María do Mar Castro Varela: Unzeitgemäße Utopien. Migrantinnen zwischen Selbsterfindung und Gelehrter Hoffnung. Bielefeld 2007. 304 S.

"Die Utopikerin visioniert Orte, die anders als der Ort sind, an dem sie lebt, während sich die Migrantin auf den Weg macht, eben diese Orte zu finden." (38) Somit ist die "Migrantin die materielle Utopikerin". (38) María do Mar Castro Varela hat in ihrer Dissertationsarbeit einen interessanten Bogen zwischen Utopie und Migration aufgespannt. In einem gelungenen theoretischen Einleitungsteil verbindet sie eine an Ernst Bloch und Michel Foucault orientierte Utopiediskussion , die sie an Hand der Konzepte von "Selbsterfindung" (66f) und "gelehrter Hoffnung" (61f) engführt, mit einer an postkolonialen Ansätzen orientierten Raumdiskussion, die Konzepte wie third spaces, Borderlands, Grenze, und Heterotopie umfasst.

Anders als die Utopien (Nicht-Orte) werden Heterotopien in Anschluss an Foucault gerade als "wirkliche und wirkmächtige Orte" (58) verstanden, in denen unter anderem Abweichungen die Regel sind (232) und Inkommensurables miteinander vereint ist (230).
Mit dem Hinweis darauf, dass bereits Thomas Morus "Utopia" als imaginären "Dritten Raum" zwischen Alter und Neuer Welt konzipierte, versucht die Autorin in postkolonialer Manier, Utopie in die Nähe von Konzepten wie Anzaldúas "borderlands" oder Bhabhas "third space" zu rücken. Mit einem derartigen Utopie-Konzept macht sich Varela Castro nun daran, die Visionen von Migrantinnen herauszuarbeiten; dabei ist es ein Ziel, den anti-utopischen Diskurs zu überschreiten sowie Migrantinnen weder zu viktimisieren (98) noch zu heroisieren.
Damit die Visionen der Migrantinnen hörbar werden, greift Varela Castro auf die Methode der Gruppendiskussion zurück. Um die Autorität der Wissenschaftlerin zu bannen, werden die "Texte nicht klassisch interpretiert, sondern [sie] als Impuls für kritische Interventionen verstanden" (119). Problematisch ist dabei jedoch, dass es ein Ungleichgewicht zwischen Interviewfragmenten und den postkolonialen theoretischen Ausführungen gibt, so dass Empirie und Theorie nicht recht zusammenfinden. Auffällig und auch von der Autorin in einem Exkurs reflektiert sind die Gesprächsunterbrechungen durch Gelächter der Diskutierenden. Castro Varela führt die Häufigkeit des Lachens zwar einerseits auf die gute Interviewatmosphäre zurück, andererseits reflektiert sie dies an Hand der Figur des Narren, der unter Gelächter die Wahrheit sagen und den Finger in die Wunde legen kann. Bei genauer Durchsicht der Interviewfragmente scheint mir diese Funktion des Lachens jedoch kaum bedient zu sein; oft ist es in der Tat ein gruppen-stabilisierendes Lachen, das auf Konsens hindeutet, aber eben auch die Narration abbricht. Auch das wir-destabilisiernde Lachen unterbricht die Narration, sofern sich die Erzählerin nicht über diese Unterbrechung hinwegsetzt. Bei der Häufigkeit des Lachens und der bereits aus den Fragmenten hervorgehenden Abbrüche der Narration stellt sich die Frage, ob nicht die Methode der Gruppendiskussion in der hier vorliegenden Konstellation eher behinderte und die - wenn auch kursorische - Selbstreflexionen, auf die es ja gerade bei den utopischen Visionen ankäme, unterbrach.
Im Sinne der Engführung auf die Fragestellung von Utopie und Migration ist nicht ganz nachzuvollziehen, warum sich Varela Castro im empirischen Teil auf Migrantinnen der zweiten Generation konzentriert, also auf eine Generation, die nun gerade nicht Utopien im Sinne des Aufbruchs hatten. Und so schreibt sie denn auch später: "Deutschland gilt den diskutierenden Migrantinnen eher als das utopische Land der Eltern" (212). So kommt in den ausgewerteten Interviewpassagen eher auch ein gewisses Fehlen von Utopien zu Ausdruck, das den eingangs stark gemachten theoretischen Link zwischen Utopie und Migration relativiert. Statt um weitergehende Utopien handelt es sich oftmals eher um persönliche Ziele, wobei von den kollektiv getragenen Vorstellungen noch am ehesten Visionen von Anerkennung, Toleranz und die Ablehnung identitärer Zuschreibungen als utopisch angesehen werden können.
Die Forderung nach Anerkennung entspricht nun gerade der Selbstwahrnehmung als "doppelte Fremde" (211), das heißt Fremdheitserfahrungen sowohl in den Herkunftsland ihrer Eltern als auch in dem jetzigen Aufenthaltsland. Diese doppelte Fremdheitserfahrung stellt Castro Varela allzu postmodernoptimistischen Konzepten wie einer elite- orientierten Fassung von "Hybridität" (211) oder aber auch den "Borderlands" entgegen, denn bei beiden Konzepten wird eine Art "intermixture" (211) vorausgesetzt die letztlich Neues, Drittes entstehen lässt, was dem Erfahrungshorizont der hier diskutierenden Migrantinnen nicht entspricht. Statt dessen geht es ihnen vielmehr um eine permanente "Kunst der Selbsterfindung", die sich in einer Vielzahl von Räumen vollzieht und die mit diversen Grenzüberschreitungen verbunden ist.
In diesem Sinne arbeitet Varela Castro immanente Strategien der Migrantinnen der zweiten Generation heraus, etwa die Dissimilation, bei der die Subjekte in Form einer Maskerade Stereotype übernehmen, um diese subversiv zu unterlaufen. Es geht also um diese "Selbsterfindungen" und Politiken der Verortung, die - so meine ich - allerdings nicht als "utopische Visionen" bezeichnet werden können. Damit stellt sich die Frage, ob es sinnvoll ist, Anerkennungs- und Teilhabekämpfe (Wahlrecht, doppelte Staatsbürgerschaft, soziale Anerkennung) im Utopie-Konzept zu erfassen, um dann noch ihre mögliche Durchsetzung in einem Vulnerabilitäts-Schema einzufangen.
Utopien blitzen dabei am ehesten in Momenten des Alltagshandelns auf. Wichtigere Räume sind dagegen Heterotopien als existierende Orte, an denen Gegensätzliches wie "Religiosität und offen gelebte Homosexualität" (230) koexistieren, oder erträumte Räume, aber auch durch Rechtsextremismus geprägte "dystopische Schreckensräume" (236). Es ist insbesondere die Verbindung von Politiken der Verortung mit postkolonialen Raumkonzepten, die gekonnt mit Alltagspraktiken der Migrantinnen der zweiten Generation in Beziehung gesetzt werden, die diese Arbeit lesenswert macht.
Olaf Kaltmeier

Quelle: Peripherie, 28. Jahrgang, 2008, Heft 112, S. 523-524