Hans-Ulrich Seidt: Berlin, Kabul, Moskau. Oskar Ritter von Niedermayer und Deutschlands Geopolitik. München 2002. 510 S.

Oskar von Niedermayer (1885-1948) war eine der farbigsten Gestalten im Offizierkorps und im Universitätslehrkörper Deutschlands. Als junger Offizier studierte er neun Semester Geographie, Geologie, Anthropologie und iranische Philologie, außerdem trieb er russische, arabische und türkische Sprachstudien. 1912-14 unternahm er eine wissenschaftliche Expedition nach Persien. Auf Grund dieser Qualifikationen wurde er im Herbst 1914 Leiter einer militärischen Expedition, die den Emir von Afghanistan zum Einmarsch nach Indien bewegen sollte, was aber mißlang.

Dieses Unternehmen machte Niedermayer berühmt und trug ihm mit einem hohen Orden den persönlichen Adel ein. 1919 schrieb er bei Drygalski in München seine Dissertation "Die Binnenbecken des Iranischen Hochlands", eine solide, methodisch reflektierte Arbeit. Das unterschied sie von den Schriften Karl Haushofers, eines anderen bayerischen Offiziers und Drygalski-Schülers mit Asienerfahrung und Sympathien für die Idee eines Kontinentalblocks gegen die Seemächte. Die beiden freundeten sich an, und Niedermayer publizierte gelegentlich in Haushofers Zeitschrift für Geopolitik. Er blieb 1919 beim Militär, 1920 wurde er Adjutant des Reichswehrministers (und Mitglied der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin). Im Ministerium und später in Moskau organisierte er die geheime militärische Zusammenarbeit mit der UdSSR, für Niedermayer eine nicht nur militärische, sondern auch weltpolitische Notwendigkeit. 1931 zurückgekehrt, betrieb er den Wechsel zur Wissenschaft, immatrikulierte sich an der Berliner Universität und nahm am Geographischen Kolloquium teil. 1933 habilitierte er sich (mit der Habilitationsschrift "Wachstum und Wanderung im russischen Volkskörper") und erhielt die Venia legendi für "Geographie mit besonderer Berücksichtigung der Wehrgeographie", später einen Lehrauftrag für "Allgemeine Wehrlehre". Seine Karriere wurde zweifellos durch die Wehrwissenschafts-Konjunktur von 1933 gefördert, aber sie wäre auch vorher möglich gewesen, und sie wurde durch das neue Regime auch gefährdet. 1935 geriet Niedermayer ins Visier rabiat antisemitisch antibolschewistischer Kräfte wegen positiver Äußerungen über die UdSSR und die Rapallo-Politik. Hier hätte seine Laufbahn schnell ein Ende haben können. Niedermayer mobilisierte die Militärführung und Haushofer, den Freund von Heß, und so wurde er 1937 Ordinarius für "Allgemeine Wehrlehre" und Direktor des Universitäts-Instituts für dieses Fachgebiet; zugleich stand er nun wieder "als aktiver Offizier unter dem Schutz der Wehrmacht". Der von unbändigem Tatendrang erfüllte Niedermayer wurde auch Leiter der Hochschularbeitsgemeinschaft für Raumforschung und des "Instituts für Heimatforschung" der Universität an der Grenze zum Polnischen Korridor in Schneidemühl, das er initiiert hatte als ein "nationalpolitisches Forschungsinstrument" zu dem Zweck, "das deutsche Volkstum und seinen Lebensraum" der wirtschaftlich und demographisch geschwächten Grenzgebiete zu "erforschen, um es in seiner Existenz zu stärken". Niedermayer war ein effektiver Wissenschaftsorganisator als Direktor seiner Institute, an denen interdisziplinär gearbeitet wurde, was in der Natur der Sache liegt bei Konstituierung neuer Gegenstandsbereiche wissenschaftlicher Forschung wie bestimmte Regionen einerseits und Wehrwesen andererseits, hier zudem wegen des Charakters des modernen Krieges als totalen Krieges. Er bemühte sich auch um Beiträge zur theoretischen Institutionalisierung der Wehrlehre. Die Wehrgeographie war für ihn "ein Teilgebiet der Wehrwissenschaften und eine wesentliche Grundlage der Wehrpolitik" (Geographentag 1936). Dabei distanzierte er sich von deterministischen Vorstellungen über die Bedeutung des Raumes, wie sie in der Geopolitik vertreten wurden. Er bestimmte die Wehrwissenschaft als "Zweckwissenschaft", und sein Institut lieferte Zweckmäßiges, z.B. Atlanten. Aber er war auch Mit-Initiator einer Aktion gegen den Niedergang der Wissenschaften, besonders der Geisteswissenschaften, im Dritten Reich. Im Mai 1941 zog Niedermayer in den Krieg als Offizier eines Stabes, der Operationen im Mittleren Osten vorbereiten sollte. Dann wurde er Kommandeur einer Division, die sowjetische Freiwillige v.a. turkstämmiger Herkunft ausbildete. Seine Leistungen im Kampfeinsatz wurden kritisch beurteilt ("mehr Gelehrtennatur als Truppenführer"), so dass er auf einen Stabsposten abgeschoben wurde. Im Herbst 1944 wurde er verhaftet wegen kritischer Äußerungen: Hitlers Politik sei "vollkommen falsch. Es hätte von 1933 an nur eines gegeben: Zusammengehen mit Russland"; angesichts der Alternative des Untergangs des deutschen Volkes müsse die Führung weg. Niedermayer war kein Anhänger der NS-Weltanschauung, er warnte nach Kräften vor falscher Einschätzung der UdSSR, war ein Gegner der Besatzungspolitik dort, stand mit Stauffenberg und anderen Verschwörern in Verbindung, aber für seine Beteiligung an der Konspiration gibt es keine Belege. Der Prozeß gegen ihn fand nicht mehr statt, bei Kriegsende gelangte er (freiwillig?) in sowjetischen Gewahrsam. Wegen Spionage verurteilt, starb er 1948, von den harten Haftbedingungen und Krankheit zermürbt. - Das Buch eines Diplomaten und Fachgenossen Niedermayers als Experten für Sicherheitspolitik ist solide auf einer sehr breiten Basis von Quellenmaterial aus verschiedenen Archiven und aus privater Hand fundiert; weil es für einen größeren Leserkreis bestimmt ist, sind leider nicht alle Aussagen in den Anmerkungen belegt. Es ist gut geschrieben, geschickt sind Analyse und Erzählung verbunden. Seidt ist bestrebt, die Breite des Wirkens und die Facetten der Persönlichkeit Niedermayers zu erfassen und ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Druckfehler und etliche Ungenauigkeiten im Detail mindern den Wert des Buches nur geringfügig.

Autor: Ernst Haiger

Quelle: Die Erde, 134. Jahrgang, 2003, Heft 2, S. 215-216