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Kategorie: Rezensionen

Andy Stern: A Country That Works. Getting America Back on Track. New York 2008. 240 S.

Als Vorsitzender der Service Employees International Union (SEIU) repräsentiert Stern eine innergewerkschaftliche Reformerfigur. 2005 war er Initiator der Abspaltung der Changeto-Win-Koalition vom Dachverband AFL-CIO. Sein Buch ist auch als Rechtfertigung der Abspaltung zu lesen. Die Hauptgefahr für die US-Arbeiterbewegung sieht Stern im Niedergang des gewerkschaftlichen Organisierungsgrades. "Viele der heutigen Herausforderungen [...] sind selbstverursacht, insbesondere als Folge der Unterfinanzierung und Geringschätzung der Aufgabe, Arbeiter zu organisieren." (53f) Dagegen strebt Stern ein Gleichgewicht von politischem Lobbyismus und Mobilisierungsoffensiven an: "Ein höherer Organisierungsgrad [erlaubt] es uns in kurzer Zeit stark zu werden, um die Politik langfristig zu verändern." (94)
Sterns in einem populären Stil geschriebenes, anscheinend an Arbeiter gerichtetes Buch, das teilweise aus Lebenserinnerungen besteht, geht aus von der Annahme, dass die USA von einer "dritten Wirtschaftsrevolution" gekennzeichnet seien und sich "von einer Massenproduktionsund Industrieökonomie zu einer Wissens-, Netzwerk-, Dienstleistungs- und Finanzökonomie" gewandelt haben. Als Alternativen zu wachsender sozialer Ungleichheit und Prekarisierung schlägt er gemäßigt-linke Konzepte wie Arbeitsmarktreformen, ein allgemeines Gesundheitssystem, eine progressive Einkommenssteuer und höhere Bildungsausgaben vor, mit den Gewerkschaften als maßgeblicher Triebkraft für solche Reformen (14).
Die Abspaltung vom Dachverband rechtfertigt Stern damit, dass seine Reformvorschläge dort ignoriert worden seien. Zu diesem gehör(t)en: (1.) Die Gründung großer Branchengewerkschaften durch Zwangszusammenschlüsse der zahlreichen konkurrierenden Einzelgewerkschaften, (2.) die Schaffung von Anreizen für die einzelnen Gewerkschaften, Mitgliederoffensiven zu starten (durch partielle Rückerstattung der an den AFL-CIO abgeführten Mitgliedsbeiträge), (3.) eine auch politisch motivierte geographische Verlagerung der Organisierungskampagnen in den Süden und Südwesten, (4.) der Kampf gegen die Ausbreitung von nicht-sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen mit niedrigen Löhnen à la Walmart, (5.) die Forcierung der Transnationalisierung der Gewerkschaften entlang der transnationalen Wertschöpfungsketten, (6.) die ethnisch-rassische Diversifizierung der gewerkschaftlichen Führungsstrukturen, (7.) die Schaffung von mehr innergewerkschaftlicher Transparenz und (8.) die Beförderung der Teilnahme von Gewerkschaftsmitgliedern an gesellschaftlichen und politischen Reformvorhaben, die allen Arbeitern zugute kommen würden (88). Außerdem fordert Stern ein Überdenken der traditionellen Allianz mit der Demokratischen Partei: "Das Andocken unser Politik an demokratische Politiker hat sich als eine falsche Strategie der US-Arbeiterbewegung erwiesen." (93)
Sterns Forderungen greifen entscheidende Kritikpunkte am Zustand der US-Gewerkschaften heute auf. Aber anders als radikale Gewerkschaftsreformer wie Kim Moody, Bill Fletcher Jr. oder Stanley Aronowitz geht er offenbar davon aus, dass sich Arbeiter nicht selbst organisieren können, sondern eines Strategic Organizing Center bedürfen (98). Stern glaubt nicht, dass innergewerkschaftliche Demokratie Voraussetzung von erfolgreicher Gewerkschaftspolitik ist und verspricht zur Milderung der fehlenden innerorganisatorischen Demokratie lediglich "accountability in leadership" (88).
Das Hauptproblem ist jedoch das fehlende Verständnis von Klassenkampf. Die "Klassenkampfmentalität " sei "ein Überbleibsel aus einer früheren, härteren Zeit der Industriegewerkschaften" (70f). Stattdessen sollten sich die Gewerkschaften auf die Mitgliederverstärkung konzentrieren und dabei ihre "Strategien gegenüber den Arbeitgebern modernisieren und deren Wettbewerbserfordernisse berücksichtigen" (78). Offenbar hat Stern keinen Begriff vom Zusammenhang der wettbewerbskorporatistischen Welle, dem massiven Rückgang der Streikaktivitäten seit den 1980er Jahren, des sinkenden gewerkschaftlichen Organisierungsgrades und der allgemeinen Lohnentwicklung. Dabei korrespondiert grundsätzlich die gemeinsame ideologische Perspektive von autoritärer Gewerkschafts- und Unternehmensführung mit der willfährigen Akzeptanz von wettbewerbskorporatistischen Tarifabschlüssen. Es ist von daher kein Zufall, dass sich der erste Eindruck revidiert: nicht die Arbeiter, sondern die Unternehmensführungen scheinen Sterns Adressaten zu sein. So lobt Stern die Sozialpartnerschaft und betont die Vorteile der Gewerkschaften für die Unternehmensleitung. Regelmäßig verfällt er kapitalistischem und rechtspopulistischem Anti- Etatismus und marktapologetischem Duktus: "Verantwortungsbewusste Gewerkschaften können dazu beitragen, den Wettbewerb auf den Märkten [...] ohne die Inflexibilität staatlicher Gesetze und Regulierungen [...] auszugleichen. Hinzu kommt, dass Gewerkschaften ohne Steuererhöhungen oder neue Regierungsbürokratien auskommen." (17) Oder wenn es über vergangene Erfolge heißt: "[Die Gewerkschaften] entwickelten sich zu einem Marktmechanismus zur Belohnung der Arbeit - nicht nur für ihre Mitglieder, sondern für die amerikanische Gesellschaft insgesamt." (38) Hier zeigt sich, dass Stern keineswegs mit dem alten "business unionism" der AFL-CIO-Gewerkschaften bricht und seine Aussagen über die historische Reformkraft kämpferischer Arbeiter und Gewerkschaften rein nostalgischen Wert haben. Das ist besonders ärgerlich, da Stern selbst einst Wilde Streiks organisierte und heute der Präsident einer der erfolgreichsten Gewerkschaften in den USA und weltweit ist und mit seinen strategischen Erwägungen genau jene erfolgreichen Taktiken und Strategien der letzten 10-15 Jahre in Frage stellt, welche die SEIU zu einer so dynamischen Gewerkschaft haben heranreifen lassen.
Die Möglichkeit, durch eine Rebellion von unten - wie z.B. durch den Zusammenschluss SMART (SEIU Members Activists for Reform Today) - fortschrittlichen Einfluss auf die Entwicklung der SEIU-Reformstrategie zu nehmen, sollte nicht unterschätzt werden. Dabei kommt von Sterns Forderungen die nach einem universellen Gesundheitssystem einer fundamentalen Alternative zu einem Kapitalismus, den er als "relentless, unyielding and disorienting " bezeichnet (4), noch am Nächsten.
Sam Putinja (Toronto) Aus dem Englischen von Ingar Solty

Quelle: Das Argument, 50. Jahrgang, 2008, S. 921-922