Tilo Felgenhauer: Geographie als Argument. Eine Untersuchung regionalisierender Begründungspraxis am Beispiel "Mitteldeutschland". Stuttgart 2007 (Sozialgeographische Bibliothek 9). 246 S.

Im Mittelpunkt der trefflich betitelten Arbeit von Tilo Felgenhauer steht die Konstitution von Raum durch sprachliche Praktiken. Konkret nimmt Felgenhauer  den Redaktionsprozess der Sendereihe "Geschichte Mitteldeutschlands" des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR) hinsichtlich der dort kommunizierten Bedeutungsgehalte des Begriffes "Mitteldeutschland" in den Blick. Dabei geht es ihm um nichts weniger als darum, "mittels eines sprachbezogenen Vokabulars eine Erklärung für eine räumliche Entität namens "Mitteldeutschland" zu liefern, die auf substantialistische Prämissen verzichtet und stattdessen eine Beschreibung des Gebrauchs und eine Erklärung des semantischen Gehalts des Toponyms "Mitteldeutschland" anstrebt" (S. 8). Dies muss Lesenden zunächst als explizite Offenlegung des Erkenntnisinteresses genügen, findet sich in der Arbeit leider keine ausführliche Darstellung der zugrunde liegenden Forschungsfragen, die vielmehr implizit in den einzelnen Kapiteln aufgeworfen werden.

Das Vorhaben Felgenhauer s benötigt zunächst ein theoretisches Fundament, das es ermöglicht, sprachliches Handeln als regionalisierende Praxis zu verstehen und zu analysieren. Im Rahmen einer Bestandsaufnahme zur Sprachorientierung innerhalb der Sozialgeographie seziert der Autor deshalb zunächst sehr ausführlich, welche der existierenden Ansätze, die Sprache für raumbezogene Forschung nutzbar machen, für den Zweck seiner Arbeit geeignet sind. "Unterwegs" zu Benno Werlens Sozialgeographie der alltäglichen Regionalisierung kommt der Autor an der "neuen Kulturgeographie und politischen Geographie" (S. 17) nicht vorbei und charakterisiert sie als "wonderfully suggestive but radically undevelopped" (S. 17). Verweist die wenig gängige Bezeichnung "neue und politische Geographie" auf ein (frühes) Verständnis des paradigmatischen Projektes der Neuen Kulturgeographie jenseits der mittlerweile zahlreichen theoretischen und empirischen Arbeiten, so scheint die Kritik Felgenhauers daran ebenso "vereinfacht": ein "bloßes Konstatieren von Differenzen als postmoderne Position", das "zu einem theoretischen Pazifismus" führe und die Möglichkeiten der Praxiskritik behindere (S. 20). Für die Untersuchung von Alltagssprache und deren "rationaler Feinstruktur" (S. 22) erscheinen dem Autor die Ansätze einer Neuen Kulturgeographie - ihrer deutlichen Sprachorientierung zum Trotz - nicht zielführend zu sein. Für wesentlich geeigneter hält der Autor das Werlensche Konzept der Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen, dessen zwei Seiten er herausarbeitet: eine hermeneutische Seite, das Verstehen alltäglichen, kommunikativen Handelns verbunden mit der Aufklärung der handelnden Subjekte über ihre eigene Weltbezüge, und eine kritisch-rationale Seite, die Idee des kritischen Zweifels gegenüber der Selbstsicht der Subjekte. Die notwendige Erweiterung des Konzeptes um eine sozio-linguistische Dimension, die die "innere Struktur, die Anatomie des Symbolischen" (S. 36) in den Blick nimmt, stellt das Konzept der signifikativen Regionalisierung von Antje Schlottmann zur Verfügung. Derart theoretisch ausgerüstet ist der Autor sicher, "dass sich sowohl für die interpretativen Implikationen in Werlens Forschungsprogramm als auch für die kritisch-rationalen Aspekte seiner Theorie, in Form der philosophischen Hermeneutik einerseits und der argumentations-orientierten Sprachphilosophie andererseits, methodische Entsprechungen finden lassen." (S. 34f.). Dass dem so ist, weist Felgenhauer  in der anschließenden, sehr ausführlichen und kritischen Diskussion von Hermeneutik, qualitativer Forschung und dem Entwurf einer sprachzentrierten Sozialgeographie nach. Im Hin- und Herwogen der jeweiligen "Fürs" und "Widers" wird den Lesenden einiges an Seefestigkeit sowie die Fähigkeit, das eigentliche Ziel im Auge zu behalten, abverlangt.
Im Anschluss an diese Klärungen begründet Felgenhauer die kritisch-rationale Komponente seines Ansatzes. Er macht deutlich, dass die Idee der sprachlichen Rationalität für die Praxis des Verstehens wie auch für die Explizierung des impliziten Gehalts von Sprache wichtig ist. Im Bezug auf die Habermasschen Grundlagen zu sprachlicher und kommunikativer Vernunft wird hier ein Vernunftbegriff zugrunde gelegt, der - als Alternative zum Vernunftbegriff technokratischer Orientierung - konsequent in Begriffen sprachlichen Handelns gedacht wird. Rationalität sei dann nicht mehr Mittel der Argumentationsbewertung (Was ist ein guter Grund?) - so der Autor -, sondern eine Erklärung für das, was Menschen sagen und tun (Was wird hier als guter Grund behandelt?). Als entsprechende Konzepte sprachlicher Rationalität stellt der Autor die Argumentationstheorie von Stephen Toulmin und den Inferentialismus von Robert Brandom, der die soziale Situiertheit argumentativer Praxis in den Blick nimmt, vor. Denn: "Wer weiß, was als guter Grund für eine Behauptung über einen Ort oder eine Region taugt, kann auch eine ganze Menge über das gemeinsame alltagsgeographische Wissen derer erfahren, die an der Praxis des Gebens und Verlangens von Gründen teilnehmen." (S. 5).
Derart theoretisch und methodisch gerüstet zieht Felgenhauer nun ins empirische Feld. Im Anschluss an die explorative Phase (teilnehmende Beachtung mit dem Ziel der Kontaktaufnahme zur MDR-Redaktion und Identiikation von Verantwortlichkeiten und Interviewpartnern) soll die explikative Phase der Datengewinnung (Interview- und Dokumentenanalyse) Informationen zum raumbezogenen Vokabular des Textmaterials erbringen. Analyse"objekte" der explikativen Phase sind neben Interviews mit elf Personen des Reaktionsumfeldes der Sendereihe "Geschichte Mitteldeutschlands" die Sitzungsprotokolle des begleitenden Kuratoriums, Broschüren und Begleitmaterial zur Serie. Im Gegensatz zur ausführlichen Darstellung der theoretischen Fundierung lässt Felgenhauers Darstellung seiner empirischen Umsetzung einige Informationen vermissen. So bleibt beispielsweise im Dunkeln, welche Broschüren, welches Begleitmaterial und welche Kuratoriumssitzungen letztendlich analysiert wurden. Eine Dokumentenübersicht im Anhang weist zwar verwendete Dokumente bzw. eine Auswahl nach, bietet jedoch in dieser Frage auch keine konkrete Antwort; dies wird auch in der Präsentation der Ergebnisse nicht expliziert. Ebenso wenig wird nachvollziehbar dargestellt, weshalb die Unterschiedlichkeit dieser Textgattungen, die sich gerade in ihrer sozialen Situiertheit und den sich daraus möglicherweise ergebenden unterschiedlichen Argumentationsstrukturen zeigt, für deren Auswertung nicht relevant ist. Ähnlich verhält es sich mit den Hintergrundinformationen zur Sendereihe "Geschichte Mitteldeutschlands", die in ihrer Knappheit zwar einige Fragen beantworten, jedoch auch eine Menge Fragen aufwerfen, die auch im weiteren Verlauf der Arbeit nicht beantwortet werden.
Eine Vielzahl von Informationen, Beispielen und Antworten jedoch erhalten Lesende in der sehr anschaulichen Ergebnispräsentation, die sich der Erschließung des semantischen Gehalts "Mitteldeutschlands" zunächst hermeneutisch nähert. Dabei werden signifikative Regionalisierungen expliziter Art im Sinne ausdrücklicher Bedeutungszuschreibungen ("Mitteldeutschland" ist ...) und impliziter Art im Sinne unhinterfragter Hintergründe sprachlicher Bezugnahmen auf räumlich gedachte Phänomene (z.B. "hier im Mutterland der Reformation") unterschieden. Letztere schließen - so das Ergebnis - an den Metaphernbegriff der kognitiven Linguistik an. So finden sich beispielsweise die Container-Metapher (z.B. "eine Region voller Geschichten"), Personifizierungen (z.B. "das Gedächtnis Mitteldeutschlands") oder Naturalisierungen des Räumlichen (z.B. "hier sind unsere Wurzeln") im untersuchten Textmaterial. Nach dieser Behandlung der Frage, "wann explizit von ‚Mitteldeutschland' gesprochen wird und wann dessen Existenz vorausgesetzt wird" (S. 165), geht es im nächsten Schritt darum, anhand der Argumentationsanalyse zu untersuchen, "wie diese Sprechweisen zusammenhängen, wie sie möglicherweise gegenseitige Stützungen herstellen, welche ontologisierenden Konsequenzen mit derartigen Sprechakten verbunden sind und wie sie Vorstellungen von Inkontingenz und Substantialität in die Sprache tragen" (S. 166). Hier nimmt Felgenhauer zwei Kategorisierungen vor: Während die empirisch-thematische Kategorisierung in erster Linie der Materialordnung dient, behandelt die Kategorisierung raumbezogener Argumentationsmuster konkrete Argumentationsformen regionalisierender Sprachpraxis. Ein Fazit des Autors ist: "Die praktische Etablierung des Begriffes "Mitteldeutschland" erfolgt nicht etwa vorrangig dadurch, dass man ihn erklärt, sondern am besten dadurch, dass man ihn als geklärt behandelt." (S. 208).
Abschließend liefert Tilo Felgenhauer  aufbauend auf den Erkenntnissen seiner Empirie eine allgemeine Beschreibung der Regionalisierung "Mitteldeutschland" im Rahmen der Sendereihe des MDR und diskutiert die Grundzüge für eine sozialgeographische Sprachanalyse vor dem Hintergrund der empirischen Ergebnisse. Sein Schluss lautet: "Räumliche Entitäten sind keine guten Gründe, weil sie empirisch evident existieren. Sondern sie existieren empirisch evident, weil sie besonders oft als Begründung dienen. Toponyme und implizite signifikative Regionalisierungen werden nicht deswegen nicht hinterfragt, weil sie ‚real' sind, sondern sie sind ‚real', weil sie nicht hinterfragt werden." (S. 231).
Mit "Geographie als Argument" legt Felgenhauer  eine Arbeit vor, die - gleichwohl sie Lesende durchaus fordert - sowohl hinsichtlich der Theorie als auch hinsichtlich der alltagssprachlichen Praxis Substantielles bietet. Der Entwurf einer sozialgeographischen Sprachanalyse gibt denjenigen theoretisches und methodisches Werkzeug an die Hand, die sich mit der konstitutiven Wirkung von Sprache hinsichtlich der Erzeugung von "Raum" und räumlichen Entitäten auseinandersetzen möchten. Die dargestellten empirischen Beispiele offenbaren nicht nur die Funktionsweisen der Raumkonstitution im alltagssprachlichen Handeln, sondern sensibilisieren auch für die eigene "raumwirksame" sprachliche Praxis innerhalb und außerhalb universitärer Zusammenhänge.
Autorin: Katharina Fleischmann

Quelle: Erdkunde, 63. Jahrgang, 2009, Heft 1, S. 95-97