Otto Franke: „Sagt an, ihr fremden Lande“. Ostasienreisen, Tagebücher und Fotografien (1888-1901). Herausgegeben von Renata Fu-Sheng Franke und Wolfgang Franke. Nettetal 2009. 527 S.

Zur neuen „bürgerlichen“ Stadtkultur des zeitgenössischen China gehört auch die Hinwendung zur eigenen Geschichte, auch zur jüngeren Geschichte, d.h. jenen mittlerweile fast zwei Jahrhunderten des Austausches und zunehmender Verflechtungen mit dem Ausland. Dieses Interesse artikuliert sich in einer Tendenz zur Musealisierung, wie auch in einer Flut von Filmproduktionen, Bildbänden, Memoiren, Abhandlungen u.a., die sich mit den unterschiedlichsten Facetten dieses Austausches beschäftigen.

Parallel lässt sich auch im Ausland ein wachsendes Interesse an der Geschichte dieses Kulturkontakts beobachten. In diesem Kontext hat die Veröffentlichung der Tagebücher von Otto Franke aus den Jahren 1888-1901 einen besonderen Stellenwert. Der Autor, seit 1909 Inhaber des ersten Lehrstuhls für Sinologie an einer deutschen Universität, gilt als Begründer dieser Disziplin in Deutschland. Franke arbeitete von 1888 bis 1901 als Dolmetscher im Dienst des Auswärtigen Amtes in Beijing, Tianjin, Shanghai und Xiamen (Amoy). Er nutzte seine Urlaubszeiten für das Reisen im Lande sowie für Besuche von Taiwan (Formosa), Korea und Japan. Die Erkenntnisse dieser Reisen waren die Grundlage eigener Publikationen und sind darüber hinaus in viele seiner Forschungen eingeflossen. Im vorliegenden Band werden die Reisetagebücher erstmals als transkribierte Originale vorgelegt. Ihre Lektüre ist in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich. Zum einen sind sie eine wertvolle Dokumentation der Alltäglichkeiten des Reisens jener Jahre, d.h. z.B. der technisch-organisatorischen, logistischen und finanziellen Aspekte des Reisens zu Fuß, mit der Sänfte, zu Pferd, mit dem Pferdewagen, kleinen Booten oder modernen Dampfschiffen, sowie einer Kommunikation mit Brief und Telegramm. Diese noch relativ ruhige Mobilität erlaubt einen großen  Detailreichtum der Wahrnehmung von Menschen, aber auch von Profan- und Tempelbauten in ihrer jeweiligen Umgebung, wie auch der Lebensumstände der lokalen Bevölkerung. Zum anderen lässt uns die Lektüre China durch die Brille eines Dolmetschers sehen. Dank seiner Sprach- und Kulturkompetenz konnte sich Franke mit der Selbstverständlichkeit eines klassisch gebildeten Gelehrten-Beamten im Lande zu bewegen und Entsprechendes wahrnehmen. Gleichzeitig gibt ihm der Status des wissenschaftlich qualifizierten Ausländers die Möglichkeit zum distanziert-kritischen Blick. Es ist diese spezifische Qualifikation und dieser besondere Blick, mit dem sich die Tagebücher von so vielen oberflächlichen  China-Berichten jener Jahre unterscheiden. Welche Orte hat er besucht? Hier ergibt sich eine überraschend weitgehende Identität mit auch heute noch favorisierten Reisezielen. Im vorrevolutionären China gab es eine Tradition von Bildungsreisen, vergleichbar mit der Grand Tour des europäischen Adels und Bildungsbürgertums. Insofern sind Frankes Notizen und Berichte zu landesweit geschätzten Reisezielen wie Suzhou und Hangzhou, Ningbo und dem Zhoushan-Archipel mit dem buddhistischen Zentrum Putuo, Nanjing mit den Minggräbern, oder dem Jin Shan bei Zhenjiang von Interesse. Doch daneben durchquerte er auch abgelegenere Regionen wie das südliche Jiangxi oder das nördliche Hebei auf dem Wege zur Sommer- und Jagdresidenz der Qing-Kaiser in Chengde (Jehol). In seinen Beobachtungen aus Korea und Taiwan, beide Territorien besuche er kurz nach der Besetzung durch Japan, spürt man den sensiblen Blick des Außenstehenden gegenüber der jungen Kolonialmacht. Schließlich erlebt man anschaulich eine Rückreise von Beijing nach Europa vor der Fertigstellung der transsibirischen Eisenbahn. Die Tagebuchaufzeichnungen lassen sich mit ihren vielen kleinen Hinweisen auch lesen als Zustandsbericht vom China der späten Qing-Zeit, wo der Verfall der materiellen Infrastruktur bereits als Signal des baldigen Endes gedeutet werden kann. Das Buch ist ein Gemeinschaftswerk des Sohnes Wolfgang Franke (kurz vor seinem Tod 2007) und der Enkelin Renata Franke. Es ist äußerst sorgfältig lektoriert und ediert. Da Personen- oder Ortsnamen auch mit Langzeichen und in der pinyin-Umschrift wiedergegeben werden, gibt es keine Orientierungsprobleme. Das Studium des Buches empfiehlt sich nicht nur für Sinologen sondern auch für Geographen und Historiker z.B. für die Rekonstruktion des Kulturlandschaftswandels ausgewählter Orte und Regionen, wobei sich auch die ca. 200 historischen Fotografien als aufschlussreich erweisen werden.
Johannes Küchler
Quelle: Die Erde, 141. Jahrgang, 2010, Heft 1-2, S. 63-64