Detlef Müller-Mahn, Ute Wardenga (Hg.): Möglichkeiten und Grenzen integrativer Forschungsansätze in Physischer Geographie und Humangeographie. Leipzig 2005 (forum IfL 2). 136 S.

Basis des Bandes ist ein DFG-Rundgespräch 2004 zu einem Thema, mit dem der Titel des zu besprechenden Werkes identisch ist. „Schon wieder Nabelschau“ stöhnen dann manche auf, nicht bedenkend, dass Standortbestimmung und fachwissenschaftliche Reflexion Notwendigkeiten darstellen, auch wenn sie mühsam und nicht immer beliebt sind. Einmal mehr geht es um die beiden Hauptteilgebiete der Geographie und deren Stellung zueinander und um ihre theoretischen und (forschungs)praktischen Beiträge zu einer integrativen geographischen Sichtweise.

Von der redet man zwar oft, „vergisst“ jedoch in der Alltagsarbeit, dieser Rechnung zu tragen – sei es durch methodologische Überlegungen, sei es durch konkrete „integrative“ Projekte. Um all diese Aspekte drehen sich die Beiträge aus der Feder von prominenten und erfahrenen Fachvertretern (die einzige Fachvertreterin ist Ute Wardenga, die den Einleitungsbeitrag verfasste). In der Reihenfolge der sich inhaltlich ergänzenden, aber auch zwangsläufig zum Teil überschneidenden Beiträge sind dies Hans Gebhardt, Jürgen Pohl, Hans-Georg Bohle, Detlef Müller-Mahn, Thomas Glade, Richard Dikau, Peter Weichhart – erstaunlicherweise (?) nur zwei Physiogeographen unter ihnen. Es ist unmöglich, die Beiträge konkret zu würdigen, weder einzeln noch summarisch. Für alle kann man sagen: Sie sind interessant, anregend und unbedingt lesenswert. Leider interessieren sich die meisten Fachvertreter der Geographie kaum für theoretische Grundlagen. Selbst in den Forschungsarbeiten, in denen die Methodik vorgestellt wird, meidet man ängstlich theoretische Erörterungen. Das gilt weniger für Humangeographen denn für Physiogeographen, die sich oft eng an benachbarte Naturwissenschaften anlehnen, in denen ebenfalls die Meinung herrscht, Theorie sei etwas für Geisteswissenschaftler. Auf diese Haltungen gründet sich auch die vermeintlich oder tatsächlich zunehmende Entfremdung zwischen Physio- und Humangeographie, auf die praktisch alle Beiträge des Bandes hinweisen. Fast alle (aber nicht alle!) bemühen sich um den Integrationsgedanken und darum, Felder aufzuzeigen, auf denen – natürlich neben anderen, „fremden“ Fachwissenschaften – disziplinübergreifend gearbeitet werden. Einzelne Beiträge machen ganz klar, warum dem Gedanken nicht gefolgt wird, obwohl mehr denn je vom transdisziplinären und interdisziplinären Arbeiten die Rede ist. Warum das anscheinend nur zwischen Geographen und Nichtgeographen, aber nicht zwischen Human- und Physiogeographen funktioniert, sollten wir uns doch endlich einmal überlegen. Dazu leisten alle Aufsätze einen mehr oder weniger konkreten Beitrag. Das geschieht meist vor dem Hintergrund, dass offenbar beim Verwenden des Weichhartschen „Drei-Säulen-Modells“ mit der Gesellschaft-Umwelt-Forschung als Bindeglied zwischen Physio- und Humangeographie nicht nur Schnittstellen schlechthin auffindbar sind, sondern dass auch konkrete, projektbezogene Arbeit möglich ist. So landet man eigentlich bei der altbekannten, aber bisher wenig genutzten „Begegnung am Problem“, mit der dem integrativen Gedanken älteren und neueren Datums forschungspraktisch Rechnung getragen werden kann. Gerade weil die Geographie, wie andere Fächer auch, sich in einem ständig wandelnden Umfeld zu bewähren hat, „belastet“ zudem mit dem Anspruch, einen räumlichen, funktionalen und prozessualen Mehrwert zu liefern, sollte sich auf allen Stufen der geographischen Lehre systematisch mit Methodologie und Methodik beschäftigt werden. Das setzt jedoch ein Bewusstsein voraus, über das viele Fachvertreter nicht oder noch nicht verfügen. In welche Richtung zwar nicht die Entwicklung, wohl aber die Diskussion alter und neuer Fachgrundlagen gehen könnte, zeigt dieser Band ganz deutlich. Der Rezensent wagt es kaum hinzuschreiben: Das Buch sollte von allen, aber wirklich allen Geographen als Pflichtlektüre und als Diskussionsanleitung verwendet werden. Er ist sich aber sicher, dass dies nicht geschehen wird. Trotzdem ist zu hoffen und zu wünschen, dass es genügend Mutige gibt, die den Wert all dieser fundierten und für die Fachdiskussionen unentbehrlichen Beiträge erkennen. Es wäre wirklich wünschenswert, wenn der Band weite Verbreitung fände. Leider lassen die neueren Studienpläne keine Theorie mehr zu, so dass sich wiederum jene bestärkt sehen, die durch Hereinnahme nachbarwissenschaftlicher Spezialitäten – ohne Bezug zu den eigenen Fachgrundlagen – die Geographie immer mehr zu einem Fach der Beliebigkeiten umgestalten. Diese Entwicklung ist um so bedauerlicher, als anderenorts genau diese, von der Geographie ausgelassene Integration je länger um so mehr praktiziert wird. Der Herausgeberschaft ist dafür zu danken, dass diese Beiträge in dieser „schwierigen, aber nicht hoffnungslosen Situation“ (Beitrag Weichhart)erscheinen konnten. Eine weite Verbreitung des Bandes wäre sehr wünschenswert.

Autor: Hartmut Leser

 

Quelle: Die Erde, 138. Jahrgang, 2007, Heft 1, S. 72-73