Jan Rehmann: Einführung in die Ideologietheorie. Hamburg 2008. 350 S.

Rehmann liefert zum einen eine Geschichte der Ideologietheorie von Destutt de Tracy über Marx und Engels, Lenin und den Leninismus, Lukacs und die Frankfurter Schule, Gramsci, Althusser, Bourdieu, Poststrukturalismus und Postmoderne bis hin zu W. F. Haug und dem "Projekt Ideologietheorie". Darauf aufbauend nutzt er zum zweiten den vom "Projekt Ideologietheorie" (an dem er selbst mitgearbeitet hat) entwickelten Ansatz zu einer kritischen Analyse von Friedrich Hayeks Grundlagentexten zum Neoliberalismus und dem, was bei anderen Neoliberalen daraus geworden ist.

In dem wissenschaftshistorischen Teil fällt zunächst auf, dass die Wissenssoziologie und die bürgerlichsoziologische Ideologiekritik völlig außer Acht bleiben - was ich nicht ganz nachvollziehen kann: insbesondere die konstruktivistischen Ansätze aus diesem Lager hätten auch für Rehmanns Vorhaben nützliche Gedanken anzubieten. Davon abgesehen liefert der Autor in diesem Teil eine Vielzahl von spannenden Interpretationen und Erklärungen. In dem Kapitel zu Marx beispielsweise werden als die drei entscheidenden Momente des Fetischismus-Konzepts die "Versachlichung moderner Herrschaft", ihre "Naturalisierung" und "die Erzeugung eines 'Zu-Hause-Fühlens' in ihren entfremdeten Formen" herausgearbeitet (42 f). Bei Gramsci wird gezeigt, dass dessen Hegemoniekonzept keineswegs einen "positiven", unkritischen Ideologiebegriff voraussetzt: Während der senso commune, das Alltagsbewusstsein, darauf gerichtet ist, "widersprüchliche und gegensätzliche Interessen zu versöhnen", ist die "Philosophie der Praxis" die "Theorie dieser Widersprüche selbst" (99) - also Kritik jenes Bewusstseins. An Althusser kritisiert der Autor vor allem, dass dessen Konzeption der Subjektwerdung durch Subjektion für die Ausbildung selbstbestimmter Handlungsfähigkeit keinen Raum lasse. Als beeindruckendes Gegenbeispiel referiert er eine von Ashwin Desai berichtete Episode aus dem Widerstand gegen ein (von ANC-Behörden beschlossenes) Slum-Clearance-Projekt in Südafrika, in deren Verlauf eine aufgebrachte ANCVertreterin die Widerständler als typisch skrupellose, privilegierte und egoistische "Inder" beschimpfte und als Antwort aus der Menge zurückbekam: "We are not Indians, we are the poors". Rehmanns Schlussfolgerung: Entgegen Althusser können die Subjekte der ideologischen Anrufung auch widersprechen. Erfreulich auch das Kapitel zu Bourdieu, mit dem sich das Projekt Ideologietheorie bis dato höchstens sporadisch befasst hatte. Wenig originell und eher langweilig fand ich dagegen die Abschnitte zu Lenin und dem Leninismus, Lukacs und der Frankfurter Schule sowie Poststrukturalismus und Postmoderne.
Die Position des "Projekts Ideologietheorie" (PIT) übernimmt Rehmann praktisch unverändert - lediglich an der Staatszentriertheit der ersten Publikationen des Projekts (1979), die auf die Dominanz des Keynesianismus in jener Zeit zurückgeführt wird, wird leichte Kritik geübt. Das PIT-Modell ruht auf drei zentralen Grundüberzeugungen: Zum einen "wird das Ideologische nicht primär als 'falsches Bewusstsein' gefasst, so dass sich die Analyse (...) auf die Funktionsweisen der ideologischen Mächte, Apparate und Praxisformen konzentriert" (153). Zum zweiten versteht es seine Analysen aber trotzdem als "ideologiekritische" in dem Sinn, dass sie jene Mächte etc. "grundsätzlich vom Standpunkt einer klassenlosen und herrschaftsfreien Gesellschaft betrachtet" (ebd.). Die ideologischen Apparate "organisieren das (Er-)leben der Klassengesellschaft als Erleben von Klassenlosigkeit" (Haug 1993, 55). Kritische Ideologietheorie dagegen hat ihren Herrschaftscharakter aufzuzeigen. Zum dritten sieht das PIT den zentralen Mechanismus, mittels dessen jenes Erleben der Klassengesellschaft als Erleben von Klassenlosigkeit zustande gebracht wird, in einer "Verdichtung" oder "Symptombildung" im Freudschen Sinn. Horizontale Formen der Selbstvergesellschaftung und vertikale der Vergesellschaftung von oben werden dadurch zu einer Einheit verschmolzen, dass periphere Elemente, die ihnen beiden gemeinsam sind, in den Mittelpunkt gerückt werden. Wo solche Verdichtungen vorliegen, sind aber immer auch Akzentverschiebungen möglich. "Indem die Ideologien, soweit sie massenwirksam sind, sich permanent von 'horizontalen' Energien nähren, ermöglichen sie eine 'antagonistische Reklamation des Gemeinwesens', bei der die Klassen und Geschlechter dieselben Instanzen und Werte (...) in gegensätzlicher Weise auslegen und in Anspruch nehmen" (163).
Schauen wir nun aber, was der Ansatz für die Analyse des neoliberalen Dispositivs leistet. Zentral stützt sich Rehmann hier auf Hayeks "The Mirage of Social Justice", dessen Frontalangriff auf den Begriff der "sozialen Gerechtigkeit" in seiner Unverblümtheit in der Tat verblüfft. Das Postulat sozialer Gerechtigkeit wird ihm zur "Un-Moral schlechthin"; es appelliere an "'schmutzige Gefühle', v.a. auf Ressentiment und Neid, auf die 'Abneigung gegen Leute, denen es besser geht als einem selbst'" (177). Und es sei allenfalls auf "primitive Kleingruppen" anwendbar, nicht aber auf die moderne Marktgesellschaft in ihrer Anonymität, in der jede Vorstellung von einer Gesamtverantwortlichkeit absurd wäre. Die Spielregeln des Marktes sind der Nomos, nach dem die Gesamtgesellschaft sich zu richten hat. Der Staat hat sie durchzusetzen und dafür zu sorgen, dass kein individueller Spieler dagegen verstößt und betrügt; "'unsinnig'" aber wäre es, "'zu verlangen, dass die Ergebnisse für die verschiedenen Spieler gerecht sein sollen'" (175). Da wir vom Markt "immer wieder 'Wohltaten empfangen, die wir in keinem Sinne moralisch verdient haben', sind wir auch verpflichtet, 'gleichermaßen unverdiente Einkommensminderungen ebenfalls hinzunehmen'" (174). Diese Argumentation unterwirft Rehmann dann einer - wie er im Anschluss an Althusser und das PIT formuliert - "symptomalen Lektüre", in der es darum geht, "die Bruchstelle eines Textes als Symptome eines latenten zweiten Textes zu lesen" (182). Die wichtigste dieser Bruchstellen sieht er in dem Dilemma, dass Hayek einerseits die "Schicksalhaftigkeit" des Marktgeschehens und dessen Indifferenz gegenüber Gerechtigkeitspostulaten betonen muss, sich andererseits aber auch bewusst ist, "dass der Glaube an den Zusammenhang von Leistung und Ertrag für das Funktionieren der Marktordnung 'gewiss wichtig' ist" (183), weil anders die Masse der Geringverdiener die wirklichen Entlohnungsunterschiede nicht tolerieren würde. Was Hayek theoretisch als "unsinnig" zu erweisen sucht, wird ihm so praktisch zur "notwendige[n] Illusion, um die bürgerliche Herrschaftsordnung abzustützen und ihre Subjekte leistungsmotiviert zu halten" (ebd.) - die Analogie zu klassischen Herren- und Priester- Trug-Theoremen bietet sich an.
Die Analyse erscheint mir rundum überzeugend - bis hinein in die letzten, hier nicht mehr nachzuzeichnenden Details. Was sich mir daraus nicht erschließt, ist allerdings der spezifische Nutzen des PIT-Ansatzes. Was sich als "symptomale Lektüre" präsentiert, ist nichts anderes als das, was anderswo schon lange "textimmanente Kritik" heißt; und die Erklärung von Widersprüchen im Text aus Herrschaftsinteressen ist das, was Ideologiekritik schon bei Holbach und Helvetius ausmachte. Weder "Symptombildung" und "Verdichtung" noch "ideologische Mächte und Apparate" spielen eine Rolle - nicht in diesem und auch nicht in den folgenden Kapiteln zum "Dispositiv des Neoliberalismus" und zu neueren "Gouvernementalitätsstudien"; auch hier geht es ausschließlich um klassisch ideologiekritische Textanalyse - von Peter Hartz' Buch "Job Revolution" und von Aufsätzen von Ulrich Bröckling und Sven Opitz zu neuerer Management- Literatur vor allem. Auch das allerdings ist - daran ändert mein Einwand nichts - exzellente Ideologiekritik klassischen Zuschnitts.
Literatur
Gerhard Hauck (1992): Einführung in die Ideologiekritik. Hamburg.
Wolfgang Fritz Haug (1993): Elemente einer Theorie des Ideologischen.

Gerhard Hauck

Quelle: Peripherie, 29. Jahrgang, 2009, Heft 113, S. 127-129