Fynn Ole Engler: Realismus und Wissenschaft. Der empirische Erfolg der Wissenschaft zwischen metaphysischer Erklärung und methodologischer Beurteilung. Philosophische Untersuchungen, hgg. v. Günter Figal und Hans Jürgen Wendel, Bd. 19. Tübingen 2007. 210 S.

Verf., Philosoph und Physiker, untersucht in seiner Dissertation, wie der "anhaltende empirische Erfolg" der modernen "methodischen Wissenschaften" zu erklären ist (1). Im Zentrum seiner Aufarbeitung der in der wissenschaftstheoretischen Debatte angebotenen Erklärungen stehen die Fragen: "Wie konstruieren Wissenschaftler ihre empirisch erfolgreichen Theorien? Von welchen heuristischen Direktiven und Strategien lassen sie sich dabei leiten? [...] Können Wissenschaftler anhand ihrer Theorien tatsächlich etwas von der Realität erkennen? Welche Bestandteile von Theorien erweisen sich dabei auch über wissenschaftliche Revolutionen hinweg als beständig?" (ebd.)

Eine überzeugende Erklärung für den empirischen Erfolg einer methodisch angeleiteten Wissenschaft, festgemacht an der Prognosefähigkeit ihrer Theorien, sieht er im "strukturellen wissenschaftlichen Realismus" (ebd.), dessen Verteidigung gegen seine Kritiker im Zentrum des Buches steht. Verf. stellt zunächst Naturalismus und Realismus als die grundlegenden Strömungen der modernen Wissenschaftstheorie historisch und systematisch einander gegenüber. Er argumentiert zum einen erkenntnistheoretisch gegen den nach der "historischen Wende in der Wissenschaftstheorie" (2) der 1960er und 70er Jahre aufgekommenen Standpunkt, wissenschaftliche Methodologie sei lediglich eine historisch kontingente Beschreibung der faktischen wissenschaftlichen Praxis. Im Gegenzug ergreift er Partei für eine "metaphysische" Annahme, die an allgemeinen Rationalitätskriterien für eine wissenschaftliche Methode festhält und von einer zumindest partiellen Erkennbarkeit der Realität ausgeht. Zum anderen argumentiert Verf. für eine wissenschaftliche Methodologie, die neben einer Logik der "Rechtfertigung" von Theorien auch eine Logik der "Entdeckung" enthalte. Den "Antirealismus", der letztlich auf einer von ihm so genannten, aber eigentlich nirgends genau definierten "naturalistischen" Grundeinstellung beruhe, weist er zurück. Verf. zielt darauf ab, die erkenntnistheoretischen und methodologischen Debatten dahingehend zusammenzuführen, dass die getroffene "metaphysische Annahme" des "wissenschaftlichen Realismus" (3) durch eine wissenschaftliche Methodologie argumentativ gestützt wird.
Als "strukturellen Realismus" bezeichnet Verf. die erkenntnistheoretische Position, wonach wir nur die Struktur der Beziehungen zwischen Objekten und Ereignissen erkennen können, nicht aber deren wesenhafte Beschaffenheit. Verf. weist den Einwand von Psillos zurück, ein "struktureller Realismus" sei nicht angemessen zu trennen von einem "Entitätenrealismus", da das Wesen eines Gegenstandes (seine Eigenschaften etc.) nicht von seiner Struktur zu lösen seien (178). (In dieser Kritik stimmt übrigens Psillos mit dem im Buch nicht erwähnten Mario Bunge überein; vgl. Arg. 266/2006, 453ff.) Verf. begründet seine Unterscheidung zwischen Struktur und Wesen damit, "dass sich ein und dieselbe Struktur [...] im Hinblick auf wesensverschiedene Objekte anwenden lässt" (180f). Bspw. sei die Struktur der Gleichungen in der klassischen Mechanik und in der Quantenmechanik dieselbe, nur dienten sie zur Beschreibung jeweils wesentlich verschiedener Objekte.
Verf. verteidigt den strukturellen Realismus zudem gegen den Skeptizismus "antirealistischer " Einwände, indem er zu zeigen versucht, dass der strukturelle Realismus am besten den empirischen Erfolg der methodischen Wissenschaft, v.a. das von Theorien vorhergesagte Eintreten neuartiger empirischer Tatsachen, erklären kann (z.B. die spätere Entdeckung empirischer Erscheinungen, die Einstein von der Relativitätstheorie abgeleitet hatte). Neben "metaphysischen" (insbesondere erkenntnistheoretischen) Annahmen werden methodologische Argumente wie die Eigenständigkeit heuristischer Strategien herangezogen sowie das "Keine-Wunder-Argument", d.h. der Verzicht auf die Erklärung wissenschaftlicher Erfolge durch das "stetige Eintreten von Wundern" (185) oder durch bloße Zufälle. Der strukturelle Realismus, der sich auch in seinem Wahrheitsbegriff vom Naturalismus unterscheide, behaupte eine strukturelle Kontinuität zwischen erfolgreichen Theorien, welche die Beständigkeit unserer Erkenntnis auch über wissenschaftliche Revolutionen und radikale Theoriewechsel sichere. Dies wird anhand verschiedener Fallbeispiele erläutert: Z.B. wurde Fresnels Theorie, die das Licht den Ätherschwingungen zuschrieb, später durch Maxwells Theorie des elektromagnetischen Feldes verdrängt, wobei sich jedoch beide auf strukturähnliche mathematische Gleichungen stützten. Dies sei als Indikator einer strukturellen Kontinuität der empirisch erfolgreichen Theorien zu werten (169 und 173ff).
Verf. entwickelt eine Systematisierung und Klassifizierung der wissenschaftstheoretischen Positionen, eingeordnet in das Raster des strukturellen Realismus. Anders als oft dargestellt, sieht er den Ursprung der modernen wissenschaftstheoretischen Diskussion bei Poincaré und Duhem zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Sie wurde durch den logischen Empirismus des Wiener Kreises rezipiert. Bedingt durch die empiristischen Reduktionismen der "Protokollsatzdebatte" und der propagierten Zielsetzung einer Einheitswissenschaft, die in einer physikalistischen Universalsprache formuliert werden sollte, erfuhr sie dann eine Neuausrichtung im Sinne eines vorwiegend naturalistischen und antimetaphysischen Programms. In dieser Tradition wurde der Sinn philosophischer ("metaphysischer") Annahmen für eine methodisch wissenschaftliche Erkenntnis bestritten.
Verf. geht nicht darauf ein, dass diese bis heute andauernde Debatte durch die postmoderne Philosophie und Wissenschaftskritik neue Facetten hinzubekommen hat. Überhaupt beschränkt sich das Buch auf die Naturwissenschaften und hier wieder fast ausschließlich auf die Physik. Sozial- und Geisteswissenschaften und die dort geführten Debatten werden mit keiner Silbe erwähnt. Damit hängt zusammen, dass viele Symbolisierungen, Ableitungen und Begründungen von denen, die wie der Rezensent nicht mit den häufig nur angedeuteten wissenschaftstheoretischen sowie naturwissenschaftlichen und mathematisch- logischen Debatten vertraut sind, nur unzureichend nachvollzogen werden können. Die zentralen philosophisch-methodologischen Thesen sind gleichwohl nachvollziehbar und insbesondere die wissenschaftshistorischen Darstellungen mit Gewinn zu lesen.
Richard Sorg

Quelle: Das Argument, 50. Jahrgang, 2008, S. 547-548