Christian Schmidt: Individualität und Eigentum. Zur Rekonstruktion zweier Grundbegriffe der Moderne. Frankfurt/M 2006. 347 S.

Die öffentliche Aufmerksamkeit für Eigentum als soziales Verhältnis unterliegt Konjunkturen. Indem sie in den letzten Jahren verstärkt zum Gegenstand gesellschaftlicher Konflikte geworden ist, kann von einer Renaissance der Eigentumsfrage gesprochen werden. Sie findet ihren Anlass in der "Akkumulation durch Enteignung" (David Harvey, vgl. Argument 269, 90ff): Die Merkmale der von Marx als Entstehungsphase des Kapitalismus behandelten "sogenannten ursprünglichen Akkumulation" (Kapital I, Kap. 24) seien stetes Merkmal kapitalistischer Entwicklung. Das schließt Phänomene ein wie die Privatisierung von Land, die gewaltsame Vertreibung der Landbevölkerung, die Umwandlung kollektiven oder staatlichen Eigentums in Privateigentum sowie die Inwertsetzung neuer Bereiche, von Wissensressourcen indigener Gemeinden, naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und digitalen Gütern.

In der neueren Literatur zu diesen Themen wird die Eigentumsfrage zumeist auf eine Frage der mehr oder weniger gerechten Verteilung des gesellschaftlich produzierten Reichtums und der natürlichen Lebensbedingungen reduziert. Verf. geht der Kategorie Eigentum tiefer auf den Grund, indem er ›Individuum‹ und ›Eigentum‹ als sich wechselseitig konstituierende Produkte der Neuzeit aufzuweisen versucht.
Dafür entwickelt Verf. zunächst den Zusammenhang zwischen Individualität und Eigentum, indem er das Eigentum als ein spezifisches soziales Verhältnis bestimmt: "Denn nur indem alle anderen Personen von der Beziehung zu einem Gegenstand ausgeschlossen werden können, wird dieser zu Eigentum. Gerade in seinem privaten Charakter erweist sich das Eigentum als sozial." (22) Eigentum braucht Personen, denen es zugeordnet ist und die deshalb klar und zeitlich stabil bestimmt werden müssen. Moderne Individualität bildet sich laut Verf. aber auch aus, weil die im Prozess der ursprünglichen Akkumulation leer ausgegangenen Menschen über das sog. Eigentum an sich selbst verfügen. Dieses ist kein Eigentum im strikten Sinn des Wortes, weil der Mensch sich selbst nicht verkaufen kann. Es kennzeichnet vielmehr das seit Beginn der Moderne Unveräußerliche einer jeden Person. Doch andererseits ist es die Grundlage, auf der die Nicht-Eigentümer in den gesellschaftlichen Warentausch eintreten können, denn nur durch die Unveräußerlichkeit dieses Eigenen verfügen alle Menschen über die besondere Ware Arbeitskraft. Individualität entsteht damit aus Eigentum zum großen Teil durch die Besonderung der Einzelnen auf dem Arbeitsmarkt und in der Produktion, wo die Bewertung ihrer Arbeitsleistungen erfolgt.
In seiner historischen Rekonstruktion folgt Verf. weitgehend Macphersons Theorie des Besitzindividualismus. Die ökonomische Dynamik des Kapitalismus macht er dafür verantwortlich, dass einerseits immer neue Formen der Individualisierung im Konsumbereich entstehen, andererseits aber das Eigentum an sich selbst durch die Subsumtion immer neuer Lebensbereiche umgestaltet oder in Frage gestellt wird. Beispiele sind hier die Felder geistigen Eigentums, die die Kompetenzen einer Person zum Privateigentum anderer zu machen drohen, aber auch der Zugriff auf die Körper durch den Einsatz von Biotechnologien: "Es lässt sich [...] konstatieren, dass einerseits die Teilhabe an geistigen Formen konstitutiv für die Person ist und einmal erworben als unveräußerlich postuliert wird, dass andererseits aber diese Formen selbst eine eigene, der dinglichen analoge Sphäre der Eigentumsordnung konstituieren: Das geistige oder immaterielle Eigentum" (75). Diese Sphäre sei in den letzten Jahren immer wichtiger geworden, in immer mehr Bereichen geistiger Formen komme es zu "Eigentumsschaffung" und damit zu kapitalistischer ›immaterieller Produktion‹, kurz: zur reellen Subsumtion geistiger Tätigkeit unters Kapital. Dies bleibe nicht ohne Auswirkungen auf die Individualität. Am Beispiel der Biotechnologie diskutiert Verf., wie hier das Leben selbst zunehmend der reellen Subsumtion unterliegt und Diskussionen darüber auslöst, "in denen das berechtigte Unbehagen [...] auf anachronistisch erscheinende Ewigkeits- und Heiligkeitsvorstellungen vom Menschen Bezug nimmt" (116). Verf. verweist auf Peter Sloterdijks Kritik an Positionen, die auf einer Unverletzlichkeit des Körpers beharren. Diese seien letztlich nur über die Heiligkeit der Schöpfung zu begründen - also eigentlich gar nicht. In Wirklichkeit sei der menschliche Körper schon immer Gegenstand von Konstruktionen, die zu seinem Schutz erfunden wurden. Der Schutz der menschlichen Gemeinschaft, der Bau von Hüllen (Kleidung, Häuser etc.) hätten zu einer "Luxurierung" der Körper geführt, deren nächster Schritt nun der Eingriff in den "Text" des menschlichen Bauplans sei. Verf. zufolge übersieht Sloterdijk jedoch, dass in einer kapitalistischen Ökonomie eine "Verbesserung" nicht eine Frage des individuellen oder kollektiven guten Willens ist. Es gibt in der Konkurrenz der Individuen keine freie Wahl, sich den eigenen Körper verbessern zu lassen oder nicht, und die Richtung der Verbesserungen wird nicht durch die sich fortsetzende Luxurierung der Körper bestimmt, sondern durch Produktionserfordernisse, die mit einem guten Leben nichts zu tun haben.
Im zweiten Teil führt Verf. schließlich aus, dass Individualität Ergebnis historisch wandelbarer und miteinander verflochtener Formen des Wahrnehmens und Handelns ist, die er als "transzendentales Feld" bezeichnet. Der dritte Teil ist Formen der Individualität vor Einführung des Eigentums in der Moderne gewidmet. Schlaglichter auf solche Vorformen und ihre Differenz zur modernen Individualität entwickelt Verf. vor allem anhand der christlichen Religion. Formen der Individualität beruhen hier nicht auf ökonomischem Handeln im engeren Sinn, sondern entsprechen einer anderen sozialen Wirklichkeit. Kontinuitäten festzustellen bedeutet demnach nicht, dass vormoderne und moderne Formen identisch sind. - Im Blick auf aktuelle Diskussionen wäre interessant gewesen, näher zu spezifizieren, wie genau die "reelle Subsumtion geistiger Tätigkeit unter das Kapital" das Eigentum an sich selbst gefährdet und welche Folgen dies nach sich zieht. Aber das lässt sich vielleicht gar nicht antizipieren und muss sich praktisch zeigen.
Sabine Nuss

Quelle: Das Argument, 50. Jahrgang, 2008, S. 114-115