Niko Reinberg: Jenseits von Sonnenpyramiden und Revolutionstourismus. Comunidad Coire: Indigene Wirklichkeit in Mexiko. Münster u.a. 2007. 176 S.

Niko Reinbergs Buch über eine Gemeinde an der mexikanischen Pazifikküste unweit des Mega-Ferienortes Acapulco in Michoacan, welches im Zuge seiner Mexiko-Studien als Diplomarbeit entstanden ist, beschreibt die Geschichte und den Werdegang von El Coire und seiner Bewohner/Innen, die sich trotz Jahrhunderte langer, vor allem extern angestoßener Transformationsprozesse, ein Stück ihrer gemeindeeigenen 'Identität' bewahren konnten. Das Spannungsverhältnis zwischen den "Mechanismen der Penetration" und einer an der Peripherie liegenden Kommune, die mit Hilfe der gemeinschaftlichen Erinnerung ihre Selbsterhaltungskräfte mobilisiert, wird dem Leser anhand der qualitativen Studie durch zahlreiche Interviews und Beschreibungen näher gebracht.

Nach einer kurzen Einführung, in der die geographischen Randdaten der Gemeinde und die "indigene Wirklichkeit" in ganz Mexiko knapp thematisiert werden, wird in den ersten beiden Teilen (47-65) die theoretische und methodische Herangehensweise erläutert. Zunächst wird die Bedeutung von Geschichte und sozialer Erinnerung für das Verstehen globaler Prozesse herausgearbeitet. Dabei stellt Reinberg mit Bezug auf andere Autoren vor allem die statischen Dichotomien lokal/global, Tradition/Moderne, Zentrum/Peripherie der klassischen Kultur- und Sozialanthropologie in Frage, ohne die unterdrückenden Strukturen der Globalisierung zu verkennen (50ff). Dies geschieht, um einerseits die historische Kontinuität globaler Verflechtungen und andererseits das Ineinandergreifen verschiedener Handlungswelten zu unterstreichen. Der theoretischen Reflexion folgt die Beschreibung der ethnographischen Methode, der Life Story Interviews, mit welchen der Autor eine rein qualitative und sehr persönliche Befragungsmethode gewählt hat, um das soziale Gedächtnis der Gemeinde zu erfassen.
Den Ausführungen zu Theorie und Methode folgt der umfangreichste Teil des insgesamt 167 Seiten umfassenden Werkes, in dem ein bemerkenswerter Einblick in die koloniale und nachkoloniale Geschichte der Communidad Coire, mit Fokus auf dem eingemeindeten Dorf Faro de Bucería, gegeben wird. Neben vergleichsweise detaillierten Zahlen und Fakten zur Eroberung, Demographie und wirtschaftlichen and verwaltungstechnischen Veränderungen durch die Spanier (66ff), wird anhand kleiner Anekdoten die aktive Beteiligung der indigenen Bevölkerung an Wandlungsprozessen erläutert. Dabei legt der Autor besonderes Augenmerk auf die Herkunft der Bewohner/Innen und die sprachliche Entwicklung der Region. Mit Bezug auf persönliche Gespräche und eine vergleichbare Studie von Gledhill aus dem Jahre 2004 wird die Tatsache, dass die Bewohner/Innen El Coires die indigenen Sprachen zugunsten des Spanischen aufgegeben haben, nicht als Verlust der indianischen Identität gedeutet, sondern als Notmaßnahme zur Sicherung des Territoriums. Dasselbe und weitere indigene Rechtsansprüche seien der selbstverwalteten Gemeinde aufgrund ihrer sprachlichen Unterlegenheit zu häufig von Eindringlingen und von der sie diskriminierenden mexikanischen Wirklichkeit streitig gemacht worden (98ff). Mittels der von Reinberg erzählten persönlichen Geschichten wird der Versuch unternommen, die meist von außen herangetragene Überinterpretation kultureller Besonderheiten der indigenen Bevölkerung zu relativieren und in den für sie relevanten Kontext zu setzen. Dabei arbeitet der Autor interessante Aspekte der Überlebensstrategien von ethnischen Minderheiten in Mexiko heraus, die auf den ersten Blick widersprüchlich anmuten, aber bei näherem Hinsehen nachvollziehbar sind. So wird beschrieben, dass die Bewohner/Innen von El Coire ihre Sprache aufgaben, um sich einerseits einer sie ablehnenden Gesellschaft zu öffnen, andererseits aber ihre territoriale Souveränität und Eigenständigkeit zu unterstreichen. Damit, so Reinberg, werde gezeigt, welche Bedeutung die Kontrolle der Ressourcen für die Gemeinde besitze (104). Obschon diese Interpretation durchaus logisch ist, zeigt das beschriebene Verhalten der Bewohner/Innen auch, welch gespaltenes Verhältnis zwischen der indigenen Bevölkerung und der mexikanischen Mehrheitsgesellschaft bis heute besteht. Denn diese versucht ihre Schützlinge zwar durch Armutsbekämpfungsprogramme am Leben zu erhalten, lehnt sie aber trotzdem als gleichberechtigte Bürger ab.
Obschon es Reinberg mit seiner bestechend undogmatischen Studie durchaus gelingt eine weitere Facette indigener Wirklichkeit herauszustellen, so mangelt es der Untersuchung teilweise doch an Tiefe und analytischer Genauigkeit. Global vernetzte Transformationsprozesse, die Ursachen für nationale und internationale Migrationströme sowohl von Männern als auch von Frauen, sowie sozialer und kultureller Wandel der indigenen Gemeinden in Mexiko lassen sich nicht ohne die Auseinandersetzung mit Landrechtsreformen, Freihandelszonen und den sich daraus entwickelnden Maquiladora Industrien oder den stark angewachsenen protestantischen Missionierungsbemühungen nordamerikanischer Provenienz verstehen - alles wichtige Triebfedern global/lokaler Vernetzung. Die häufig nur oberflächlich angerissenen oder unerwähnten politischen und wirtschaftlichen Zusammenhänge der Globalisierung hätten in der Einführung gut platziert werden können. Des Weiteren fehlt im ethnographischen Teil eine interne Differenzierung der Gemeinde nach Einkommensklassen und kulturellen (religiösen) oder politischen Bekenntnissen. So fragt sich der interessierte Leser, welche Beziehung die eingemeindeten Bergdörfer zum Gemeindezentrum haben, ob sie marginalisiert sind oder gleichberechtigt an Gemeindeentscheidungen beteiligt werden. Auch bleibt offen, ob die Globalisierung ein verändertes Geschlechterrollenverständnis mit sich bringt. Fragen, die im Kontext einer Dorfstudie gut hätten bearbeitet werden können. Insofern mutet das homogene Bild, welches der Autor von El Coire bzw. Faro de Bucerías und ihren Bewohner/Innen beschreibt, fast romantisierend. Trotzdem bietet Reinbergs Erstlingswerk jedem Mexiko-Interessierten ein kurzweiliges, anregendes und weiter zu empfehlendes Lesevergnügen.
Eva Youkhana

Quelle: Peripherie, 29. Jahrgang, 2009, Heft 113, S. 119-121