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Kategorie: Rezensionen

Ilhan Kizilhan: "Ehrenmorde". Der unmögliche Versuch einer Erklärung. Hintergründe - Analysen - Fallbeispiele. Berlin 2006. 143 S.

Das Thema "Ehrenmorde" bleibt ein ständiger Dauerbrenner in den Schlagzeilen der Medien in Europa, aber auch in anderen Regionen der Welt. Neben den Naturkatastrophen, regionalen Konflikten und Bürgerkriegen und dem Terrorismus gehören die Ehrenmorde zu den globalen gesellschaftlichen Problemen, bei deren Definition, Ursachen und Lösungen sich die Geister scheiden. Genau dieses komplexen Themas hat sich der kurdische Psychologe Ilhan Kizilhan in seiner oben genannten Forschungsarbeit angenommen.

Die wissenschaftlich-theoretisch fundierte und zugleich praxisbezogene Untersuchung beschränkt sich auf ganze kurz gefasste 6 Kapitel, deren Inhalt und Resümees jedoch dem Umfang eines Sammelwerkes bzw. Lexikons entsprechen. Bemerkenswert ist auch der geglückte Versuch, die Ehrenmorde auf einer interdisziplinären Ebene zu betrachten und zu analysieren, auch wenn Kizilhan seine Forschungsarbeit mit "Der unmögliche Versuch" untertitelt hat. Hinzu kommen die präzise Sprache und der gut strukturierte Aufbau der Forschungsarbeit, die dem Werk von Kizilhan eine zusätzliche Bedeutung verleihen. Insofern ist es für "jedermann" leicht zu lesen und zu verstehen, auch wenn das Werk dadurch seinen Anspruch, einen wissenschaftlichen Beitrag zum Verständnis und zur Lösung der Ehrenmorde zu leisten, keinesfalls verliert.
Als Einstieg in die Thematik dient die historisch determinierte Erklärung der Ehrenmorde im 1. Kapitel, in dessen Mittelpunkt zwei Aspekte stehen. Kizilhan schildert zum einen analytisch die Entstehung und Fortentwicklung des Islams in Bezug auf seine ordnungs- und gesellschaftspolitischen Werte, darunter auch die Ehre. Zum anderen geht er auf frühere natürliche Umwelt- und gesellschaftliche Bedingungen der Völker im Nahen Osten ein, welche die Kultur und das soziale Leben besonders geprägt haben. Auch wenn der Autor bei seinen Darstellungen den Leser zunächst in einen wissenschaftlichen "Zeittunnel" führt, stellt er jedoch den aktuellen Bezug derart her, dass der Leser bei dem jeweiligen Thema, ob es in der Vergangenheit oder in der Gegenwart von Relevanz war, die zeitliche Dimension während des Lesens gedanklich automatisch wechselt.
Im 2. Kapitel widmet sich Kizilhan der Analyse der gesellschaftlichen und familiären Strukturen der orientalischen Gesellschaften, die einen wesentlichen Einfluss auf das Individuum und die Institution "Ehe" ausgeübt haben und immer noch haben. So vermittelt er dem Leser, welchem Prozess der Verinnerlichung der gesellschaftlichen Wertvorstellungen und Sachzwänge die einzelnen Mitglieder der "Solidargruppen" unterworfen sind. Ein weiterer Aspekt bezieht sich auf das traditionelle, selbst geschaffene Rechtssystem der patriarchalischen Gesellschaften mit eigenen Regeln und Sanktionen, denen sich das Individuum freiwillig oder gezwungenermaßen zu fügen hat. Diese Art der Sozialisation kann für den Einzelnen verheerende Folgen haben, wenn er schließlich mit seinen Pflichten wie z. B. Schutz der Ehre und dessen Ausführung, sprich dem Ehrenmord, konfrontiert wird.
Das 3. Kapitel gibt einen theoretischen Einstieg in die beiden komplizierten Themenbereiche "Gewalt" und "Aggression", die nicht nur unter psychologischen Gesichtspunkten, sondern auch unter Einbeziehung der sozialen Komponenten bzw. des gesellschaftlichen Umfeldes behandelt werden. Interessanterweise nimmt Kizilhan in einem Exkurs Bezug auf zeitgenössische Kriege und deren Auswirkungen auf die Rechtfertigung und Verbreitung der Gewaltanwendung.
Ehrenmorde werden, insbesondere in Europa, sofort mit dem islamischen Glauben in Verbindung gebracht. Die Hauptthese von Kizilhan im 4. Kapitel ist, dass die Begriffe "Ehrverletzung" und "Ehrenmorde" über die religiösen Motive hinausgehende Hintergründe (gesellschaftliche und individuelle Wertvorstellungen über Sexualität und Ehre) haben und ein universales Problem darstellen. Dadurch wird jedoch der besondere Stellenwert des islamisch-religiösen Glaubens bei dem familiären und gesellschaftlichen Zwang zur Begehung der Ehrenmorde nicht relativiert bzw. bestritten. Der Autor versucht lediglich das Zusammenwirken mehrerer Einflussfaktoren in Bezug auf die Ehrenmorde darzulegen. Daher stellt er auch einen Zusammenhang zwischen der Ehre, deren Schutz und den gesellschaftlichen Eigentumsverhältnissen her.
Anhand einiger Fallbeispiele geht Kizilhan im 5. Kapitel der Frage nach, welchen Stellenwert die Ehre in verschiedenen Organisationsstrukturen wie politischen bzw. religiösen oder politisch-ethnischen einnimmt. Die Situation der Opfer von politisch motivierter Sexualgewalt, wie dies politisch aktiven Kurdinnen in der Türkei widerfahren ist, wird überzeugend dargelegt.
Eines der Hauptziele der Untersuchung kommt im 6. Kapitel unter der Überschrift "Perspektiven" zum Tragen, in deren Mittelpunkt die Lösungen des Konfliktes stehen, worunter die Ehrenmorde und die damit verbundenen Folgen subsumiert werden. Kizilhan sieht die Notwendigkeit der Bewältigung des Problems in zwei konzeptionellen Vorgehensweisen, die er als "Modell der Übergangsphase" und "Das Zusammenleben nach demokratischen Spielregeln" nennt. Die richtige Wahrnehmung und Behandlung des Problems und dessen Vermittlung durch Experten stellt in der Übergangsphase den ersten Lösungsschritt dar, dem weitere Aspekte wie die friedliche Austragung der Konflikte in der Familie, die Gleichberechtigung der Geschlechter und die auf die Lösung der Konflikte gerichtete Haltung einer übergeordneten Instanz (zivile oder politische Organisationen) folgen. Das Zusammenleben nach demokratischen Gepflogenheiten und die Toleranz in pluralistischen bzw. multikulturellen Gesellschaften stellen nach den Argumenten von Kizilhan überzeugende Instrumente dar, um die Ehrenmorde im speziellen und die anderen Konflikte im allgemeinen in den "Griff" zu bekommen.
Dank der Herangehensweise an die Thematik und des Inhalts ist das Werk von Kizilhan neben den Experten und Betroffenen auch für einen größeren Personenkreis (Strafrechtler, Politiker, Menschenrechtler und Lehrer usw.) von besonderem Nutzen. Als Kritikpunkt bleibt zum einen festzuhalten, dass bei manchen im historischem Kontext dargelegten Ausführungen die Beispiele mit aktuellem Bezug irritieren; zum anderen hält sich der kurdischstämmige Forscher Kizilhan hinsichtlich seiner Analysen und Kommentare bei den Ehrenmorden in der kurdischen Gesellschaft zurück, obwohl seine persönlichen Erfahrungen und Eindrücke sowie sein gesellschaftliches Umfeld hierzu ein ausreichendes Forschungspotenzial bieten.
Nebi Kesen

Quelle: Peripherie, 28. Jahrgang, 2008, Heft 111, S. 382-384