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Kategorie: Rezensionen

Bernhard Nitz, Hans-Dietrich Schultz und Marlies Schulz (Hg.): 1810-2010. 200 Jahre Geographie in Berlin an der Humboldt-Universität zu Berlin. Berlin 2010 (Berliner Geographische Arbeiten 115). 394 S.

Die folgenden zwei Anmerkungen seien zur Kenntnis und unkommentiert vorangestellt: Der Jubiläumsband „200 Jahre Geographie in Berlin“ ist ausschließlich auf das Geographische Institut der Humboldt-Universität bezogen. Weitere geographische Einrichtungen, wie die Institute an der Technischen und der Freien Universität (seit 1945) sowie die 1828 gegründete Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin sind nicht berücksichtigt.

Anlage und Inhalt sind deutlich zweigeteilt: Von den insgesamt 10 Beiträgen sind sieben (etwa zwei Drittel des Bandes) als „Ideengeschichte“ (Vorwort) einzuordnen. In den drei abschließenden Kapiteln wird die Geschichte des Geographischen Instituts seit dem Zweiten Weltkrieg (1945/47) von Zeitzeugen dargestellt. Die Beiträge zur Ideengeschichte sind auf die berühmten Geographen Berlins bezogen: Carl Ritter (in Verbindung mit Alexander von Humboldt), Heinrich Kiepert, Ferdinand von Richthofen, der das Institut an der Universität gründete, Albrecht Penck, Alfred Rühl und Norbert Krebs. Außer einem kürzeren Artikel über Heinrich Kiepert (D. Hänsgen) und Betrachtungen über den „Wirtschaftsgeist“ in Zusammenhang mit Alfred Rühl (B. Freund) stammen alle Beiträge von Hans-Dietrich Schultz, der darüber allerdings schon mehrfach vorgetragen und publiziert hat. Die Inhalte basieren auf einem gründlichen Quellenstudium, wie es auch die ausgiebigen Zitate und lange Literaturlisten belegen. Nach kurzen, eher lexikalischen Vorbemerkungen zu Leben und Wirken der betreffenden Ordinarien werden bestimmte Themen diskutiert, zu denen sie Stellung bezogen haben. Bei Ferdinand von Richthofen ist es die „Definition der Geographie“, seine „Anstrengungen zur Lösung eines brennenden Problems“; Albrecht Penck wird als „politischer Geograph“ unter dem Motto „Ein wachsendes Volk braucht Raum“ dargestellt, und auch bei seinem Nachfolger Norbert Krebs stehen die „Volkstums-Aktivitäten“ im Mittelpunkt. Die ausführlichen Diskussionen um diese Themen führen weg von den Arbeiten und Verdiensten der Geographen, die sie für ihre Universität und das Institut und nicht zuletzt auch für die Gesellschaft für Erdkunde erworben haben. Diese wurde vor allem von Carl Ritter, Ferdinand von Richthofen und Albrecht Penck gefördert und zu ihrer internationalen Bedeutung geführt. So lässt sich die „Ideengeschichte“, die immerhin den Großteil des Bandes einnimmt, nur bedingt in den Rahmen einordnen, vielmehr werden hier Ideen und Diskussionen kritisch aufgearbeitet, die zeitbedingt aufkamen und auch nicht auf Geographen an der Berliner Universität beschränkt blieben. Völlig anders ist der zweite Teil des Bandes (S. 249-349) konzipiert: Hier kommen Zeitzeugen zu Wort, von denen die Institutsentwicklung seit Ende des Zweiten Weltkrieges beschrieben und kritisch kommentiert wird. Einen ersten Abschnitt von 1945 bis zur Deutschen Wiedervereinigung 1990 bearbeitete Bernhard Nitz, Vertreter der Physischen Geographie, der dem Institut über 30 Jahre angehörte. Er setzt sich vor allem mit der von Heinz Sanke vertretenen und von dem Regime der DDR geförderten „Politischen und Ökonomischen Geographie“ auseinander. Diese bestimmte die Geographie an der Humboldt-Universität „ideologisch und doktrinär, wissenschaftlich leichtgewichtig und repetitiv über Jahrzehnte maßgeblich“ (S. 254). Die von Sanke und anderen vertretene Richtung „starb mit der DDR … und blieb eine Periode ohne wissenschaftlichen Nachhall“ urteilte Nitz (S. 294). Gegenüber der marxistisch-leninistisch orientierten Anthropogeographie konnte sich die Physische Geographie als empirische Naturwissenschaft in ihren Forschungen und Zielen eher durchsetzen und erhalten bleiben. Die Umstrukturierungen in den Jahren 1989-94 werden von Marlies Schulz ebenso kompetent dargestellt. Auch sie gehörte dem Institut (Sektion) seit langem an, studierte dort und war seit 1970 wissenschaftliche Mitarbeiterin, nach der Neuordnung wurde sie 1993 Professorin für Angewandte Geographie. In den Vorbemerkungen zu ihrem Bericht schreibt sie, dass sie in der Zeit der DDR zu der „Schicht gehörte, die stillschweigend funktionierte, obwohl sie mit vielem nicht einverstanden war“ … aber gerade das „führte bei mir dazu, sich an dem Prozess der Erneuerung an der Humboldt-Universität zu Berlin aktiv zu beteiligen“ (S. 299). Als Vertreterin des „Mittelbaus“ hatte sie zusammen mit delegierten Kollegen westdeutscher Universitäten maßgeblichen Anteil daran, dass das Geographische Institut nicht nur bestehen blieb, sondern auch erheblich ausgebaut wurde. Die Notwendigkeit einer Erneuerung wird nachhaltig begründet und die in drei Phasen unterteilte Abfolge lässt die intensive Arbeit wie auch den „Lernprozess und die Emotionen“ (S. 300) der direkt Beteiligten erahnen.


Dabei wird die Erneuerung des Instituts stets in Verbindung zu den Gesetzen und Maßnahmen der Universität und im Land Berlin gebracht, so dass übergeordnete Zusammenhänge ersichtlich werden. Als Fazit der spannenden Übergangszeit kann Marlies Schulz „mit etwas Stolz“ feststellen, dass das Geographische Institut „eine Größe und eine zukunftsfähige Struktur aufweisen konnte, die eine qualitativ hochwertige Ausbildung und Forschung ermöglichte“ (S. 325- 327). – Diese Aussagen stellen die Professoren Elmar Kulke und Wilfried Endlicher, beide Neuzugänge aus dem Westen, in einem abschließenden Beitrag über die Entwicklungen seit 1993 unter Beweis. Trotz einiger Rückschläge durch Sparmaßnahmen konnten Konsolidierung und Expansion erreicht werden, was auch durch den Umzug auf den Campus in Adlershof (2003) mit einer großzügigen Infrastruktur befördert wurde. Auf diese Weise gelangen eine Aufstockung des Personals durch Junior- und sogenannte Sonderprofessuren, Innovationen im Lehrbetrieb sowie der Ausbau der Forschung, die vor allem von Drittmitteln getragen wird. Hervorzuheben sind die seit dem Umbruch gewonnenen internationalen Verbindungen, die sich unter anderem in Austausch-Programmen und einem eindrucksvollen Exkursionsprogramm zeigen (S. 347). – Die drei Beiträge zur neueren Geschichte des Geographischen Instituts der HU dokumentieren eine Zeit von etwa 50 Jahren, die von stärkster politischer Einflussnahme in der DDR bis zur freien Entfaltung von Lehre und Forschung nach der deutschen Wiedervereinigung führt. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit durch die Zeitzeugen Bernhard Nitz und Marlies Schulz ist sorgfältig  recherchiert (s. die Literaturverzeichnisse) und aus eigenem Miterleben kritisch gesehen, zudem wird die Zeit spannend beschrieben. So ergibt sich ein wichtiger Beitrag zur Hochschulgeographie in Berlin – insgesamt muss diese allerdings durch die Einbeziehung der Institute an der Technischen und Freien Universität noch ergänzt werden.
Karl Lenz

 

Quelle: Die Erde, 141. Jahrgang, 2010, Heft 1-2, S. 29-30