David Fitzgerald: A Nation of Emigrants. How Mexico Manages its Migration. Berkeley, Los Angeles u. London. 2009. 243 S.

Auf einer Party von US-Diplomaten zum Gegenstand seines Buches befragt, bekommt der Autor hämisch zu hören: "Über die mexikanische Emigrationspolitik? - Die gibt es doch nicht!" Diese Sichtweise ist typisch, sowohl in Mexiko als auch in den Vereinigten Staaten von Amerika. Zumeist wird auf die US-amerikanischen Anstrengungen zur Verhinderung von Migration geschaut und auf mexikanischer Seite eine Nicht-Politik des laissez-faire angenommen. Und doch, Fitzgeralds Studie zeichnet die sehr kreative und ausgeklügelte, wenn auch nicht immer ganz erfolgreiche Auswanderungs- und Ausgewandertenpolitik des mexikanischen Staates nach.

Dabei gelingt es dem Autor anhand ethnographischer Beobachtungen in zwei kleinen Regionen des nördlich von Mexiko Stadt gelegenen Bundesstaates Jalisco - einer der klassischen Herkunftsstaaten mexikanischer MigrantInnen in den USA -, verallgemeinernde Schlüsse zu ziehen, die auch für andere Länder gelten (können), die sehr hohe Emigrationsraten aufweisen. Fitzgeralds These lautet, dass der mexikanische Staat das Verhältnis von Regierung, Territorium und Bevölkerung neu justieren muss, will er sich an den Dauerzustand hoher Emigrationsraten anpassen und nicht den Kontakt zu seinen Staatsbürgern verlieren. Der mexikanische Staat habe dabei von der Katholischen Kirche gelernt, die schon viel länger ihre Mitglieder freiwillig an sich zu binden und zu verwalten weiß, obgleich sie über Staatsgrenzen hinweg leben bzw. es keinen Zwangszugriff auf die Mitglieder gibt (siehe bspw. Kapitel 3). Ziele des Staates sind dabei, die statistische Erfassung der abwesenden Bevölkerung sowie die nationale Loyalität über den Zeitraum der Abwesenheit aufrechtzuerhalten und nicht zuletzt, die MigrantInnen als Ressourcen zu nutzen, also einen Teil der Rücküberweisungen dem staatlichen Budget zukommen zu lassen und über sie als ethnische Lobby im Zielland außenpolitischen Einfluss geltend zu machen. Um diese Ziele zu erreichen, muss ein Staat es schaffen, sowohl MigrantInnen an sich zu binden, die nur für eine kurze Zeit das Land verlassen als auch diejenigen, die dauerhaft migrieren und sogar die Staatsangehörigkeit wechseln. Die staatlichen Strategien Mexikos umfassen u.a. die Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft, des Wahlrechtes in Abwesenheit, das Ausstellen von Identifikationsausweisen durch die Konsulate für undokumentierte MexikanerInnen in den USA (matrícular consular) und den Einsatz des mexikanischen Präsidenten für die Legalisierung undokumentierter MexikanerInnen in den USA. Der Autor wählt fünf Schwerpunkte anhand derer dieses veränderte Verhältnis nachgezeichnet wird: die Problematik einer Politik der Abwesenheit, staatliche Strategien eines Auswanderungslandes, die Lehren der Katholischen Kirche, die Rolle der hometown associations und zuletzt die komplizierten Fragen von citizenship und Zugehörigkeit, wo es nicht zuletzt um die Zustimmung bzw. Ablehnung von Migration in Mexiko geht. In allen Kapiteln nähert sich Fitzgerald historisch der Genese Mexikos als Auswanderungsland und stößt dabei auf spannende Beobachtungen, die einige Neuigkeitsbehauptungen in der Transnationalismusforschung zurechtrücken. So etwa die Gründung von hometown associations von mexikanischen BinnenmigrantInnen zunächst in Mexiko selber (z.B. Organisation derjenigen aus Jalisco in Mexiko Stadt) (Kapitel 4). Diese Organisationen verfügten über weit mehr Einfluss als die heutigen im Ausland gelegenen, die der Transnationalismusforschung als Paradebeispiel für grenzüberschreitende Kooperation und Einflussnahme gelten (z.B. was passiert mit dem Geld, das MigrantInnen für Infrastrukturprojekte in der Herkunftsgemeinde spenden). Fitzgerald weist immer wieder darauf hin, dass die mexikanische Emigrationspolitik häufig von Seiten der USA torpediert wurde, dass heißt wenn Mexiko beispielsweise versucht hat, irreguläre Migration zu unterbinden, haben die USA ihre Grenzen demonstrativ geöffnet, etwa um die Verhandlungsposition Mexikos zu schwächen, als Mexiko kollektive Mindeststandards in Arbeitsverträgen der MigrantInnen verhandeln wollte. Die Studie von Fitzgerald zur Auswanderungs- und Ausgewandertenpolitik Mexikos überzeugt fast ohne Abstriche: Sie ist sehr gut lesbar und trägt Neues zur Forschung im Bereich der governance von Migration bei, die sehr häufig auf die Zielländer fixiert ist. Die fünf Schwerpunkte sind überzeugend gewählt und hinterlassen den Eindruck, der Autor habe nur einen Teil seines empirischen Materials verwertet. Dies ist für eine Buchveröffentlichung in gut verdaulicher Länge sehr angenehm. Allerdings führt die stringente Argumentation an einigen Stellen dazu, interessante Phänomene am Rand liegen zu lassen; so etwa die sich durch Migration verändernden Geschlechterverhältnisse und die Repräsentation von Männern und Frauen. An einer Stelle etwa wird erwähnt (151), dass junge Männer mit Tattoos, kurz geschorenem Kopf und Goldkettchen zum Inbegriff des norteño geworden sind. Dem gegenüber gestellt werden in den USA gewählte Jalisco-Schönheitsköniginnen, die zur Belohnung in alte Trachten gesteckt werden und eine Fahrt in die 'Heimat' (ihrer Eltern) geschenkt bekommen, damit sie ihrer Herkunft bewusst werden. Diese beiläufige Erwähnung lässt Fragen aufkommen zur geschlechtsspezifischen Repräsentation von Nation (wie vielerorts durch Frauen) und Moderne (Männer mit schnellen Autos). An anderen Stellen der Studie wäre zu fragen, wie sich Haushaltsstrukturen und Rollenverteilungen in Gemeinden verändern, in denen überproportional Alte und Frauen leben. Leider ist darüber nur sehr wenig zu erfahren. Die theoretische Auseinandersetzung hätte zum Teil etwas expliziter ausfallen können. Fitzgeralds Bezüge sind zum einen die Transnationalismusdiskussion und zum zweiten die Globalisierungsdebatte zwischen 'Globalisten' und Skeptikern, in der es um (den Verlust) nationalstaatliche Souveränität geht. Diese Debatten haben in den letzten Jahren etwas an Spannung verloren, daher wäre eine Auseinandersetzung beispielsweise mit anderen Arbeiten zur governance von Migration, zu von Foucault inspirierten Gouvernementalitätsstudien oder zur Ethnographie des Staates wünschenswert gewesen, wie sie an einigen Stellen aufscheinen.
Helen Schwenken

 

Quelle: Peripherie, 29. Jahrgang, 2009, Heft 114-115, S. 379-381