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Kategorie: Rezensionen

Lucas Zeise: Ende der Party. Die Explosion im Finanzsektor und die Krise der Weltwirtschaft. Köln 2008. 196 S.

Vor gut einem Jahr erreichte die Finanzkrise mit der Pleite der New Yorker Investmentbank Lehman Brothers einen vorläufigen Höhepunkt. Aus rückblickenden Schilderungen beteiligter Akteure muss man den Eindruck gewinnen, das globale Finanzsystem habe damals in der Tat kurz vor dem völligen Kollaps gestanden. Inzwischen deuten einige Anzeichen auf eine Verlangsamung, nach Meinung von Optimisten vielleicht sogar bereits auf das Ende der durch den Finanzcrash ausgelösten Talfahrt der Weltwirtschaft hin. Auch die Schockstarre der Kommentatoren in Ökonomie und Politik scheint sich zu lösen, wie sich an einer wachsenden Zahl von Publikationen ablesen lässt.

Die Mehrzahl der Artisten in der Zirkuskuppel ist aber offensichtlich immer noch ratlos, was Ursachen und Vorhersehbarkeit des größten Wirtschaftseinbruchs seit der Weltwirtschaftskrise Anfang der dreißiger Jahre betrifft. Als symptomatisch dafür kann eine jüngst publizierte Studie der US-Ökonomen Rose und Spiegel gelten, deren Versuch, im Ländervergleich rekonstruierend Ursachen und Ausmaß der Krise mit statistischen Modellen zu erklären, nach eigenem Bekunden zu keinem befriedigenden Resultat geführt hat. Dass vor diesem Hintergrund auch kapitalismuskritische Analysen wieder verstärkt Gehör finden, verwundert deswegen nicht. Allerdings sind in diesem Genre Arbeiten noch selten, die sich gestützt auf detaillierte Sachkenntnis um Verständnis und Erklärung bemühen und die die Krise nicht nur als bloße Bestätigung für das nehmen, was man schon immer gesagt hat.   
Zu diesen noch wenigen, auch für die Wirtschaftsgeographie interessanten Arbeiten gehört eine Publikation des Frankfurter Finanzjournalisten (u.a. "Börsen-Zeitung", "Financial Times Deutschland") Lucas Zeise, dem das Kunststück gelingt, über einen komplexen Gegenstand verständlich und anschaulich zu schreiben, ohne dabei über Gebühr zu vereinfachen. Voraussetzung dafür ist ein hohes Maß an Faktenkenntnis, gewonnen durch langjährige, man könnte sagen teilnehmende Beobachtung. Dieser quasi ethnologische Zugang ermöglicht es dem Autor, Ausbruch und Verlauf der Finanzkrise von Mitte 2007 bis Ende 2008 auf eine Weise detail- und kenntnisreich darzustellen, die dem Geertzschen Konzept der "dichten Beschreibung" recht nahe kommt. Darin liegt zweifellos die Stärke des Buches. Erkauft wird dieser Zugang jedoch durch den weitgehenden Verzicht darauf, die einschlägige wissenschaftliche Literatur einzubeziehen oder auch nur die eigenen Quellen systematisch zu dokumentieren. An diese Stelle tritt sozusagen das Feldtagebuch des "Finanzethnologen". Die so vermittelten Einsichten über die Aufblähung des Finanzsektors, die Arbeitsweise von Investmentfonds ("Heuschrecken"), generell über das "Geschäftsmodell Verschuldung", die "Kreditverpackungsbranche", die teilweise bizarr anmutenden Instrumente zur globalen Streuung von Risiken wie etwa ABS (asset backed securities) und CDS (credit default swaps) oder den krisenauslösenden Zustand der US-Ökonomie, speziell den Immobilienmarkt - um nur einige Schwerpunkte des Buches zu nennen - sind zweifellos erhellend, inzwischen jedoch auch nicht mehr wirklich neu (allerdings: Zeises Buch ist bereits Ende 2008 erschienen).  
Das eigentliche Manko des Buches liegt jedoch in der unbefriedigenden Krisendiagnostik. Dieses Defizit teilt es mit anderen Publikationen kapitalismuskritischer, aber auch mainstreamökonomischer Observanz - und in dieser Hinsicht kommt ihm durchaus exemplarischer Charakter zu. Mit welcher Art von Krise haben wir es eigentlich zu tun? Handelt es sich um eine klassische Spekulationskrise, die sich mit dem Platzen der Blase sozusagen selber erledigt? Oder liegt der Finanzkrise vielmehr eine Krise der wertproduzierenden Ökonomie zugrunde? Vielleicht haben wir es sogar mit einer Formkrise der kapitalistischen Produktionsweise zu tun, mit der sich neue Arrangements durchsetzen? Letzteres scheint der Autor jedenfalls anzudeuten, wenn er vom Ende der "neoliberale(n), vom Finanzmarkt dominierten Phase der Globalisierung" spricht (S. 7). Auch wenn derzeit wenig für diese Einschätzung spricht: Bei der Suche nach Antworten auf solche Fragen handelt es sich keineswegs um akademische Glasperlenspiele, vielmehr hängt davon ab, welche Krisenfolgen zu erwarten und wie sie zu beurteilen sind, sowie, in praktischer Absicht, welche Krisentherapie sinnvoller weise vorzuschlagen wäre. Zeise selbst hält die Wiedereinführung von Kontrollen des Kapitalverkehrs und insbesondere eine Kontrolle der Zentralbanken, die mit ihrer Zinspolitik die Bildung spekulativer Blasen billigend in Kauf genommen hätten, für notwendig, um ähnlichen Krisen des Finanzsystems künftig vorzubeugen.  
Es geht hier nicht darum, diese wirtschaftspolitischen Vorschläge nach Plausibilität und Durchsetzbarkeit zu bewerten. Sie sollen nur die Basisannahmen des Autors deutlich machen, eine strenger regulierte, gebändigte Finanzwirtschaft sei mit dem gegenwärtigen Kapitalismus kompatibel und Finanzkrisen wie die jetzige könnten, den politischen Willen und die richtigen Maßnahmen vorausgesetzt, grundsätzlich vermieden werden (vgl. z.B. S. 181). Dann ist allerdings nicht mehr einsichtig, warum es überhaupt zu der historisch einzigartigen spekulativen Aufblähung des Finanzsektors mit seinen abenteuerlichen Kreditkonstruktionen gekommen ist, die in der jetzigen Krise fast zum Systemabsturz geführt hätten (es sei denn, man bemüht als wenig überzeugende Erklärung die menschliche Charakterschwäche Gier). Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass sich das "Monster" (Originalton Bundespräsident Köhler) jedenfalls nicht so ohne Weiteres zähmen lässt, längst ist das Casino wieder geöffnet, auch die moderaten finanzmarktpolitischen Beschlüsse des G-20-Gipfels von Pittsburgh werden daran nichts ändern.  


Dies lässt sich auch so deuten, dass der überdimensionierte Finanzsektor inklusive seiner Spekulationsabteilung keineswegs wie der Blinddarm für den menschlichen Körper ein im Grunde überflüssiges Organ ist, das, wenn es ernste Probleme bereitet, auch ohne Funktionsverlust operativ entfernt werden kann. Vielmehr, das legt etwa eine regulationstheoretische Sicht nahe, könnte es sich auch um einen systemischen, also nicht einfach verzichtbaren Bestandteil des gegenwärtigen Kapitalismus handeln, der für die Überwindung der Fordismuskrise der siebziger Jahre ausschlaggebend war - durch die Schaffung neuer, hochrentierlicher Anlagemöglichkeiten für überschüssiges Kapital sowie durch die wichtige Rolle in dem von David Harvey als "Akkumulation durch Enteignung" bezeichneten Prozess. Dies könnte das exorbitante Wachstum und die Dominanz des Finanzsektors über die übrige Wirtschaft erklären - einschließlich des Risikos spekulativer Blasenbildung und Krisen, das dabei grundsätzlich nicht vermeid-, bestenfalls reduzierbar ist. - Mit diesen knappen Ausführungen soll auf den Forschungsbedarf in Sachen Krisendiagnostik verwiesen werden. Von Einzelnen ist er kaum zu bewältigen, dazu wird es gemeinsamer Anstrengungen bedürfen. Publikationen wie die von Zeise können dafür aber wichtige Anstöße liefern.
Helmut Schneider

 

Quelle: Zeitschrift für Wirtschaftsgeographie Jg. 53 (2009) Heft 4, S. 278-279