Étienne Balibar: Der Schauplatz des Anderen. Formen der Gewalt und Grenzen der Zivilität. Hamburg 2006. 323 S.

Der vorliegende Band ist eine (inhaltlich zusammenhängende) Aufsatzsammlung aus den Jahren 1985-96, die im französischen Original 1997 erschienen ist. Der Autor arbeitet sich darin von Spinozas Frage, wie und unter welchen Bedingungen es überhaupt zu einer freiwilligen Unterwerfung unter eine Herrschaft kommen könne, über Kants Legitimierung und Begrenzung staatlicher Herrschaft, Fichtes Versuch der Konstituierung einer (deutschen) Nation, die Widersprüchlichkeit der marxistischen Ideologiekritik bis in die aktuelle Problematik der Grenzen Europas sowie der jeder Herrschaft (erst recht der modernen) inhärenten Gewalt mit entsprechender Gegen-Gewalt vor.

Balibar denkt Spinoza als einen Theoretiker der Masse (multitudo), die zum Staat (imperium) immer in einem Konfl iktverhältnis steht. Masse und Staat beherrschen sich quasi gegenseitig, daher ist der Staat in sich notwendig heterogen, er ist (noch) kein Staat eines Volkes oder einer Klasse. Aus der inneren Heterogenität des Staates folgt, so Spinozas Einwand gegen Machiavelli, den er offenbar genau rezipiert hat, dass der Staat niemals einfach untergehen und verschwinden kann, vielmehr erhält er sich gerade in seiner - wie immer auch schwankenden - Herrschaft über die Masse. Spinozas Tractatus politicus "zielt auf die politische Balance, durch welche die Massen wie die Regierenden gleichermaßen den Schrecken bewältigen können, den sie sich wechselseitig einjagen" (72). Gegen Hobbes vermeidet Spinoza eine einheitsstiftende Vertragstheorie, sondern setzt gerade den Widerspruch oder zumindest die Heterogenität ins Zentrum seiner Theorie: "Der Begriff eines widerspruchslosen Staates (oder dementsprechend einer widerspruchslosen Masse) widerspricht sich selbst" (79). Kants Denken muss bereits auf die 1789 gesetzte Autonomie der Politik und die Absolutheit, die theoretische Unüberholbarkeit der "Gleichfreiheit" (égaliberté, 15) reagieren. Der frühe Kant setzt zunächst zwei quasi naturwüchsige Triebkräfte eines Weltbürgerrechts an, nämlich Republikanismus und Freihandel (102). Der späte Kant dagegen erteilt einer solchen Geschichtsphilosophie eine Absage, für ihn ist Moralität keine (anthropologische) Ursprungsinstanz mehr, die sich geschichtlich allmählich verwirkliche, sondern an die Idee des (nun nationalen) Rechts verwiesen (108). Aber umgekehrt gilt für Kant auch: "Das Recht ist die Repräsentation der Freiheit im konträren Element des Zwangs" (115). Auf diese Weise gelangt auch Kant zu einer in sich heterogenen, zirkulären Theorie des Politischen. Ebenso wie Kant verzichtet auch Fichte, sogar in seinen Reden an die deutsche Nation, auf einen Identität "immer schon" garantierenden Ursprung, z.B. rassischer Art. Die (deutsche) Nation konstituiert sich bei ihm allein durch die Sprache, also durch historische Praxis (138).
Zentral ist die Auseinandersetzung mit der marxistischen Ideologiekritik. In der Frühphase, etwa in der Deutschen Ideologie, tritt sie "wesentlich in sekundärer Position auf, als eine Kritik der idealistischen (abstrakten, spekulativen etc.) [...] Illusionen, von denen die bestimmende Wirklichkeit von [...] gesellschaftlicher Produktion verschleiert, mystifiziert und verdrängt wird" (153). Diese Kritik ist so radikal, dass sie in einen "philosophischen Zirkel" (156) gerät, der die Deutsche Ideologie zu einem philosophischen Pamphlet gegen alle Philosophie macht, denn die Kritik philosophischer Illusionen soll nicht wiederum eine weitere Philosophie sein, sondern "die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt" (MEW 3, 35). Für Balibar "ist dieser Zirkel das Ergebnis eines Gewaltstreichs (der radikalen Trennung von Praxis und theoretischer Abstraktion) und einer nachfolgenden Verneinung: Der theoretische Diskurs, der diese Trennung ›performativ‹ ausspricht, wäre demnach nicht selbst ein ›Diskurs‹, er soll keinen ›theoretischen‹ Standpunkt einnehmen, sondern wäre selbst der Standpunkt der Praxis. Er wäre nichts anderes als die sich selbst aussprechende Praxis" (157). Balibar lässt keinen Zweifel daran, dass er ein solches Programm für nicht weiterführend hält. Auf dieser Grundlage ist keine Kritik der politischen Ökonomie durchführbar. Wichtiger noch: "Da das Proletariat die praktische Negation aller Ideologien ist, hat es offenbar keinen Sinn, von einer proletarischen Ideologie [...] zu sprechen" (158).
Der späte Engels verschiebt mit seinem Begriff der "Weltanschauung" den Akzent von der Praxis zum Materialismus als einer universalen Wissenschaft von der gesellschaftlichen Produktion und von den Geschichtsgesetzen des Klassenkampfes: "Man muss [...] im Gegensatz zur ›Deutschen Ideologie‹, für die nur die Praxis im Kern materialistisch ist, davon ausgehen, dass es (noch vor dem ›historischen Materialismus‹) einen theoretischen Materialismus gibt" (172). Gestützt u.a. auf Ernst Haeckels Evolutionsbiologie (178), gereinigt von deren sozialdarwinistischen Komponenten, entwirft Engels einen ewigen Kampf zwischen einer "idealistischen" und einer "materialistischen Weltanschauung", wobei die letztere die "Wissenschaft" auf ihrer Seite habe und daher den Sieg davontragen werde. Balibar resümiert brüsk: "Geschichte wird zu einem anderen Wort für Ewigkeit (und Materialismus zu einem anderen Wort für Idealismus)" (210). Das Projekt einer "Theorie der Ideologie" ist in diesem Rahmen ebenso notwendig wie undurchführbar (222f).
Die letzten Aufsätze dieses Bandes führen vor, wie eine an Marx orientierte Ideologiekritik diesseits dieser Aporien aussehen könnte. Der "Materialismus" ist für Balibar kein philosophischer "Standpunkt" mehr, sondern manifestiert sich in konkreten, d.h. intermittierenden Einspruchsmomenten (221), speziell an Epochenübergängen (213). Dabei ist vorausgesetzt, dass Ideologiekritik nur innerhalb der Ideologie stattfinden kann (221) und auf eine "Metaphysik der absoluten Wahrheit", die Balibar noch dem Marxismus zuschreibt (225), Verzicht leisten muss. Ideologiekritik kann allenfalls auf "situationsbedingte Wahrheitseffekte" (225) rechnen. Aber auch die (herrschende) Ideologie ist in sich, hier kann sich Balibar auf Gramsci berufen, nicht homogen, denn sie ist eben nicht die Ideologie der Herrschenden, sondern kann nur als Ideologie der Beherrschten ihre Funktion wahrnehmen (19f, 302). Politik erscheint folglich, so formuliert Balibar in Anlehnung an Derrida, "im Schillern der Ideologie" (213). Den modernen Staat und seine Rechtsförmigkeit beschreibt Balibar mit Hegel als "totale Ideologie", die gerade deshalb nicht totalitär wird, weil sie andere Ideologien (Religionen, Lebensformen, Sexualitäten usw.) aufnimmt, ohne in sie zu interferieren (293). Mit der 1789 ideologisch gesetzten "Gleichfreiheit" setzen gerade Kämpfe um soziale Gerechtigkeit, um Anerkennung sozialer Gruppen (Frauen, Ethnien usw.) die Absolutheit des so verfassten Staates voraus (298). Der auf "Gleichfreiheit" begründete Staat besitzt keine feste ideologische Identität, aber er ermöglicht Identifikationen und Gegen-Identifikationen (40). Balibar verdeutlicht dies am Beispiel der "paradoxen Klassen" (308), z.B. des Proletariats oder der Frauen, die er unter dem Sammelbegriff der "Enteigneten" zusammenzieht (18): sie vertreten Partikular- und Allgemeininteressen zugleich, das eine durch das andere. Genauso hatte auch schon Lukács in Geschichte und Klassenbewusstsein die Position des Proletariats beschrieben, was Balibar aber wohl zu hegelianisch gedacht wäre. Die moderne égaliberté, so beschließt Balibar dann doch wieder ganz mit Hegel sein Buch, ist die reine, theoretisch unüberholbare, aber politisch immer wieder einsetzbare "Negativität: Die von ihr gestellte Frage der ›Gleichfreiheit‹ (oder der Unmöglichkeit einer Freiheit ohne Gleichheit und einer Gleichheit ohne Freiheit) kennt keine Grenzen" (313).
Manfred Hinz

Quelle: Das Argument, 50. Jahrgang, 2008, S. 110-112