Fidel Castro, Felipe Pérez Roque u. Heinz Dieterich, Kuba - nach Fidel. Kann die Revolution überleben? 2006. 178 S.

Als "erkenntnistheoretisches Erdbeben" zelebriert Dieterich die Rede Castros vom November 2005, die Anlass und Herzstück des von ihm herausgegeben Buches darstellt. Darin hole dieser "die Dialektik in den offiziellen Diskurs der kubanischen Revolution zurück" (14), indem er von der "Umkehrbarkeit" des revolutionären Prozesses spricht: "Diese Revolution kann sich selbst zerstören" ist die zentrale Aussage des zurückgetretenen Regierungs-, Partei- und Staatschefs. Er ist damit der erste Regierungsvertreter, der offen und direkt grundlegende Probleme des gegenwärtigen Kuba benennt.

Dieterich, der seit 1977 als Soziologe an der mexikanischen UAM-Universität lehrt und einige der lateinamerikanischen Linksregierungen beraten hat, interpretiert die Rede als "Einladung zur weltweiten Diskussion, ein Aufruf zur Solidarität der Vernunft" (143). Kritisch hält er der weltweiten Kuba-Solidarität und im Ergebnis auch dem ›offiziellen Kuba‹ vor, dieser Aufforderung nicht nachzukommen. Was macht dieses Buch so brisant, dass es in Kuba bisher nicht verlegt wurde, obwohl eine spanische Edition bereits vorliegt?
Verf. kommentiert Castros Rede sowie die seines ehemaligen persönlichem Sekretärs und gegenwärtigem Außenminister, Felipe Pérez Roque, der einen Monat danach vor dem Parlament auf Castros Rede implizit Bezug nahm. Er systematisiert ihre programmatischen Aussagen und verallgemeinert diese zu Diskussionsansätzen über systemische Probleme des sowjetisch geprägten Sozialismus des 20. Jahrhunderts. Zu den von Castro konkret beschriebenen Problemen der kubanischen Gegenwart zählen: disziplinloses Management der Wirtschaft, eine enorme Korruption sowie strategische wirtschaftliche Fehlentscheidung und eine mangelhafte Praxis öffentlicher Debatte und Selbstkritik: "Kritik und Selbstkritik, das ist sehr richtig, das gab es vorher nicht [...] Die Revolution muss diese Waffen benutzen" (42).
Verf. hält die Lösungsvorschläge des Außenministers für die von Castro angesprochenen Probleme für unzureichend, "die Zukunft der Revolution nach dem Tode Fidels [zu] garantieren" (16). Dieser empfiehlt, Castros Hinweis folgend, wonach Bildung und ethische Prinzipien vor dem drohenden Verfall schützten, erstens die moralische Autorität der Führung ohne jegliche Privilegien, zweitens die Unterstützung der Mehrheit der Bevölkerung nicht durch Konsum, sondern durch Ideen und Überzeugung und drittens, zu verhindern, dass eine neue Bourgeoisie entstehe (136ff). In dem letztgenannten sieht Verf. kein Problem, da der kubanische Staat nach wie vor die entscheidenden Produktionsmittel besitze. Entscheidender sei angesichts von Korruption und Diebstahl, wer in welcher Form über die Produktionsmittel entscheidet (148ff). Er arbeitet anhand des kubanischen Beispiels systemische Probleme heraus, die seiner Ansicht nach dem als "historisch" bezeichneten oder "real-existierenden" "Sozialismus des 20. Jahrhunderts" innewohnten. Dies seien insbesondere die Gleichsetzung von Staat mit Gesellschaft, Partei und Mehrheit, die Mystifizierung der Vergangenheit, die Unterdrückung jeglicher Privatinitiative und Marktmechanismen (kein Staat könne Subkulturen oder die Vielfalt und Qualität der Gastronomie ersetzen) sowie die mangelnde sensorische Fähigkeit des Systems, eigene Unzulänglichkeiten und Probleme zu erkennen. Ein zukunftsfähiger Sozialismus müsse diese Defizite und Verformungen offensiv angehen und überwinden. Kuba nehme jedoch an der Debatte darüber nicht (ausreichend) teil, obwohl es den historischen Vorteil besitze, aus den Fehlern der DDR und UdSSR lernen zu können. Wahlergebnisse mit 96 % Zustimmung seien Selbstbetrug, es gebe kein System, das auf eine derart hohe Zustimmung zählen könne. In der DDR seien kurz nach der Wende von 1,6 Mio. Parteimitgliedern 90 % ausgetreten - ein Schwund in der Höhe der postulierten Zustimmung (164). Da die Partei weiterhin das einzige Vehikel für sozialen Aufstieg sei, sei sie von einer Avantgarde zu einem Instrument der "Bürokratie", der "Opportunität", ja zu "Inkubatoren der Konterrevolution " (160) verkommen. Das System verfüge über keine adäquaten Formen, zwischen legitimen Forderungen nach Weiterentwicklung und konterrevolutionären Absichten zu unterscheiden und blockiere dadurch seine Erneuerung.
Die (Über-)Lebensfähigkeit des kubanischen Systems schätzt Verf. als gering ein, wenn es nicht seine Diagnosefähigkeiten verbessere: Wahlen, Umfragen, öffentliche Debatten und zivilgesellschaftliche Formen der Meinungsäußerung seien Grund für die "kybernetische Überlegenheit" der bürgerlichen Staaten (162ff). Die Attraktion bestimmter Konsumerscheinungen, die Fidel Castro moniert (Das "Aufkommen neuer Parasiten" und "Neureicher") und Grundbedürfnisse (Internet, Reisefreiheit) sieht Verf. als mit keiner Kampagne bekämpfbar an; zwei Millionen Touristen jährlich sowie eine tägliche Berieselung mit amerikanischen Spielfilmen im Staatsfernsehen trage zu der Identifizierung und Verinnerlichung der Bevölkerung damit bei. Stattdessen sei v.a. mit der Jugend eine öffentliche Debatte über diese Bedürfnisse und mögliche Formen ihrer Befriedigung zu führen. In diesem Zusammenhang sind die jüngsten Reformen der Regierung interessant, die diesen Forderungen entsprechen (bspw. Hotelaufenthalte und Handys für Kubaner), wenn auch bisher die ›öffentlichen Debatten‹ nur in den Räumen und Diskursformen der Massenorganisationen stattfanden. Warum sich das System angesichts dieser komplexen Problemlage überhaupt am Leben halten konnte, erklärt Verf. mit drei Faktoren: die strategisch-dialektische Fähigkeit Fidel Castros, für die bisher noch kein adäquater institutioneller Ersatz gefunden sei; die militärisch-ökonomische Unterstützung durch die Sowjetunion; schließlich die lang andauernde (jedoch beendete) "heroische Phase der Revolution", die eine große Mehrheit der Bevölkerung sich mit der Revolution identifizieren ließ (166).
So begrüßenswert das Vorhaben des Verf. ist, die (selbst-)kritischen Kernelemente der politischen Debatte in Kuba zu identifizieren und einem breiteren Publikum zugänglich zu machen, dabei mit eigenen Überlegungen über systemische Schwächen zu einer erweiterten Debatte über notwendige Reformen eines Sozialismus des 21. Jahrhunderts beizutragen, liegt in dieser Methode auch zugleich ein Problem. Zunächst der Stellenwert von Castros Äußerungen: Es handelt sich lediglich um kurze Referenzen in einer fast 100 Seiten langen Rede, an die man sich bisher eher wegen ihrer Aussagen zu einer neuen Energiepolitik in Kuba erinnert hat. Weder Castro noch Roque selber machen mit Ausnahme der ethischideellen irgend welche strategisch-institutionellen Vorschläge. Schließlich sind auch die Ausführungen des Verf. selektiv und zumeist unvermittelt. Bis auf zwei Fußnoten gibt es keinerlei Literaturnachweise, es findet keine Auseinandersetzung mit anderen Debatten zum Thema statt.
Rainer Schultz

Quelle: Das Argument, 50. Jahrgang, 2008, S. 440-441