Klaus Meier u. Evelin Wittich (Hg.): Theoretische Grundlagen nachhaltiger Entwicklung. Beiträge und Diskussionen. Berlin 2007. 290 S.

Der Band dokumentiert ein Seminar des Gesprächskreises Nachhaltigkeit der Rosa- Luxemburg-Stiftung (RLS) im Mai 2006. Er zeugt vom kontinuierlichen Interesse seitens der RLS, den offiziellen Nachhaltigkeitsdiskurs, der seit den ›Erdgipfeln‹ der 1990er Jahre ein ganzes Feld globaler Diplomatie beschäftigt und entsprechende Sekundär- und auch Gegendiskurse ausgelöst hat, zum Gegenstand einer ernsthaften gesellschaftstheoretischen Auseinandersetzung zu machen - und ihn nicht bloß ›ideologiekritisch‹ von außen im Namen traditioneller linker Politikmodelle zu denunzieren.

Nachdem schon 2002 auf einer Konferenz anlässlich des Johannesburg-Gipfels und ausgehend von Weiterentwicklungen ökologischer und feministischer Kritiken aus der Wendezeit der DDR konzentriert über die Frage diskutiert worden war, "ob soziale Gerechtigkeit substanzieller Bestandteil von Nachhaltigkeit sei" (9), markiert dieser Band den "Anfang" für ein "auf dieses Thema ausgerichtetes interdisziplinäres Netzwerk" (11). Die sieben Leitfragen, mit denen Klaus Meier die Debatte eröffnete, sind nicht nur für Bildungszwecke - im Rahmen der "UN-Weltdekade ›Bildung für nachhaltige Entwicklung‹ 2005-2014" (ebd.) - von großer Bedeutung: erstens die "Suche nach Ansätzen zu einer Entwicklungsgeschichte von Natur und menschlicher Gesellschaft"; zweitens das Erfordernis der "Öffnung disziplinärer Zugänge"; drittens die Frage eines angemessenen Umgangs mit dem Erbe des "Staatssozialismus" (13) und den "Arbeiten von Karl Marx zur Politischen Ökonomie" - mit einem Fenster zu den von der Gruppe um Karl Hermann Tjaden vorangetriebenen Untersuchungen zu Theorie und Geschichte "gesellschaftlicher Reproduktion", bes. der "ökonomisch geprägten Mensch-Natur-Beziehungen" (14); viertens die Herausforderung durch das neoliberale Welt- und Menschenbild, das von der Behauptung getragen ist, es gäbe dazu keine Alternative; fünftens die Formulierung einer "Reproduktionstheorie der Koevolution von Natur und menschlicher Gesellschaft" - gestützt auf die Arbeiten von Adelheid Biesecker und Sabine Hofmeister (15); sechstens die Anforderung, das "Verhältnis von Deskriptivem und Normativem im theoretischen Nachhaltigkeitsdiskurs" zu klären; sowie siebtens konkreter zu beschreiben, "wie das Projekt des ökologischen und sozialen Umbaus der gesamten Gesellschaft denn nun auszusehen hat" (16). Anhand der Dokumentation der Vorstellungsrunde und der Diskussionen im Anschluss an jedes Referat lässt sich im Einzelnen nachvollziehen, dass diese Leitfragen nicht aus den Augen verloren wurden.
Der Band fasst einschlägige Debattenlinien in hochkarätigen Beiträgen zusammen - und leistet insofern weit mehr als bloß eine Dokumentation eines netzwerkinternen Diskussionsprozesses. Dieter Klein analysiert den gegenwärtigen "finanzdominierten Kapitalismus" (46) und seine "Ökonomie der Enteignung" (53). Dessen zerstörerische Wirkungen auf die Umwelt gingen dabei v.a. von Kurzfristorientierung, Unterkomplexität und Beschleunigung als charakteristischen "Grundeigenschaften der Finanzmärkte" aus (50ff). Hubert Laitko untersucht das Verhältnis von Deskriptivem und Präskriptivem im Nachhaltigkeitskonzept. Er begründet die "Nichthintergehbarkeit des Ökologischen" als ein bei aller Pluralität der Gerechtigkeitsvorstellungen erforderliches "konsensuelles Minimum" (109) und geht dabei auf die "Pionierleistung des Meadows-Teams" ein (114) - vor dem Hintergrund der Überlegung, dass die "unübersichtliche Welt der Finanzderivate" offenbar Instrumente enthält, mit denen auf profitbringende Weise "auch Schrumpfungsprozesse" gesteuert werden können (130). Am "Modelfall Klimawandel" (130) verdeutlicht er die von ihm behauptete "Schichtstruktur des Nachhaltigkeitsproblems", aufgrund der er "die Linke" auffordert, den gegenwärtigen "Mangel eines originär linken Transformationsprojekts" durch ein Zusammendenken des "Problems der nachhaltigen Entwicklung mit dem der demokratisch-sozialistischen Transformation " zu beheben (142ff). Biesecker und Hofmeister verbinden "ökologische Ökonomik" mit feministischer Forschung, um eine "alle produktiven Prozesse zusammenführende Kategorie (Re)Produktivität" zu entwickeln, die den Zusammenhang des Sozialen und des Ökologischen "sichtbar, verstehbar und damit gesellschaftlich gestaltbar" mache (186). Die herrschende "Produktions-Reproduktionsdifferenz" (187) könne dadurch überwunden werden, dass "ein im (Re)Produktiven verankerter ökonomischer Raum" ein "bewusst konstituierter sozial-ökologischer Handlungsraum" wird (202). Joachim Spangenbergs "historisch- kritischer Abriss zum Nachhaltigkeitskonzept" (277) dringt bis zur Problematik eines "Komplexitätsmanagements" vor (215), das die Irrwege der "ökonomischen Komplexitätsreduktion " (231) und insbesondere die destruktive Oberflächlichkeit der Neoklassik (236ff) vermeidet. Stattdessen könne ein mehrdimensionales "Prisma der Nachhaltigkeit" (256) den Einstieg in ein umfassendes Forschungsprogramm einer normativ fundierten integrativen Theorie komplexer Systeme bilden (270f). Klaus Meiers Beitrag zu Rosa Luxemburg öffnet ein wichtiges Fenster zur marxistischen Theorieentwicklung, indem er ihre Untersuchungen zur "ursprünglichen Akkumulation" mit der jüngeren Debatte über die "Ökonomie der Enteigung " (David Harvey) verknüpft. Ulrich Schachtschneider kommentiert prägnant die jüngere bundesdeutsche Debatte zur Gesellschaftstheorie - von Ulrich Beck, Jürgen Habermas und Niklas Luhmann über Alain Lipietz bis zu Joachim Hirsch und Roland Roth.
Im distanzierten Rückblick fällt auf, dass eine Auseinandersetzung mit der systematisch verstandenen Kritik der politischen Ökonomie ebenso fehlt wie die Thematisierung der Bedeutung ›imperialistischer‹ oder ›weltsystemischer‹ Hierarchien. Auch eine explizite Theorie der Eigenlogik politischer Auseinandersetzungen, eine konkretere Erörterung der sozialökologischen Transformationen oder eine Auseinandersetzung mit den politischen Ökologien des globalen Südens - die anscheinend in der gegenwärtigen Debatte immer noch von systemtheoretischen Abstraktionen verdeckt werden - würde man sich wünschen, um das Thema einer ebenso radikalen wie realistischen Politik der Nachhaltigkeit wirklich am Kragen zu packen. Aber die Debatte geht weiter - und dieser Band bietet einen ganz hervorragenden Einstieg.
Frieder Otto Wolf

Quelle: Das Argument, 50. Jahrgang, 2008, S. 931-933