Peter Weichhart: Entwicklungslinien der Sozialgeographie. Von Hans Bobek bis Benno Werlen. Stuttgart (Sozialgeographie kompakt 1) 2008. 439 S.

PETER WEICHHART unternimmt in diesem aus einer Vorlesung hervorgegangenen Werk den verdienstvollen Versuch, die Geschichte der Sozialgeographie, hier als "Entwicklungslinien" bezeichnet, zusammenfassend und verständlich darzustellen. Dies ist ein überfälliges Werk. Manche Studierende sehen das in der UTB-Reihe erschienene Taschenbuch von BENNO WERLEN als Lehrbuch an, stehen mit dieser Erwartungshaltung dann aber am Ende doch etwas enttäuscht da, weil dort vor allem die Entwicklung der Sozialgeographie dergestalt gezeichnet wird, dass sie dann am Ende in den (vorläufigen?) Schlusspunkt der WERLENschen Auffassung von guter Sozialgeographie einmündet. Dem gegenüber ist WEICHHART offener und weniger apodiktisch, wenngleich er natürlich auch seine Lieblingsthemen und -ideen hat.

Das Werk stellt in den ersten Kapiteln die historische Anfangsphase dar, die ungefähr in den 1950er Jahren anzusiedeln ist. Das Anliegen und der Ansatz HANS BOBEKs wird breit dargelegt, die Ergänzungen durch WOLFGANG HARTKE werden referiert. Die Debatten um die Stellung der Sozialgeographie unter all den anderen Bindestrichgeographien und zum Landschaftsparadigma werden aufgearbeitet und der HARTKEOTREMBA- Streit wird sehr ausführlich behandelt. (Der Wirtschaftsgeograph ERICH OTREMBA 1961 bestritt die Notwendigkeit einer eigenen Sozialgeographie). Dem Diktum von GÜNTER HEINRITZ 1999 über den Weg der Sozialgeographie der Ruppert-Maier-Schule (als Wissenschaft von den verorteten Daseinsgrundfunktionen) als "Siegeszug ins Abseits" schließt sich WEICHHART an.
Nur kurz wird auf das Verhältnis zur Soziologie eingegangen, umso breiter wird - bei diesem Autor nicht verwunderlich – der Raumbegriff reflektiert, selbstverständlich unter besonderer Beachtung der Drei-Welten-Lehre POPPERs. Nach diesen grundsätzlichen Überlegungen wird auf unterschiedliche Entwicklungslinien in eher systematischer, de facto aber auch in historischer Perspektive eingegangen. Nach der Sozialraumanalyse kommt auf circa einhundert Seiten ausführlich die Wahrnehmungsgeographie als eine dominante Form der Mikrosozialgeographie zur Geltung. Die zweite wichtige Linie in der Mikrosozialgeographie ist für ihn die handlungsorientierte Sozialgeographie. Zwar referiert WEICHHART ausführlich WERLEN bzw. dessen Deutung von ANTHONY GIDDENS, setzt aber auch hier eigene Akzente - oder wie er formuliert: "Nach diesen knappen Hinweisen auf das umfassende Programm einer ‚Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen' von BENNO WERLEN wollen wir im Folgenden einige Gänge ‚zurückschalten' und zunächst einige der wichtigsten Grundbegriffe einer handlungstheoretisch fundierten Sozialwissenschaft besprechen" (S. 257). Nicht nur die Basisbegriffe der Handlungstheorie, sondern auch GIDDENS selbst werden dann ausführlich unter die Lupe genommen. Herzstück der WEICHHARTschen Ideen dazu ist die Symbolic Action Theory von E. E. BOESCH. Auch noch im selben Hauptkapitel 10 ("Handlungsorientierte Sozialgeographie") wird der konstruktivistische Raumbegriff dargestellt. Dieses Thema steht an der Überleitung zum letzten großen Abschnitt (mehr als 40 Seiten), der sich dem Poststrukturalismus, dem Cultural Turn und letztlich der neuen Kulturgeographie widmet.
Eine vertiefte inhaltliche Debatte über die "Richtigkeit" der WEICHHARTschen Argumentation kann hier nicht geführt werden, zumal sich WEICHHART sehr um Neutralität bemüht, indem er relativ ausführlich aus Schlüsseltexten zitiert und so sehr stark die Intentionen der Originalautoren durchscheinen lässt. Wo er klare eigene Akzente setzt, so sind sie meist schon seit geraumer Zeit aus anderen Publikationen und Vorträgen bekannt. Dazu gehören besonders seine Auffassungen über "Räumlichkeit" insbesondere auf der Mikroebene (oder vielleicht sogar schon Nanoebene des mehr oder weniger großen Zimmers), über den "Raumexorzismus", seine sechs Raumkonzepte, oder sein Verständnis von der Mensch- Umwelt-Beziehung.
60 Jahre Paradigmengeschichte auf den Punkt zu bringen ist kein einfaches Unterfangen. In diesem Buch spricht ein Insider, der vieles miterlebt und über vieles auch viele Jahre nachgedacht hat. Dabei hat er eine klare Einschätzung des Diskurses in der Wissenschaftlergemeinschaft gewonnen, die er hier niedergelegt hat und zu der er auch steht. Andere Zeitzeugen werden manche Einschätzung nur teilweise teilen.
Das Buch von PETER WEICHHART will nicht vorrangig die Erträge der sozialgeographischen Forschung darstellen, sondern eben die Entwicklungslinien. Dankenswerterweise nimmt es WEICHHART an mehreren Stellen dennoch auf sich, exemplarisch Forschungsergebnisse der Sozialgeographie relativ breit vorzustellen: Das ist die Sozialraumanalyse im Gefolge der Chicagoer Schule, sodann werden für die Mental-Map-Forschung auf mehr als zwanzig Seiten Forschungsbeispiele vorgestellt. Man wird allerdings darüber streiten können, ob die Sozialraumanalyse viel mit der BOBEK-HARTKE-Schule zu tun hat und ob die behavioristische Erforschung von kognitiven Karten zur Sozialgeographie gehört. Schließlich werden später auch Befunde der handlungsorientierten Sozialgeographie aufgegriffen. Vor allem werden hier ein paar unter der Regie von BENNO WERLEN angefertigte empirische Studien referiert, was doch etwas enttäuschend wenig bzw. eng ist. Ob die Auswahl aufgrund ihrer Qualität oder Repräsentativität erfolgte oder eine bestimmte Richtung gepusht werden soll, oder ob es gar nicht mehr an empirischen Befunden gibt, ist nicht ganz klar. So wird jedenfalls die des Öfteren gehörte Auffassung, es würde viel über Sozialgeographie räsoniert, aber wenig empirisch gearbeitet, noch verstärkt.
Dies Buch ist größtenteils ein sehr sympathisch wirkendes Buch, weil die Argumentation nicht verbissen und allzu "straight" daherkommt, sondern breit entwickelt wird und WEICHHART versucht, den Leser (oder die Leserin) Schritt für Schritt vom Sinn der für ihn zentralen Aspekte und Argumente zu überzeugen. Er nimmt ihn (oder sie) an der Hand auf seinem Gang von den Anfängen bis zur Gegenwart durch das "Museum Sozialgeographie" mit, zeigt auf die zentralen Exponate und erläutert ihre Bedeutung mit "museumspädagogischem" Geschick anschaulich.
Auch wenn man es als (billiges und nahe liegendes) Klischee bezeichnen mag, kann ich doch nicht verhehlen, dass mir noch ein anderes Bild beim Lesen immer wieder durch den Kopf ging: Der Tonfall, den man beim Lesen mithört, oder die Diktion, die man lesend aufnimmt (oder konstruiert), spiegelt für mich ein wenig Wiener Kaffeehausatmosphäre wider. Das Buch ist zwar kein Werk im Dialog, aber es kommt doch nahe an die Situation heran, wo zwei Besucher an einem Ecktisch ohne Zeitdruck über die Sozialgeographie räsonieren und peu à peu zentrale Elemente und Probleme heraus schälen, sich manchmal in Missverständnissen oder Nebensächlichkeiten verbeißen, oftmals mit Hilfe von Anekdoten Sachverhalte etwas umständlich veranschaulichen, aber doch allmählich gelassen die zentralen Punkte abhandeln. Allerdings geht es dabei auch nicht ohne erhobenen Zeigefinger und Rechthaberei ab.
Den meisten Lesern dürfte das Schlusskapitel aus dem Herzen sprechen, das die Paradigmenvielfalt zur Tugend erhebt, getreu dem in der Blütezeit der Sozialgeographie gern zitierten Worte des Vorsitzenden Mao: "Lasst tausend Blumen blühen." Gewiss soll man in einer pluralistischen Gesellschaft in der Wissenschaft keinen Stalinismus praktizieren und diese oder jene Richtung der Sozialgeographie zur allein selig machenden erklären. Allein, so bequem der Pluralismus im fachinternen Diskurs sein mag, so wenig ist dem Renommee der Geographie im Allgemeinen und der Sozialgeographie im Besonderen geholfen, wenn ihr Image allzu schillernd oder ihr nach außen gezeigtes Profil ohne Konturen ist. Dies aber ist eine andere Baustelle, für die PETER WEICHHART nicht mehr und nicht weniger Verantwortung trägt als jeder andere etablierte Humangeograph.
Jürgen Pohl

Quelle: Erdkunde, 63. Jahrgang, 2009, Heft 2, S. 197-198