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Kategorie: Rezensionen

Massimo L. Salvadori: Fortschritt – die Zukunft einer Idee, aus d. Ital. v. Rita Seuß.Berlin 2008. 123 S.

Seit den Umbrüchen des späten 20. Jh. erneuert sich das Interesse am Fortschritt. Verf. zufolge hat sich die Idee eines kontinuierlichen und unausweichlichen  Menschheitsfortschritts im 18. Jh. als regulatives Handlungsideal etabliert, im 19. Jh. zum »Glauben« verfestigt und schließlich in ihr Gegenteil verkehrt. Sie erscheine heute wie »ein verbrauchter Mythos aus einer anderen Zeit« (7). Verf. verschweigt nicht Fortschritte wie den Zusammenbruch der Kolonialreiche, die zunehmende Gleichstellung der Frau und den Wohlfahrtsstaat (10, 73f, 93). Vorrangig beschäftigt er sich aber mit den »immer dringlicheren globalen Problemen« (10) wie Umweltzerstörung‚ ›Globalisierung‹ und Fundamentalismus. Fortschritt sei »noch nie so unsicher« gewesen »wie heute« (12).

Verf. definiert den Fortschritt v.a. politisch: Das Streben nach immer besseren  Regierungsformen spiele »stets eine zentrale Rolle, ja man kann sagen, dass dieses Ziel der Fortschrittsidee selbst immanent ist« (85). Dagegen spricht jedoch, dass die moderne Fortschrittsidee in der wissenschaftlichen Revolution des 17. Jahrhunderts »verwurzelt« ist (106). Ursprünglich bezieht sie sich primär auf das Wachstum der ›objektiven‹ Erkenntnis, während die Möglichkeit der politisch-moralischen Verbesserung (z.B. von Bacon) als begrenzt eingestuft wurde. Sittlich und politisch ausgeweitet wird die Fortschrittsidee erst in der Hochaufklärung (z.B. bei Kant). Davon unbeirrt defi niert Verf. Fortschritt als »beständige und unbegrenzte Vervollkommnung« der Fähigkeiten »der gesamten Menschheit« (14). Diese Auffassung fi ndet sich heute in fast allen Schriften zum Thema. Sie sollte überdacht werden, weil die Fortschrittsidee in der Regel keine beständige, gleichförmige Entwicklung impliziert, sondern die konflikthafte Verwirklichung von Potenzialen. Das moderne  Geschichtsdenken verarbeitet derart seit einem Vierteljahrtausend ein gespanntes Verhältnis zu den eigenen teleologischen Voraussetzungen. Verf. kommt dem nahe, wenn er zwischen dem Fortschritt als »Möglichkeit« und als einem »notwendigen, dem Wesen und Wirken der menschlichen Entwicklung immanenten Prozess« (15) unterscheidet. Die Vorstellung, erstere Konzeption gründe in der ehrbaren Aufklärung, letztere hingegen im fortschrittsgläubigen 19. Jh. (z.B. Positivismus und Marxismus) (15), ist allerdings ein Klischee. Verf. weiß selbst, dass die Fortschrittsidee gerade im 19. Jh. »immer mehr Anhänger verlor« (22) und seitdem bekämpft wird (8).
Seine Thesen zum 20. Jh. untermauert Verf. durch einen historischen Abriss des europäischen Sozialismus, wobei die reformistischen Strömungen besser abschneiden als die revolutionären (39ff). Der Kommunismus wird zum Inbegriff der Fortschrittsverkehrung erklärt (12f). Allein die besonnene Sozialdemokratie habe die »Pervertierung« (61) vermieden, während die gleichermaßen am Ideal einer »radikalen Umgestaltung der Welt« (106) ausgerichteten »totalitären Diktaturen [...] den Aufbruch in ein rotes beziehungsweise schwarzes neues Zeitalter versprachen« (89f). Kommunismus und  Nationalsozialismus hätten der gleichen »Sehnsucht nach Erlösung« »Ausdruck« verliehen (68)! Durchweg versteht Verf. Fortschritt in diesem Sinne als »Heilslehre« (69): als Verheißung eines Himmelreichs auf Erden (30f). Er folgt damit der auf Karl Löwith zurückgehenden Säkularisierungsthese, nach der sich das neuzeitliche Geschichtsdenken zusehends verweltlicht, ohne jemals seine eschatologischen Wurzeln abstreifen zu können. Diese Theorie begreift Fortschritt als die gewaltsame Durchsetzung der Idealvorstellungen, die bestimmten »Trägern der Fortschrittsidee« (56) vorschwebten. Aus der normativen Diskrepanz zwischen Zwecken und den Mitteln, die zur Zweckrealisierung führen sollen, ergibt sich dann der Zweifel an der Rationalität von Fortschritt. Nur ist der Fortschrittsbegriff eben nicht allein eine Setzung von Idealen, sondern auch die nachträgliche Beurteilung vergangener Veränderungen, die als Verbesserungen empfunden werden. Darin liegt sein Erkenntniswert, über den Verf. kein Wort verliert. Er konzentriert sich darauf, unter dem Eindruck der Weltkriege, der nuklearen Bedrohung und dem Raubbau an der Natur die Zerstörungskraft des ›Fortschritts‹ sichtbar zu machen. Wenn allerdings sogar der Nazismus unter diesen Titel gestellt wird (68ff), was stünde dann wohl in einem Buch über die Idee des Rückschritts bzw. des Niedergangs? Und warum erwähnt Verf. diese Kategorien nicht, obwohl er Entwicklungen aufzählt, auf die sie gut passen würden (z.B. die Bedrohung der Demokratie durch den Aufstieg einer »neuen Plutokratie«; 102ff)? Das Verschwinden der Rückschrittskategorie aus dem Gelehrtendiskurs entspricht einem Zeitgeist, der alles Böse im Fortschritt begründet sieht. Indem er dieser Sicht folgt, vertritt Verf. einen inkonsequenten Universalismus. Einerseits kritisiert er den Menschheitsfortschritt als ›totalitäre‹ Angelegenheit, um andererseits zu beklagen, dass er im Zeitalter der ›Globalisierung‹ hinter die wissenschaftlich-technischen Einzelfortschritte zurückgetreten sei, so dass das Wohl der Menschen durch das Diktat des Markts ersetzt werden konnte (79, 83): Der »Neoliberalismus« betreibe die »Zerstörung des menschlichen Lebensraums« (112f).
Um dem entgegenzuwirken, bedürfe es u.a. einer »neuen Idee des Fortschritts«, die mit der »Kehrseite der Medaille« (119) – Waffenarsenale, blanker Instrumentalismus in Wissenschaft und Technik, mangelnde soziale Verantwortung, Umweltzerstörung (115ff) – fertig wird. Diese neue Idee sei wesentlich das »Projekt einer guten Gesellschaft« (119) und stelle Wissenschaft und Technik in den Dienst von »kollektiven Interessen« (120). Kurzum: »die Welt« benötige einen »drastischen Kurswechsel« (120). Diese Wortwahl überrascht, da ja ähnliche Bemühungen zuvor als Totalitarismus abgetan wurden. Überdies wird Fortschritt nur inhaltlich neu bestimmt. Als Umsetzung von »Inhalten und Zielen« (119) behält die vermeintlich neue Idee die Struktur der alten, als Anmaßung verurteilten, bei.
Daher kann die vorliegende Darstellung nicht immer überzeugen. Sie ist zweifellos  informativ und verständlich geschrieben, bezeugt aber auch die ungebrochene Anziehungskraft des Gedankens, Fortschritt sei entweder ein Universalbegriff oder als Begriff nicht viel wert. Aus diesem Axiom ergibt sich dann, bei zusätzlicher Aussparung der Rückschrittskategorie, die mutmaßliche Ambivalenz des Fortschritts. Mit diesem Ansatz liegt der Verf. immer noch voll im Trend der zeitgenössischen Diskussion.
Denis Maeder

 

Quelle: Das Argument, 51. Jahrgang, 2009, S. 326-327