Drucken
Kategorie: Rezensionen

Wolfgang Maderthaner u. Lutz Musner, Die Selbstabschaffung der Vernunft. Die Kulturwissenschaften und die Krise des Sozialen. Wien 2007. 120 S.

Es ist dies nicht die erste Lanze, die die Autoren für eine Theorie und Praxis der Kulturwissenschaften brechen, die sich der Gesellschaftlichkeit ihrer Gegenstände bewusst sind (vgl. auch Lutz Musners Beitrag im Schwerpunkt dieses Heftes). Die Frontstellungen werden klar benannt: gegen "die Reduktion des Sozialen auf das Symbolische, die Reduktion von Klassen auf Lebensstile, die Verschiebung des Politischen ins Ästhetische, die Entkoppelung der Ökonomie von Politik und Gesellschaft und die Inszenierung eines Massenindividualismus, der die prekären sozialen Bedingungen seiner Möglichkeit nicht mehr kennt" (100).

"Als Kulturanalyse ohne Gesellschaftsreferenz [...], ohne Durchgriff auf das ›Reale‹, das Banale und Materiale des Alltags paraphrasieren sie bloß die neuen politischen Hegemonien, ohne sie kenntlich und durchschaubar zu machen" (101). Wo die Wissenschaft ihre Gegenstände in ein "selbstreferentielles [...] System" einschließt, Kultur mithin "auf nichts anderes als auf sich selbst" verweist (42), ist das Band zu den sozialen Lebenswelten durchschnitten. Die nicht ganz glückliche, weil leicht misszuverstehende Rede von der "Kultur als der anderen Seite des Sozialen" (43) gewinnt ihre Plausibilität in dieser Konstellation, denn nur in Verhältnissen, in denen das mächtig gewordene Individuum sich einbilden kann, der "Gesellschaft" überhaupt entwachsen zu sein, kann es sich seine Kultur als eine unabhängig von seiner Gesellschaftlichkeit ihm zukommende Errungenschaft imaginieren. Das Kulturelle erscheint dann nicht mehr als eine Dimension allen konkreten Verhaltens zu den realen Existenzbedingungen, sondern als etwas "Anderes", das dem Sozialen als dessen "andere Seite" allererst wieder beigebracht werden muss.
Um mehr zu sein als staatstragende Paraphrase, müssen Ansätze praktiziert werden, die "das Relationale kultureller Phänomene betonen" (106). Mit Bourdieu sollen "symbolische Prozesse und Produkte in einen sozialen Raum" zurückübersetzt und deren "Korrespondenzen mit Machtpositionen, sozialen Netzwerken und Abhängigkeiten" aufgespürt werden. Eine "relationale Kulturanalyse" werde ihre Objekte nicht nur im Schnittpunkt von Diskursen, Medien und Bildern analysieren, sondern auch als "Funktion im ökonomischen Feld sowie als Instrument sozialer Distinktion und Herrschaft" (107). Nach Jahren der Dekonstruktion, die jedes Allgemeine unter den Verdacht des Totalitären gestellt hat, scheuen sich die Autoren nicht, von einer "Wiederherstellung des Menschen" zu sprechen, "als einem historischen, [...] handlungsbewussten, [...] interessegeleiteten [...] Subjekt" (110). Wie nun Kulturwissenschaften konkret betrieben werden sollen, in einem Horizont, der die "Erkenntnisgewinne postmoderner Kulturanalyse" (108) in einer gesellschaftskritischen Konzeption aufhebt, die "die Siege und Niederlagen der Klassen" (106) wieder in den Blick zu bekommen sucht - diese Frage bleibt offen. Elemente ihrer Beantwortung finden sich in einem Forschungsprojekt zur Wiener Moderne, das "kulturelle Phänomene und Prozesse als Artikulation sozioökonomischer Konstellationen versteht" (vgl. Lutz Musner, Kultur als Textur des Sozialen, Wien 2004, 113).
So sehr der Kritik an einer Kulturwissenschaft zuzustimmen ist, die es verabsäumt, "das gegenseitige Bestimmungsverhältnis von Kultur und Ökonomie neu zu konzeptualisieren" (115), so unbefriedigend bleibt, trotz kritischer Intention, die einen Großteil des Bändchens füllende Analyse der Gegenwartsverhältnisse. So scheint den Autoren, dass unter den Bedingungen von "Marktfundamentalismus" und eines "exzessiven Konsumindividualismus" die Machtverhältnisse "tendenziell unsichtbar" geworden sind (44) - Herrschaftskritik, die sie ins Visier nimmt, musste noch stets dem Konformismus des wissenschaftlichen Betriebs abgerungen werden. Sie folgen unkritisch dem Selbstbild des Kritisierten, etwa wenn dem Börsenhandel das "Symbolische" seiner Ökonomie geglaubt wird (35), ohne an das Platzen der Blase zu erinnern, mit der sich die Wirklichkeit hinterm Rücken der Spekulanten durchsetzt; oder wenn von der "neuen, immateriellen Produktionsweise" die Rede ist (99), die gewiss nicht weniger materielle Voraussetzungen hat als die Stahlindustrie. Hier wird eben der modische Diskurs bedient, dessen Kritik den eigentlichen Gegenstand dieser "intellektuellen Streitschrift" bildet (11). Mit welchen Denkwerkzeugen die Analyse der Gegenwart besser, weil der Intention der Autoren genauer entsprechend betrieben werden könnte, darüber müsste allererst eine Diskussion in Gang kommen. Auf Antonio Gramsci, der in dem Bändchen keinerlei Rolle spielt, wäre an erster Stelle zurückzugreifen, hat er doch Vorschläge zur Konzeptualisierung von Produktions- und Lebensweisen gemacht, an denen das eingreifende Denken wieder lernende Kulturwissenschaften Maß nehmen müssten.
Peter Jehle

Quelle: Das Argument, 50. Jahrgang, 2008, S. 565-566