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Kategorie: Rezensionen

Henry Heller: The Cold War and the New Imperialism. A Global History, 1945-2005. New York 2006. 366 S.

Der Zusammenbruch der Sowjetunion und des Ostblocks und damit das Ende der Dritten Welt als blockfreier Formation in der Weltpolitik haben zu einer neuen Konjunktur und neuen Bestimmungen von Begriffen wie Hegemonie, Imperialismus und ›Empire‹ geführt, welche die neue, unipolare Konfiguration der globalen politischen Ökonomie erfassen sollen. Die bis dahin verwendeten Termini entsprangen dem Kontext der Konfrontation des von den Vereinig ten Staaten angeführten Westens mit der Sowjetunion, einem von einem Gürtel aus von sowjetfreundlichen Modernisierungseliten kontrollierten Staaten umgebenen Einzelgegners. Sie alle erwiesen sich offenkundig als unbrauchbar, die neue Konstellation zu beschreiben. Ebenso wenig ist jedoch das Vokabular des Kolonialismus und der Auseinandersetzungen um Einflusssphären in der Lage, die gewandelten Verhältnisse begrifflich zu fassen, ganz gleich, wie stark und auffällig am Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts einige Momente des klassischen Imperialismus fröhliche Urständ feiern.

Das Neue an der gegenwärtigen Gemengelage ist ein Aspekt der Erfassung (encapsulation). Als der Niedergang Großbritanniens und Frankreichs sich mit dem Aufstieg des Deutschen Reiches und der USA im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts kreuzten und die rivalisierenden Bündniskonstellationen der Entente und der Mittelmächte des Ersten Weltkriegs sich herausschälten, erzitterte Europa zudem angesichts des Aufstiegs einer weiteren Macht, die Marx und Engels als die "sechste Großmacht" bezeichneten: die sozialistische Arbeiterbewegung. Ihr Aufstieg war eingebettet in eine Situation, die als die Erreichung einer neuen Stufe der menschlichen Zivilisation erschien. Angefangen von der theoretischen Physik bis hin zur Musik und Malerei schien die Menschheit eine neue Daseinsstufe erreicht zu haben, auf der eine qualitativ neue Gesellschaft als Möglichkeit aufschimmerte, welche die engen Konventionen und das eindimensionale Denken früherer Tage hinter sich lassen würde. Der Sozialismus in all seinen Formen - vom technokratischen Positivismus à la Saint-Simon bis hin zur Vorstellung einer unmittelbaren Kontrolle der Produktion durch Arbeiterräte (mit den verschiedensten staatssozialistischen Konzeptionen dazwischen) - war ein Kernelement der bevorstehenden Revolution des Alltagslebens und der Klassenpolitik. Die Demokratie, verstanden als die Ausweitung der Sphäre gesellschaftlicher Partizipation, erschien als logische Konsequenz der Ausweitung der Grenzen des Möglichen in Wissenschaft und Kunst sowie der Industrie und der Medizin, indem sie den von diesen geschaffenen Freiraum ausfüllte.
Die Vorstellung, dass das "Unmögliche möglich zu werden" schien, verwirklichte sich dann jedoch anders als gedacht und nahm 1914 die Gestalt des gewaltigen Zusammenpralls der Imperialismen an. Im Heldenlärm dieser Zeit nahm die Perversion der Technokratie und das Schalwerden der Demokratie, das den Faschismus und Stalinismus, die Schützengräben und Konzentrationslager, die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki und das atomare Wettrüsten hervorbrachte, seinen Anfang. Der Kalte Krieg bildete den Kontext, in dem die destruktive Wendung der politischen und ökonomischen Entwicklung an die restriktive Disziplin auf beiden Seiten gekoppelt wurde. Die Verkümmerung der Fantasie und Vorstellungskraft zur Karikatur von liberaler Freiheit und Sozialismus korrespondierte mit der Verkümmerung unseres Verständnisses darüber, wie gesellschaftliche Entwicklung Fortschritt auf einer wachsenden Anzahl von Ebenen bedeuten kann, von denen jede als Hebel weiteren Fortschritts auf anderen Ebenen wirkt. Diese Verkümmerung hatte zur Folge, dass die Moderne als solche in Verdacht geriet. Dabei lässt sich vermutlich eine Kontinuität zwischen der These vom universellen Verblendungszusammenhang der Frankfurter Schule, die in der Zeit des Kalten Krieges entstand, und dem zeitgenössischen Postmodernismus feststellen, auch wenn die materialistische Ontologie Ersterer durch einen radikalen Subjektivismus ersetzt worden ist. Tatsächlich wird von Marcuse bis Hardt und Negri die Weltgesellschaft als von umfassender Negation und totaler Entzauberung erfasst geschildert; aus ihr scheint die Möglichkeit progressiver Veränderung verschwunden oder bestenfalls nur noch als individualisierter ›Widerstand‹ denkbar zu sein.
Im Kontext der Vereinheitlichung der Welt unter der Marktdisziplin des Kapitals und des massiven wirtschaftlichen Niedergangs eines Großteils des ehemaligen Ostblocks und der Dritten Welt bei gleichzeitig steigender Arbeitsplatzunsicherheit und sinkenden Lohnniveaus auf der ganzen Welt stellt sich die Frage der Geschichtsschreibung der Moderne neu.
Verf., Historiker an der University of Manitoba in Kanada, hat einen Versuch in diese Richtung gewagt. Das Resultat ist eine detaillierte Beschreibung der beobachteten Epoche mit einigen erklärenden Bezügen auf die Geschichte des frühen 20. Jahrhunderts. Der gesellschaftliche und kulturelle Wandel, der sich in dieser Epoche vollzieht, wird als ein Aspekt der Entwicklung der globalen politischen Ökonomie insgesamt analysiert. Dabei liest sich das Buch häufig wie eine enzyklopädische Rückschau auf alles, was sich in diesem Zeitraum zutrug, weil es womöglich Einfluss auf die weltpolitischen Geschehnisse gehabt haben mag.
Nicht zuletzt aufgrund der umfangreichen Bibliografie und des ausführlichen Indexes eignet sich das Buch somit als ein Einstieg für alle, die sich ein Bild vom historischen Hintergrund und der Entwicklung des letztendlichen Triumphes der USA im Kalten Krieg und ihrer globalen Machtentfaltung machen wollen, als dessen Ergebnis sich die kapitalistische Globalisierung vollzog. Die einzelnen Kapitel behandeln die Ursprünge des Kalten Krieges, die Entkolonialisierung, den "Nachkriegsboom und die Entstalinisierung ", Lateinamerika, den Vietnamkrieg und die Revolte der 60er Jahre, den Aufstieg des Neoliberalismus, den Sieg der USA im Kalten Krieg und das Entstehen eines einzigen Imperiums. Diese von Hardt und Negri popularisierte Vorstellung wird von Heller weder in diesem Kapitel noch im Fazit in Frage gestellt. Gleiches gilt für andere Vorstellungen von einem einheitlichen Imperium. Er schildert akribisch und - soweit ich das beurteilen kann - richtig den historischen Lauf der Dinge. In dieser Hinsicht ist seine Darstellung grundlegend für die Identifizierung der sozialen Kräfte, die in dieser historischen Epoche am Werk waren. Eine diese berücksichtigende tiefergehende Untersuchung darf sich jedoch nicht auf die sorgfältige Schilderung der zentralen Ereignisse von 1945 bis 2005 beschränken und dabei die relevanten Länder und Themen einzeln und nacheinander abhandeln, sondern erfordert eine tiefere Analyseebene. So reicht es nicht, wenn Verf. auf insgesamt vier Seiten den "Thatcherismus in Großbritannien" (235-37, 262) oder in fünf Zeilen "Ungarn" (256) abhandelt. Hier macht sich das Fehlen eines theoretischen Analyserahmens bemerkbar.
Wenn der Bann des Kalten Krieges und des vermeintlich alles umgreifenden Empires des Westens und der globalisierten kapitalistischen Disziplin(ierung) gebrochen werden soll, dann bedarf es einer kühneren und begrifflich schärferen Analyse. Andernfalls bleiben wir von gerade denjenigen Mechanismen erfasst, die in der behandelten Epoche die Vorstellungskraft erstickten und den Willen, für kollektives Handeln zur Veränderung des Bestehenden zu mobilisieren, untergruben. Die Fähigkeit, noch einmal die Grenzen des Möglichen aufzusprengen, macht theoretische Durchbrüche genauso erforderlich wie die Mobilisierung auf der Straße. Einen solchen theoretischen Fortschritt bietet Heller nicht, obgleich es für den geduldigen Leser, der eine sorgfältige chronologische Darstellung der Ereignisse wünscht, ein erster Schritt in diese Richtung sein mag.
Kees van der Pijl (Aus dem Englischen von Ingar Solty)

Quelle: Das Argument, 50. Jahrgang, 2008, S. 144-146