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Kategorie: Rezensionen

Jan Rehmann: Einführung in die Ideologietheorie. Hamburg 2008. 241 S.

Das Buch ist eine aus dem HKWM-Artikel "Ideologietheorie" hervorgegangene Aktualisierung der 1979 erschienenen "Theorien über Ideologie", damals das Produkt eines Autorenkollektivs, des Projekts Ideologietheorie (PIT). Es geht über das PIT hinaus, indem es "die bisher erarbeiteten ideologietheoretischen Instrumentarien am weltweit hegemonialen Neoliberalismus" erprobt (18). Dies geschieht durch die "symptomale Lektüre eines neoliberalen Grundlagentexts" (Friedrich Hayek) und einen "Streifzug durchs ideologische Dispositiv des Neoliberalismus" (Kap. 10 und 11).

Das Neue am Neoliberalismus, definiert als ein "politisches Projekt [...], die durch die Krise des Fordismus beeinträchtigten Bedingungen der Kapitalakkumulation wiederherzustellen und die bürgerliche Klassenherrschaft zu restaurieren" (170), ist v.a. die "ideologische Vergesellschaftung" durch den Privatsektor, der "unmittelbarer mit bürgerlichen Geschäftsinteressen verbunden" ist (190), bei weitgehender Zurückdrängung der "umverteilenden und kompromissbildenden Sektoren und Funktionen des Staates" (191). Das ideologietheoretische Problem ist aber dasselbe wie vor 30 Jahre. Damals hieß es: "wenn hinter der Bild-Zeitung das Kapital stand, warum dann die Massen hinter der Bild-Zeitung?", jetzt formuliert Verf. so: "Das wirkliche ›Oben‹ setzt nicht nur von oben seine neoliberalen Reformen durch, sondern kann auch als protestierende Bewegung von unten auftreten" (10). Noch immer gilt es, gegen ein Konzept von Ideologie, das entweder Ideologien auf bloße Erscheinungen des Ökonomischen reduziert oder Ideologie nur als ›falsches‹ Bewusstsein auffasst, eine Ideologietheorie zu entwickeln, die "nach den gesellschaftlichen Konstitutionsbedingungen sowie den unbewussten Funktions- und Wirkungsweisen des Ideologischen" fragt (11). Verf. bietet eine zugängliche Einführung in die verschiedenen ideologietheoretischen Ansätze, die diese Spur - mehr oder weniger - verfolgen: Lukács, Frankfurter Schule, Gramsci, Althusser, Bourdieu, den Poststrukturalismus (Chantal Mouffe, Stuart Hall) und (aber das schon sehr kritisch) die Postmoderne (Foucault). Dem voran gehen Kapitel über die ›Vorgeschichte‹ ("Die ›idéologistes‹ und Napoleon") und die ideologietheoretischen Explorationen von Marx und Engels, kulminierend in Engels' Konzept der "ideologischen Mächte", die relativ autonom die Individuen im Sinne der Herrschaft bestimmen, sowie die ›Ideologisierung‹ des Ideologischen (›proletarische Ideologie‹) "bei Lenin und im ›Marxismus-Leninismus‹".
Das Kriterium, woran die verschiedenen ideologietheoretischen Ansätze gemessen werden, ist, ob sie Ideologietheorie in praktischer Absicht sein wollen. Der Verf. hat zwar den Anspruch, sie "in ihrer Eigenlogik" darzustellen und wird diesem Anspruch auch weitgehend gerecht, entscheidend aber ist für ihn, dass sie sich der Aufgabe stellen, eine "wirksam eingreifende Ideologiekritik" zu entwickeln (19). Denn "Ideologietheorien ohne ideologiekritische Perspektive laufen Gefahr, sich funktionalistisch in einverständige Legitimationstheorien zurückzuverwandeln" (14). Dieser Gefahr erliegen eigentlich alle behandelten Theoretiker, außer Gramsci und das stark auf Gramsci basierende PIT. Lukács, indem er die ›Verdinglichung‹ so verabsolutiert, dass die Lösung nur noch eine messianistische Vorstellung des Proletariats sein kann ("der dialektische Umschlag vom proletarischen Objektstatus zum revolutionären Subjektstatus" als "gleichsam eschatologisch von außen hereinbrechendes Ereignis"), kombiniert mit einem idealisierten marxistischen Intellektuellen bzw. einer idealisierten Partei, die das Proletariat über seine ›wirkliche‹ Lage aufklärt (69f). Adorno und Horkheimer, bei denen jede Perspektive "unter den Bedingungen der Stalinisierung der Sowjetunion und der [...] Hegemonie des amerikanischen Fordismus verlorengegangen" ist (71), indem sie "den als positivistische Ideologie kritisierten Tatsachen- Fatalismus selbst in ihrer Ideologiekritik" reproduzieren (72). Althusser, indem er mit seiner Auffassung des Ideologischen als ›ewig‹ die Unterworfenheit des von der herrschenden Ordnung vergesellschafteten Subjekts "als ungeschichtlich-anthropologische Natureigenschaft" interpretiert (109). Bei Bourdieu bietet einerseits der "Feldbegriff" die Möglichkeit, "nicht-zentralisierte Formen ideologischer Vergesellschaftung [Konkurrenzverhältnisse zwischen Intellektuellengruppen; ›Markt‹ als eigenständiger ideologischer Bereich; die Herausbildung eines ›Publikums‹] zu analysieren" (126). Andererseits fasst er den ›common sense‹ zu einseitig als Anpassungsleistung, so dass auch bei ihm "die Würfel der Unterwerfung längst gefallen sind", bevor es zu einer wirklichen Handlungsfähigkeit kommen kann (133). Ähnlich gelagert ist die Kritik am Postrukturalismus und Foucault. Zu wenig oder überhaupt nicht bedacht werde hier die Widersprüchlichkeit des Alltagsbewusstseins, das von der Ideologie bearbeitet wird. Die "Ausbildung selbstbestimmter Handlungsfähigkeit" (117), also das Praktischwerden der Theorie werde dadurch unmöglich gemacht.
Die Stärke der Hegemonietheorie Gramscis ist es, gerade diese Widersprüchlichkeit zum "Ausgangs- und Stützpunkt" seiner ideologiekritischen Reflexionen gemacht zu haben: es gibt im "Alltagsverstand" einen "›gesunden Kern‹" (den "›gesunden Menschenverstand‹ "), der einem totalen Zugriff der Ideologie auf den Menschen im Wege steht (89). Sie sollte aber auch die marxsche Fetischtheorie berücksichtigen (bei Gramsci "eine wichtige Leerstelle"), weil "die mit dem Waren-, Lohn- und Kapitalfetisch zusammenhängenden ›objektiven Gedankenformen‹ der kapitalistischen Warengesellschaft" eine für die "widersprüchliche Zusammensetzung" wesentliche "Dimension des Alltagsbewusstseins bestimmen" (101). Diese für die Denkbarkeit eines ›revolutionären Subjekts‹ konstitutive Widersprüchlichkeit wird im PIT näher bestimmt durch die Annahme "ursprünglicher ›horizontaler‹ Kompetenzen der Vergesellschaftung" (155). Diese sind zwar in unseren "staatlich verfassten Gesellschaften" nie "in empirischer Reinform" ›einfach‹ gegeben, aber dennoch durchaus präsent, so dass "eine ideologietheoretisch reformulierte Ideologiekritik versuchen [wird], die im Ideologischen repräsentierten Gemeinwesenfunktionen zu entziffern, herauszulösen und für die Entwicklung gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen" (164).
Dieser Widersprüchlichkeit geht Verf. dann konkret in seiner ›symptomalen Lektüre‹ der Texte Hayeks nach, wobei er Franz Hinkelammerts vergleichbare und scharfsinnige symptomale Lektüre ("Die ideologischen Waffen des Todes. Zur Metaphysik des Kapitalismus ", 1985) erstaunlicherweise nicht erwähnt. Zuerst geht es ihm um das Aufweisen der "Widersprüche neoliberaler Ideologie" (172): zwischen der "Betonung der Schicksalhaftigkeit des Marktes" und "dem emphatischen Hinweis auf die schöpferische Freiheit der Individuen" (180). Diesen Widerspruch aber analysiert er "vom Gesichtspunkt seiner ideologischen Wirksamkeit" als "Stärke" (ebd.). Denn er bringt "die massenhaften Erfahrungen mit verdinglichten Verhältnissen nüchtern und pragmatisch angemessen auf den Punkt" (ebd.). Gerade diese Analyse der konkreten Wechselwirkung zwischen ›vertikaler Vergesellschaftung‹ und dem ›gesunden Menschenverstand‹ der Menschen ›unten‹ macht also die freiwillige Unterwerfung dieser Menschen verständlich. Der Verf. ist zwar auf eine Ideologietheorie aus, die die Möglichkeit einer handlungsfähigen Selbstvergesellschaftung nicht bloß postuliert, sondern aufzeigt. Er macht aber v.a. einsichtig, weshalb die herrschende Ordnung - heutzutage die des Neoliberalismus - sich mit Erfolg reproduzieren kann. Das spricht nicht gegen das Buch: Einsicht ist so oder so für eine wirklich kritische Theorie unabdingbar, auch wenn man sie im Moment ihre Kritik nicht in eine entsprechende politische Praxis umsetzen kann - zum Beispiel, weil die ›massenhaften Erfahrungen‹ mit dem Neoliberalismus politisch v.a. in der Sehnsucht nach der Wiederherstellung des sozialstaatlichen Arrangements "eines verloren gegangenen Fordismus" (196) wirksam werden.
Das größte Verdienst dieser Einführung ist es, die Frage nach den Widerstandspotenzialen in der Zeit des ›weltweit hegemonialen Neoliberalismus‹, wo "eine trag- und mehrheitsfähige linke Alternative noch nicht in Sicht ist" (19), zu einer begründet bedrängenden gemacht zu haben. Es ist wohl kein Zufall, dass der Verf. dabei auch die in der marxistischen Tradition meist argwöhnisch beäugte Religion im Rückgriff auf Marx als ›Seufzer der bedrängten Kreatur‹ bewertet, die zur materiellen Gewalt werden kann, wenn es gelingt, den darin eingeschlossenen Protest "mit fundierter Kapitalismuskritik und bewusster Strategiebildung zu verbinden" (29). Vielleicht macht dieser ›Seufzer‹ dasjenige aus, das im gesellschaftlichen Sein und Bewusstsein als Subversion wirksam werden kann: das ›Etwas‹ im Menschen, das sich dagegen wehrt, dass das, was ist, alles sein sollte.
Dick Boer

Quelle: Das Argument, 50. Jahrgang, 2008, S. 555-557