Stefan Schmalz: Brasilien in der Weltwirtschaft. Die Regierung Lula und die neue Süd-Süd-Kooperation. Münster 2008. 309 S.

Möglichkeiten und Grenzen von Linksregierungen semiperipherer Staaten innerhalb des neoliberalen Hightech-Kapitalimus werden hier analysiert. Verf. beginnt mit einer Kritik der internationalen politischen Ökonomie, stellt aus neogramscianischer Perspektive Stärken und Schwächen von Dependenz- und Modernisierungstheorie, von Regulationstheorie und Weltsystemansatz gegenüber und fügt Überlegungen zu Raum und Zeit hinzu. Er versucht, die konkrete Analyse von Regulation und Akkumulation auf nationaler Ebene mit der abstrakten Funktionsweise des Weltsystems zu verbinden und bezeichnet diesen Versuch als Neo-Dependenztheorie. Zentral ist dabei die Ergänzung einer hegemonietheoretischen Herangehensweise um das von Jessop eingeführte Konzept von "Staatsprojekten", d.h. von Projekten, die vor allem auf den Staat und nur eingeschränkt auf die Gesellschaft zielen. Staatsprojekte sind weniger ambitioniert und leichter durchsetzbar als hegemoniale Projekte. Gerade die Regierung Lula verfolgt Strategien zur Durchsetzung beider Projekte, wobei der Angelpunkt das Staatsprojekt ist.
Mit Poulantzas versteht Verf. den brasilianischen Staat als materielle Verdichtung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse und zeigt empirisch die vielen kleinen und dispersen (Alltags)Kämpfe um Vorherrschaft im Staat - keinesfalls die übliche Vorgehensweise kritischer Staatstheorie. Er identifiziert eine zentrale Kampflinie zwischen keynesianisch orientierten ›Entwicklern‹ und ›Sozialliberalen‹, die jeweils unterschiedliche Staatsprojekte verfolgen (56). Daran zeigt sich, dass die Auseinandersetzungen sich nicht nur um ›postneoliberale‹ Politiken drehen, sondern diese viel mit der brasilianischen Geschichte zu tun haben. Seit dem 19. Jh. fand die Auseinandersetzung immer wieder zwischen diesen beiden Lagern statt: Staatsinterventionisten versus Liberale, Nationalisten versus Kosmopoliten, Entwickler versus Ausverkäufer (entreguistas), Keynesianer versus Monetaristen. Selbst die Militärdiktatur durchlebte Phasen des Monetarismus (1964-67) und des keynesianischen Entwicklungsdenkens (1968-82), letzteres vereinbar mit schärfster Repression. Dies ist also keine Auseinandersetzung zwischen rechts und links, denn schon immer knüpfte die Rechte - insbesondere unter Getúlio Vargas (1930-45, 1950-54) - an die Tradition eines starken brasilianischen Entwicklungsstaates an, der auf Stärkung nationaler Bourgeoisien und die Entschärfung sozialer Verwerfungen durch die Verteilungsspielräume in Folge hoher Wachstumsraten setzte. Monetarismus und Neoliberalismus hingegen wirkten - entgegen ihrer Rhetorik - systematisch wachstumsfeindlich. Daher war es zu erwarten, dass die liberale Wende der 1980er Jahre aufgrund der Struktur des brasilianischen Kapitalismus, der ohne Staat nichts ist, nicht von Dauer sein konnte. Dass die brasilianische Politik zurück zum Entwicklungsdenken schwenkt, ist daher nicht überraschend, ein Schwenk zu einem tragfähigem linken Staatsprojekt schon.
Eine zentrale Rolle spielt dabei die Außenwirtschaftspolitik. Dieser Blickwinkel lässt erkennen, dass die Möglichkeiten nationaler Regierungen auch in Zeiten neoliberaler Globalisierung größer sind, als suggeriert wird, und ihr politisches Handeln selbst weltwirtschaftliche Dynamiken beeinflusst. Brasilien als Land der Semiperipherie verfolgte über weite Strecken des 20. Jh. eine unabhängige Außenwirtschaftspolitik; die Unterordnung unter die Interessen der Zentrumsmächte, insbesondere der USA, von IWF und globalen Finanzmärkten, waren Intermezzi, auch in den 1990er Jahren unter Cardoso. Lulas Außenpolitik der Eigenständigkeit und ›Süd-Süd-Kooperation‹ steht in Kontinuität mit einer langen Tradition im Außenministerium, die zum Beispiel auch während der Militärdiktatur verfolgt wurde. So wie diese in den 1970er Jahren mit ihrer Politik der Öffnung insbesondere in den arabischen Raum erfolgreich war, so zeigen sich in den letzten Jahren quantitative Steigerungen und deutliche Verschiebungen hin zum ›Süd-Süd-Handel‹. Dies geht einher mit politischer Kooperation auf verschiedenen Ebenen, aber insbesondere in der WTO, die durch die sog. G-20+ blockiert werden konnten (252). Es fragt sich daher, ob die Ausführungen über die Stärke des "Dollar-Wall-Street-Regimes" (214) mit den empirischen Belegen der restlichen Arbeit übereinstimmen. Die neue außenpolitische Strategie der USA, bilaterale Abkommen abzuschließen (176), ist eher ein Schwächezeichen und zeigt, dass globale Steuerungsinstitutionen gegenwärtig an Bedeutung verlieren, weil die Zentrumsmächte ihre Interessen nicht mehr so einfach durchsetzen können. Der Satz über "die Zunahme der Bedeutung von internationalen Organisationen" (54) stimmt mit den empirischen Ausführungen des Verf. nicht überein.
Das Kapitel zum Charakter der brasilianischen Regierung ist aufgrund der Fülle des empirischen Materials eine Fundgrube für die Analyse politischer Kräfteverhältnisse in Brasilien. Verf. zeigt, dass widerstreitende Interessen unterschiedliche Teile des Staatsapparats kontrollieren. Besonders deutlich wird dies im Agrarbereich, wo die Agrarindustrie das mächtige Landwirtschaftsministerium und die sozialen Bewegungen das kleine Ministerium für ländliche Entwicklung kontrollieren. Das Außenwirtschaftsministerium wird von aus dem diplomatischen Korps kommenden Kräften dominiert, die Verf. zu Recht als "links nationalistisch" (106) bezeichnet und die die Außenpolitik erstmals auch für die Kooperation mit zivilgesellschaftlichen Gruppen öffnen. Die detaillierte Analyse räumt aus institutioneller, akteursbezogener Perspektive mit der These von der neoliberalen Kontinui tät von Cardoso zu Lula auf, indem Verf. die Besetzung von Positionen im Staatsapparat und verfolgte Politikstrategien untersucht. Selbst im Bereich der Geld- und Fiskalpolitik sind Akzentverschiebungen in den Kräfteverhältnissen beobachtbar und Erfolge erkennbar: Laut jüngsten Veröffentlichungen der brasilianischen Zentralbank sanken die Zinszahlungen von 7,57 % (2005) auf 6,49 % des BIP (2007), die öffentliche Auslandsverschuldung von 6,3 % (2005) auf 4,5 % des BIP (2007), die Staatsverschuldung sank von 50,96 % (2002) auf 36,5 % des BIP (2007) und die Währungsreserven haben sich auf 168 Mrd. Dollar erhöht.
Es geht weniger um Brüche als um tastende Verschiebungen. Hierbei hilft der Vergleich mit den Entwicklungsbemühungen unter Präsident Kubitschek in den 1950er Jahren (248), bei denen der Ausbau des Binnenmarkts mit einer wachsenden Transnationalisierung einherging. Es gibt ferner Ansätze einer sozialpartnerschaftlichen Wachstumsallianz, die verstärkt auf das Produktiv- und weniger auf das Finanzkapital setzt und mit einer Art "semiperipherem Wettbewerbskorporatismus" einhergeht (248). Es finden sich "sozialdemokratische" (194) Komponenten, die die Teilhabe bislang nicht integrierter Bevölkerungsgruppen ermöglichen. Gemein ist all diesen Einschätzungen, dass die Regierung nicht mehr, aber auch nicht weniger umsetzt, als sie versprochen hat: "Kein Bruch! Ein Übergang", wird Lula zitiert (241), und das heißt die Zivilisierung des brasilianischen Kapitalismus, ein wahrlich widersprüchliches Projekt mit offenem Ausgang.
Andreas Novy

Quelle: Das Argument, 50. Jahrgang, 2008, S. 449-450