Ralph Lützeler: Ungleichheit in der global city Tôkyô. Aktuelle sozialräumliche Entwicklungen im Spannungsfeld von Globalisierung und lokalen Sonderbedingungen. München (Monographien aus dem Deutschen Institut für Japanstudien 42) 2008. 467 S.

Wer in den 1970er oder 1980er Jahren in Japan sozialräumliche Ungleichheiten erforschen wollte, stand vor keiner leichten Aufgabe. Erstens sprach man in der traditionellen japanischen Gesellschaft nicht gerne über soziale Ungleichheit oder die Benachteiligung von Minoritäten. Für die burakumin in japanischen Großstädten interessierten sich vorwiegend ausländische Wissenschaftler. Zweitens wurde man immer wieder mit der Selbsteinschätzung der Japaner konfrontiert, dass die japanische Gesellschaft besonders homogen und egalitär sei und deshalb geringe soziale Ungleichheiten aufweise.

Einige Japaner argumentierten, dass die japanische Gesellschaft nicht so sehr in soziale Schichten,sondern in vertikal strukturierte Gruppen gegliedert sei, die dem oyabun-kobun-Prinzip folgen. Deshalb seien Konzepte der sozialen Schichtung wenig geeignet, um in Japan soziale Ungleichheiten zu erforschen. All dies hat Forschungen über soziale Ungleichheit in Japan zumindest aus der Sicht eines ausländischen Wissenschaftlers bis Ende der 1990er Jahre nicht gerade einfach gemacht. Ralph Lützeler ließ sich durch diese Schwierigkeiten nicht beirren, zumal sich inzwischen die Datenlage deutlich verbessert hat. Mit dieser Arbeit legt er eine der ersten umfassenden Monographien über
„den räumlichen Ausdruck sozialer Ungleichheit“ in einer japanischen Großstadt vor. Damit wird eine bisherige Lücke in der Japanforschung weitgehend geschlossen. Im ersten Teil skizziert er zunächst die wichtigsten Elemente der aktuellen sozialen und ökonomischen Differenzierung der japanischen Gesellschaft. Eines seiner zentralen Untersuchungsziele besteht in der Überprüfung der These, dass Japan als development state eine völlig andere Art von Kapitalismus aufweise als der Westen und sich diese auch auf das Ausmaß an räumlicher Segregation auswirke. Begründet wird diese These mit dem Hinweis, dass in Japan Politiker und Staatsbürokratie durch Wirtschaftslenkung und andere administrative Eingriffe die Ausprägung von sozialer Ungleichheit stark verringern könnten. Im 2. Kapitel wird die Frage erörtert, ob die japanische Gesellschaft in den letzten 20 bis 25 Jahren ungleicher geworden ist bzw. ob die von Saskia Sassen formulierte Global-City-These einer zunehmenden gesellschaftlichen Differenzierung und Polarisierung auch für Tôkyô zutrifft. Nach seinen Ergebnissen ist in Tôkyô zumindest auf der Ebene der Stadtbezirke seit den frühen 1980er Jahren kein Trend zu einer stärkeren Polarisierung nachweisbar. Im 3. und 4. Kapitel beschreibt und erklärt der Autor die mannigfaltige sozialräumliche Differenzierung von Tôkyô anhand zahlreicher Indikatoren, und zwar sowohl auf der Makroebene anhand der 23 Stadtbezirke als auch auf der Mesoebene innerhalb der drei Bezirke Minato, Shinjuku und Taitô. Die Untersuchung kommt zum Ergebnis, dass abgesehen von der Einkommensverteilung die soziale Polarisierung in Tôkyô tatsächlich viel geringer ist als etwa in New York und dass dafür im Wesentlichen staatliche Maßnahmen verantwortlich sind. Wer sich mit Japan befasst, findet in diesem Buch eine Fülle von wertvollen empirischen Ergebnissen, nicht leicht zugänglichen Daten und interessanten Hinweisen auf historische und kulturelle Zusammenhänge. Das Buch ist aber auch jenen Stadt- und Sozialgeographen zu empfehlen, die abstrakten Theoriekonzepten mit universalem Geltungsanspruch und verallgemeinernden Thesen der anglo-amerikanischen Global-City-Forschung kritisch gegenüberstehen und an kulturellen Unterschieden in der Entwicklung von Global Cities interessiert sind.
Peter Meusburger

 

Quelle: Die Erde, 140. Jahrgang, 2009, Heft 3, S. 316-317