Schirin Amir-Moazami: Politisierte Religion. Der Kopftuchstreit in Deutschland und Frankreich. Bielefeld 2007. 294 S.

Im Widerspruchsfeld von ethnisch-traditionalen Kollektividentitäten und den Egalisierungs- und Individualisierungseffekten des Kapitals, von staatsbürgerlichen Individualrechten und Multikulturalismus ist in den westeuropäischen Kernländern das Kopftuch zum Symbol des Grenzkonflikts zwischen laizistischer Allgemeinheit und Freiheit der Religion (jedoch als Privatsache) geworden.

Am dadurch eröffneten "Diskursfeld" will Verf. in ihrer zum Buch überarbeiteten Dissertation zeigen, dass im Kopftuchstreit eine Politisierung des Islam erst konstruiert werde. Die Trennung von Staat und (katholischer) Kirche sei in Frankreich gar nicht vollständig vollzogen, während in Deutschland die Säkularisierung durch den Bezug auf eine christliche Kultur in der Verfassung ("Sakralisierung", 15) den Streit als ein Spiel mit falschen Karten offenbare. Verf. möchte den beiden Ländern den Spiegel vorhalten, um fehlender Selbstreflexion über ihre jeweilige Verfasstheit auf die Sprünge zu helfen. Positiv will sie dazu beitragen, "dass dieser Übergang vom ›abstrakten‹ zum ›konkreten, realen Anderen‹ früher oder später zu einer weiteren Fragmentierung von ethnisch, religiös oder säkular bestimmten Konzepten von Staatsbürgerschaft führen wird" (265). Die Leitfrage ist, wie "normative Prämissen säkularer Gesellschaften unter dem Einfluss religiös-kultureller Pluralisierung in Frage gestellt werden" (15). In beiden Ländern habe die Auseinandersetzung zur Abgrenzung zwischen ›deutscher‹ bzw. ›französischer‹ und ›muslimischer Bevölkerung‹ geführt (25), wobei "der Islam als externe und ›nichtintegrierbare‹ Kategorie konstruiert" und "ein Konsens der ›Mehrheitsgesellschaft‹ suggeriert" worden sei (26). Die beiden Länder verfolgten dabei konträre Einwanderungspolitiken: Frankreich ziele auf Assimilierung, Deutschland auf Verfestigung von Differenz (36). Methodisch geht es um eine Diskursanalyse vornehmlich von Medienberichten "einer einflussreichen Elite", die Verf. "aktive Intellektuelle" nennt, und um die Auswertung von 40 Interviews zu "Selbstrepräsentationen junger Kopftuch tragender Musliminnen" in Deutschland und Frankreich (163).
Als Symbol "doppelter Andersartigkeit" demonstriert das Kopftuch zugleich religiös- kulturelle Zugehörigkeit und Geschlechterdifferenz (27). Dass im Kopftuchstreit feministische Argumente gegen Frauenunterdrückung ins Kreuzfeuer zwischen fundamentalistisch- identitären und imperial-vereinheitlichenden Positionen geraten, legt Verf. nicht auseinander. Eher zurrt sie die auf den ersten Blick paradoxen Effekte als absurde Beispiele einer monströsen Konstruktion der Kopftuchgegner noch enger zusammen. Die Kopftuchträgerinnen würden als Bedrohung für die übrige Gesellschaft konstruiert: Dies mit entgegengesetzten Argumentationen, indem diese Frauen zum einen als Opfer patriarchalischer Familienstrukturen, zum andern als Element im Block islamistischer Bedrohung zu identifizieren seien. Soweit überhaupt feministische Ansätze in den Blick kommen, wird ihnen zugestanden, dass sie nicht nur Opfer, sondern auch muslimische Frauen mit eigenen Entschlüssen kennen, wobei allerdings eigene Befreiungsideale in die Forschungssubjekte hineingelesen würden (29). Um dem zu entgehen, empfiehlt Verf., die "Dichotomie von Unterwerfung und Befreiung grundsätzlich zu überdenken" (30), ein Verfahren, das sich wie eine ungenannte Entlehnung aus den Cultural Studies und ideologietheoretischen Überlegungen aus den 1970er Jahren anhört und doch zugleich in dieser Neuauflage auch dazu dient, mit dem Raunen impliziter Befreiung den Protest gegen Unterwerfung abzulehnen. Dagegen hält sie einen versöhnenden Traditionsbegriff mit der These, dass "Tradition" der Schlüsselbegriff zum Verständnis von muslimischer Modernität bleibe (u.a. 32). Mit MacIntyre begreift sie Traditionen als Einbettung in Gruppenerzählungen (34), die sich stets von innen heraus erneuerten, um lebendig zu bleiben. Da bleibt kein Platz für die Erinnerung an Klassenherrschaft oder Frauenunterdrückung in der Geschichte. Für die Autorin sind Traditionen so etwas wie eine mit Sehnsucht besetzte Heimat, und so kann sie behaupten, dass die Herausforderungen, denen Migrantinnen ausgesetzt seien, nicht notwendig zu einer Abkehr vom Islam, sondern zu einer entsprechenden "Wiederbelebung " führten.
Im versöhnend gehaltenen Umfeld hören sich die emanzipatorisch engagierten Positionen so einseitig an, dass eine Auseinandersetzung mit ihren Argumenten unterbleiben kann. Elisabeth Badinter, die führend im französischen Kopftuchstreit hervortrat, lässt Verf. sagen: "Der Schleier ist das Symbol für die Unterdrückung eines Geschlechts. Eine Jeans mit Löchern zu tragen oder gelbe, grüne oder blaue Haare zu haben, ist ein Akt der Befreiung von sozialen Konventionen. Ein Tuch auf dem Kopf zu tragen, ist dagegen ein Akt der Unterwerfung. Diese wird das gesamte Leben der Frauen bestimmen. Ihre Väter oder Brüder suchen ihnen ihre Ehemänner aus und sie werden in ihren Häusern eingeschlossen sein und nur häusliche Arbeiten verrichten." (Zit. 62) Verf. sieht ein statisches Islamverständnis am Werk, das eindeutige soziale Konsequenzen unterstelle. In den ästhetischen Codes würde ferner die Externalisierung von Weiblichkeit zum Freiheitsideal erklärt. Durch einfache Negation - wer gegen Kopfbedeckung streitet, ist für nackte Busen am Strand - vermeidet Verf., sich der im Streit ums Kopftuch mitschwingenden sozialen Frage ebenso wie der Frage nach Frauenbefreiung zu stellen. Wiewohl sie zu Recht skandalisiert, dass das Schulverbot für junge Kopftuchträgerinnen in Frankreich zu deren Ausschluss aus der öffentlichen Schule und damit Einschluss in eine religiöse zur Folge hatte, verhindert ihre Fixierung auf die Vorstellung, es gebe in diesem Streit nur Konstruktionen, dass sie sich klar auf die Seite des Streitgegenstandes - eben der Trennung von Staat und Kirche und der geschichtlichen Legitimität des Individuums - stellt. Täte sie es, könnte sie die Zulassung des Kopftuchs bei Schülerinnen mit seinem Ausschluss bei verbeamteten Lehrerinnen vereinbaren. An der Aussage der Ministerin Schavan, das Kopftuch sei "als Symbol der Unterdrückung der Frau mit dem Grundgesetz nicht vereinbar" (zit. 121), wird ihr nicht zum Problem, ob dieses Land ansonsten von Unterdrückungssymbolen frei ist, sondern sie kritisiert, hier werde ein normativer Kulturbegriff offenbar, der kulturelle Konformität als Bedingung für Integration fordere (127). So wichtig es ist, den Finger auf Ungleichheiten und Dominanzen in den Diskursen zu legen, so wenig wird hier bedacht, dass es tatsächlich Traditionen gibt, in denen Frauenunterdrückung verankert ist und die daher in Frage gestellt werden müssen.
Bei den Interviews weicht die analytische Strenge der Praxis, die Äußerungen der Teilnehmerinnen einfach für bare Münze zu nehmen und nicht selbst auch für einen erst zu analysierenden Diskurs (163-256). Dieser Teil belegt im Wesentlichen die These, dass die Frauen eine Tradition nicht einfach zwangsweise übernehmen, sondern aktiv gestalten - gerade wenn sie das Kopftuch tragen. Nicht ohne einen etwas geringschätzigen Blick auf ein im Vergleich zum Islam "gezähmtes und konsequent entpolitisiertes Christentum" (67) mündet die fundiert geschriebene Arbeit in das Plädoyer, für die Vielfalt der Religionen angemessene Räume zu schaffen. Aufklärung und Befreiungskämpfe bleiben dabei auf der Strecke. Eine zusätzliche Leblosigkeit rührt daher, dass von der Not der Migration, von Hunger und Gewalt, von Unterdrückung und Verzweiflung nirgends die Rede ist.
Frigga Haug

Quelle: Das Argument, 50. Jahrgang, 2008, S. 420-422