Hanns Wienold: Leben und Sterben auf dem Lande. Kleinbauern in Indien und Brasilien. Münster 2007. 218 S.

Nicht erst die spekulativen Preissteigerungen für Grundnahrungsmittel haben zu einer Wiederentdeckung der Landwirtschaft in der globalen Wirtschafts-, Entwicklungs- und Sozialpolitik geführt (siehe PERIPHERIE 107, September 2007). Trotz gegenteiliger Versprechungen und Ankündigungen, etwa im Weltentwicklungsbericht 2008 der Weltbank, ist es aber durchaus zweifelhaft, ob davon auch die kleinbäuerliche Landwirtschaft profitieren wird. Es gibt berechtigte Befürchtungen, dass sie weltweit verschwinden wird, genauso, wie die Kleinbetriebe in Europa, oder lediglich in Öko- und anderen Nischen überleben kann. Der britische Historiker Eric Hobsbawm etwa hat als das entscheidende "Modernisierungs"-Ereignis des 20. Jahrhunderts den weltweiten Tod der Bauernschaft ausgemacht (The Age of Extremes, 1994). Ähnlich prognostizierte bereits in den 1970er Jahren Ernest Feder (The Peasant, in: Latin American Research Review 13:3, 1978), dass die Bauern quasi naturgesetzlich als eine eigene "Spezies" durch die Globalisierung nahezu "ausgerottet" werden würden.

Der Titel des Buches von Hanns Wienold nimmt einerseits diese These der "Ausrottung" auf, stellt ihr aber auch das Phänomen an die Seite, dass die kleinbäuerliche Landwirtschaft keineswegs verschwindet. Trotz düsterer Prognosen besitzt sie nach wie vor erhebliches Gewicht und wächst sogar, selbst unter widrigsten Umständen. Die acht Beiträge speisen sich gleichermaßen aus wissenschaftlicher Analyse wie entwicklungspraktischer Erfahrung. Sie werden zusammengehalten durch eine ausführliche Einleitung und einen - weniger ausführlichen - Schluss, die einordnen, was auf den ersten Blick durchaus disparat erscheint - Indien und Brasilien, zwei Länder, die wenig Gemeinsamkeiten zu haben scheinen, heilige Kühe, Selbstmorde von Bauern und Abholzung im Amazonasgebiet - um nur einige der Stichworte zu nennen.
So zeigt das Kapitel "Requiem für heilige Kühe" Konstruktion und Konflikte der indischen Kastengesellschaft, veranschaulicht aber auch die hinter der Verehrung der Rinder stehende Gleichzeitigkeit von Ausgrenzung und repressiver Einbindung der 'Unterkasten', die häufig die Landlosen und Landarbeiter/Landarbeiterinnen sind. Die Agrarreformen haben diesen 'Unterkasten' zumindest in einigen Landesteilen Spielräume für eine Umwandlung in Kleinbauern oder in ein Semi-Proletariat, sprich: in eine Kombination von Landwirtschaft und Lohnarbeit eröffnet, eine Existenzweise, die für Wienold ein durchgängiges Prinzip in den Ländern des Südens ist: "Der Form nach sind sie hauptsächlich Bauern oder besser 'moderne Farmer', dem Inhalt nach nicht viel mehr als 'verkleidete' Arbeiter, formell selbständige Arbeiter, deren Erträge in den Taschen der Banken, professionellen Geldverleiher, Händler und Aufkäufer verschwinden" (16). Am Beispiel der Suizid-Wellen in den Baumwollregionen von Andhra Pradesh und Maharashtra und der ökonomischen und sozialen Veränderungen seit der Öffnung Indiens gegenüber den Weltmärkten seit Beginn der 1990er Jahre arbeitet er die dadurch bedingten - und schier unentrinnbaren - prekären Überlebensbedingungen heraus, denen die Kleinbauern, die sich auf den Weg der kommerziellen Landwirtschaft eingelassen haben, unterliegen. Zwei weitere 'indische' Kapitel zeigen am Beispiel der Bergregion Changar zum einen die Genese der heutigen Kleinbauern und ihre Abhängigkeit von Lohnarbeit, etwa als MigrantInnen in den Städten, und gehen der Frage nach den Möglichkeiten und Bedingungen einer "nachhaltigen Entwicklung" einer Region mit knappen Ressourcen und prekärem ökologischen Gleichgewicht nach.
Die vier Kapitel über Kleinbauern in Brasilien stehen im Zeichen der "konservativen Modernisierung", die zu einer Umwandlung der Latifundien in kapitalistische Agrarunternehmen mit extensiver Bewirtschaftung des Landes geführt hat. Im zyklischen Prozess der Agrarexpansion und Landnahme, der gegenwärtig die Wälder Amazoniens erfasst, entstehen immer aufs Neue kleinbäuerliche Existenzen, die ebenso regelmäßig der nachrückenden "Agrarfront" der kapitalistischen, für den Weltmarkt produzierenden Betriebe und damit der Landnahme, Inwertsetzung und Gewalt, der sich insbesondere das sechste Kapital widmet, weichen müssen. Spielräume durch die Land- und Agrarreform, nicht zuletzt vorangetrieben durch die Landlosenbewegung, führten zwar zur Entstehung von hundert tausenden neuen kleinbäuerlichen Betrieben(Minifundien), doch ist es "bisher nur in begrenztem Umfang gelungen, an die Stelle der Minifundien und semi-proletarischen Haushalte neue Formen kollektiver Produktion und kollektiven Wirtschaftens zu setzen" (19). Ein wesentlicher Faktor bei der Expansion der kommerziellen Landwirtschaft und der zyklischen Verdrängung kleinbäuerlicher Existenzen ist die Verwandlung öffentlichen Landes in eine private, handelbare Ware, ein Prozess einer "fortgesetzten ursprünglichen Akkumulation durch Enteignung", der kleine Produzenten, Landarbeiter und ihre Nachkommen in einem Abgrund "unfreier Arbeit" festhält.
Materialreich und anschaulich, auch emphatisch, gelingt es Wienold, in der Heterogenität der verschiedenen Beispiele die Existenz von Kleinbauern "auf der Scheidelinie zwischen bäuerlicher Produktions- und Lebensweise und der gefährlichen/gefährdeten Freiheit von Lohnarbeitern und Lohnarbeiterinnen" (178) als Teil einer im Prinzip globalen, fl exibel nutzbaren Arbeiterschaft, indirekt subsumiert unter das Kapital, zu veranschaulichen. Er erklärt damit den Widerspruch, dass sie einerseits "überflüssig" sind, andererseits weiter existieren, wenn auch meist nur als fungible Masse im Verwertungsprozess. Er demontiert damit zum einen die Vorstellungen einer "Subsistenzwirtschaft" als politisch-utopischer Fluchtpunkt; zum anderen zeigt er die enormen Schwierigkeiten, politischen und wirtschaftlichen Widerstände und Machtverhältnisse auf, die den Weg zu einer solidarischen ländlichen Ökonomie behindern, die die vereinzelten und abhängigen Existenzen auffangen und stärken könnte. Als wesentlichen Beitrag dazu, die Vereinzelung und den "bäuerlichen Individualismus" zu überwinden, sieht er die gemeinsamen Kämpfe um die Erhaltung der Grundlagen für eine auf organischen Prinzipien beruhende Landwirtschaft - die Verteidigung ökologisch intakter Räume, den Erhalt der Wälder und der Flüsse gegen Staudammprojekte, Monokulturen und genetisch veränderte Anbauprodukte. Die Aufsatzsammlung trägt damit zur aktuellen Debatte über das scheinbar aus den Fugen geratene globale Agrarsystem bei. Wienold lenkt den Blick auf die Gefährdung der verbliebenen Nischen kleinbäuerlicher Landwirtschaft durch die Verlängerung der "Wertschöpfungsketten" in der ländlichen Produktion - und setzt seine Hoffnungen auf die existenten Beispiele von Überlebensmöglichkeiten, neuen Produktions- und Lebensformen, Widerstand und solidarischem Neubeginn.
Uwe Hoering

Quelle: Peripherie, 28. Jahrgang, 2008, Heft 112, S. 495-497