eigentlichen Abkapselung entwickeln, und es besteht die Gefahr, in das Ausschließen des Anderen abzugleiten, in ‚ethnische Säuberung', Rassismus und Gewalt ... Oft genug stehen die demokratisch legitimierbaren Lösungsansätze aktueller Regionalismen im Schatten der demagogischen Stoßrichtung - ein Gefahrenpotential, das nicht unterschätzt werden darf" (Schwyn, S. 207, 208).
Hermanns und Leutholds Arbeit über "Weltanschauung und ungeplante Regionalisierung" nimmt eine gewisse Sonderstellung in dem Buch ein, enthält sie doch von allen Aufsätzen den größten theoretischen Input. Mit "ungeplanten Regionalisierungen" sind räumliche Effekte und Prozesse gemeint, hinter denen keine direkte Absicht eines raumplanenden Subjekts steht. Beispiele sind räumliche Segregation oder die Belebung/das Abhängen einer Region durch Umlenkung von Trassen oder Verkehren. Ähnlich wie in der ökonomischen Marktentwicklung wird eine "unsichtbare Hand" hinter solchen Prozessen gesehen (vgl. Hermann/Leuthold, S. 224). Sie führe zu "regionalisierter Weltanschauung". Ein stark vereinfachtes zweidimensionales Koordinatenmodell von "liberal" nach "konservativ" und von "links" nach "rechts" (vgl. Hermann/Leuthold, S. 230, 231) wird den Ergebnissen von 172 Schweizer Volksbefragungen unterlegt. Dazu kommt ein in krasser Weise simplifiziertes Modell geographischer Zentralität. "Orte großer Zentralität rangieren vor anderen, da sie spezifische Funktionen erfüllen und Leistungen erbringen, die in anderen nicht erbracht werden. Sekundär sind allerdings auch in regionalen Hierarchien soziale enthalten, denn der Anteil der Menschen, die über ein großes Kapitalvolumen verfügen, ist in den Zentren größer als in der Peripherie" (vgl. Hermann/Leuthold, S. 240, 241). Die Autoren lassen sich nicht dadurch beirren, dass dieses Statement nicht passt, zumindest nicht auf die peripheren, multizentralen Strukturen in der Nordost-Schweiz oder im Tessin. Die Argumentation endet mit: "Das zweite wichtige Prinzip der weltanschaulichen Regionalisierung ist die Anpassung der eigenen kognitiven Interpretationsschemata an das lokale Milieu. Idealtypisch kommt dieses Prinzip bei Stammtischgesprächen in Dorfkneipen zum Ausdruck, wo die verschiedenen Interpretationsschemata der Dorfbewohner vorgebracht, getestet und abgestimmt werden. Insbesondere in ländlichen Regionen, wo eine starke lokale Gemeinschaft mit Institutionen wie Kneipen, Plätzen und Vereinen besteht, wird über den lokalen, räumlichen Bezug eine mentale Gemeinschaft generiert und reproduziert" (Hermann/Leuthold, S. 246). Soweit waren Geo- und Milieu-Determinismus der alten Geographie schon vor fast einem Jahrhundert gekommen. Dazu hätte es keiner Handlungstheorie bedurft. Nicht das alltägliche Geographie-Machen, auch das wissenschaftliche müsste hier genauer beleuchtet werden.
Auf der theoretischen Ebene sollte dem Geographie-Machen und der so erzeugten Selektivität die ganz andere Selektivität der Dechiffrierung solcher Geographien gegenübergestellt werden. Das hieße: räumliche Abstraktion auf der Produzenten- und räumliche Orientierung auf der Adressatenseite. In nicht alltäglich-geographischer Diktion klingt das folgendermaßen: "Für die alltägliche Praxis wäre zu untersuchen, welche kognitiven und sprachlichen Transformationen nötig wären, um das naturalistische, essentialistische Verständnis von Raum zu überwinden und kontingent bzw. verhandelbar zu gestalten. Für die Planungspraxis ist zu untersuchen, wie unter den Bedingungen einer fortlaufend territorial organisierten administrativen Wirklichkeit eine Operationalisierung von nicht-essentiellen, kontingenten Raumverständnissen (Clusterbildung, Milieuentwicklung etc.) erfolgen kann, und welche Implikationen daraus hinsichtlich der Organisier- und Strukturierbarkeit komplexer gesellschaftlicher Zusammenhänge resultieren würden" (Schlottmann/Felgenhauer/Mihm/Lenk/Schmidt, S. 334) Aber möglicherweise war in diesem Zitat auch etwas völlig anderes gemeint. Die Deutung bleibt offen, denn es handelt sich um die beiden letzten Sätze des Buches.
Autor: Helmut Klüter

Quelle: Geographische Zeitschrift, 96. Jahrgang, 2008, Heft 1 u. 2, Seite 119-121