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Kategorie: Rezensionen

Rüdiger Glaser: Klimageschichte Mitteleuropas - 1200 Jahre Wetter, Klima, Katastrophen. Darmstadt 2008. 264 S. 2., akt. und erw. Aufl.

In seiner aktuellen Auflage der „Klimageschichte Europas" wagt sich der Klimahistoriker Rüdiger Glaser weit in die Zukunft vor, denn er verknüpft diese immer wieder mit vergangenen und gegenwärtigen Entwicklungen und Problemstellungen. So werden die bereits in der Erstauflage dargelegte Rekonstruktion des mitteleuropäischen Klimas für einen Zeitraum von 1000 Jahren und die damals erhobenen Daten in der Neuauflage dazu genutzt, um Beiträge zu räumlichen Planungen zu leisten.

Er demonstriert dies eindrucksvoll an der Rekonstruktion des Neckarhochwassers des Jahres 1824, welches für das aktuelle Hochwassermanagement an diesem Fluss zu Rate gezogen wird. Diesem Ansatz folgend richtet er seinen Blick auch auf die mögliche Entwicklung des Klimas insgesamt und dessen Auswirkungen auf Wasser-, Land- und Forstwirtschaft, Biodiversität und Gesundheit, und scheut sich demgemäß nicht, zu Fragen der aktuellen Entwicklung des Klimas Stellung zu nehmen. Trotz aller solcher Verknüpfungen von historischer Analyse und Prognose entzieht GLASER dennoch seine historischen Daten weitgehend einer allzu oft praktizierten Relativierung des aktuellen Klimawandels durch historische Scheinanalogien gemäß dem Motto "Das gab es alles schon einmal". Er stellt vielmehr deutlich heraus, dass das derzeitige Klima ein Treibhausklima ist, also eindeutig durch die vom Menschen eingebrachten Treibhausgase bestimmt wird. Denn gerade das oftmals mit dem Treibhausklima in Verbindung gebrachte mittelalterliche Wärmeoptimum hält einfachen Analogien nicht stand, da es seine Ursache in einer Veränderung des Haushaltes der Sonnenenergie hatte und anthropogen gänzlich unbeeinflusst war. GLASER wagt es sogar, die aus der historischen Aufarbeitung gewonnenen Erkenntnisse bezüglich des Treibhauseffektes mit Gesichtspunkten der Entwicklung des allgemeinen politischen Handlungsrahmens in Mitteleuropa zu verknüpfen. Eindrucksvoll ist in diesem Zusammenhang eine Karte, die schematisch die regionalisierte Vulnerabilität Deutschlands unter dem Klimawandel thematisiert (S. 244/34, Abb. 102).
Über all dem bleibt GLASER seiner Hauptaufgabe, der Klimarekonstruktion, treu. Das kann er einmal dank der berechtigten Anerkennung, die der ersten Auflage der „Klimageschichte“ zuteil wurde, selbstbewusst tun. Noch gewichtiger ist aber, dass GLASER überzeugend nachweisen kann, dass historische Daten zu nicht weniger verlässlichen klimatischen Aussagen führen als solche aus naturwissenschaftlichen Quellen. Vielmehr haben diese oftmals den Vorteil taggenauer Datierung, exakter räumlicher Verortung und zahlreicher Indizien, die sich auf die Intensität von Witterungserscheinungen beziehen. Dazu sind sie nicht selten verbunden mit Hinweisen auf zeitgenössische religiöse, mythologische oder astrologische Deutungsmuster von Witterung und Wetter. Das ermöglicht geisteswissenschaftliche Zugänge zum Klima, wie etwa dessen Wahrnehmung. Demzufolge betrachtet GLASER nun verstärkt die kulturellen Auswirkungen von Wetter- und Witterungsereignissen sowie Naturkatastrophen wie Hitze, Fluten, Eis und Sturm. Dies entspricht der seit einiger Zeit in der Forschung zu beobachtenden Verschiebung von einer reinen Rekonstruktion des Klimas hin zu einer Untersuchung der kulturellen Auswirkungen.
Die stete Fortführung diverser Projekte zur historischen Klimatologie in den Jahren seit der Erstaulage 2001 führte zu einer Erweiterung des Methodenspektrums und zu neuen Erkenntnissen. Das schlägt sich in der Neuauflage nieder. So verweist schon deren Titel auf eine Ausweitung des Darstellungzeitraumes um weitere 200 Jahre in die Vergangenheit, also bis um 800, mithin zu den Anfängen der Schriftlichkeit im 8. Jahrhundert in Mitteleuropa. Darüber hinaus verlängerte GLASER den Zeitraum der jahrweisen Witterungsbesprechungen in die Gegenwart hinein um weitere 50 Jahre bis 1750, so dass damit ein nahtloser Anschluss an die Instrumentenmessreihe, die in Deutschland Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzt, gegeben ist. Die davor schon in der ersten Auflage bearbeiteten Jahrhunderte werden zudem differenzierter dargestellt.
Insgesamt demonstriert dieses Buch in überzeugender Weise die Möglichkeiten einer Verknüpfung eines archivalienbasierten Analyseansatzes auch für naturwissenschaftliche Fragestellungen, wie die Entwicklung des Klimas. Der spezielle Vorteil dieses Zugangs besteht in der Rückbindung dieser Daten auf Menschen und Gesellschaften, was zu einer Erweiterung des Erfahrungs- und Beobachtungshorizonts führt und damit einen umfassenden Beitrag für zukunftsgerichtete Forschungen zur Entwicklung unserer Umwelt zu leisten erlaubt.
Winfried Schenk und Verena Twyrdy

 

Quelle: Erdkunde, 63. Jahrgang, 2009, Heft 2, S. 202-203