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Kategorie: Rezensionen

Stephanie Nau: Lokale Akteure in der Kubanischen Transformation: Reaktionen auf den internationalen Tourismus als Faktor der Öffnung. Ein sozialgeographischer Beitrag zur aktuellen Kuba-Forschung aus emischer Perspektive. Passau (Passauer Schriften zur Geographie 25)  2008. 157 S.

Nach dem krankheitsbedingten Rückzug Castros aus den Regierungsgeschäften und der Ankündigung einer Neuorientierung der US-Politik durch Obama (Embargo seit 1962!) rückt Kuba erneut in das internationale Blickfeld, aus dem es nach der Überwindung der Wirtschaftskrise in der Folge der Aulösung des sozialistischen Lagers Anfang der 1990er Jahre wegen nur halbherziger Reformen und stagnierender Entwicklung verschwunden war.

Eine wichtige Stütze für Deviseneinnahmen stellt der staatlich gelenkte internationale Tourismus mit jährlich über 2 Mio. Besucher dar. Während Pauschaltouristen in Hotelkomplexen am Strand von der einheimischen Bevölkerung weitgehend abgeschottet werden, können Individualreisende auch die unter strenger Aufsicht stehenden privaten Vermieter, Restaurants und Dienstleister in Anspruch nehmen. Durch die hiermit verbundenen Deviseneinnahmen und die zum Ausgleich staatlicher Versorgungslücken erforderlichen Netzwerkbeziehungen mit dem informellen Sektor bzw. dem Schwarzmarkt, entstehen soziale Ungleichheit in der kubanischen Gesellschaft. Hier setzt die Dissertation von Frau NAU an, um hinter die Fassade der von staatlicher Propaganda geprägten Lebenswelt der Kubaner zu blicken. Durch den direkten persönlichen Kontakt zu den Kleinunternehmern können tatsächliche Herausforderungen und Probleme des Alltags identiiziert aber auch ihre persönlichen Wertvorstellungen, Ziele, Strategien und Netzwerkbeziehungen aufgedeckt werden. Es geht folglich um die Veränderungen in ihrem Denken und Handeln bei der Gestaltung des alltäglichen Lebens und die Nutzung der Chancen des Tourismus für die Erzielung privater Deviseneinkommen zur Verbesserung der ökonomischen Situation.
Wissenschaftliche Forschung ist in Kuba für Ausländer in der Regel nur nach staatlicher Genehmigung und in Zusammenarbeit mit einheimischen Institutionen möglich. Insbesondere Erhebungen auf der Mikroebene der Haushalte und Einzelakteure werden mit Misstrauen beobachtet. Aus diesem Grunde war es für die Autorin als verdeckt arbeitende  "Einzelakteurin“ natürlich nicht möglich, formalisierte Erhebungen und statistisch abgesicherte quantitative Ergebnisse anzustreben. Demgegenüber rückten Methoden der qualitativen Sozialforschung und explorative Vorgehensweisen in den Mittelpunkt: Teilnehmende Beobachtung, Einzelgespräche mit Vertrauenspersonen und generelle Informationsgewinnung bei sonstigen Einrichtungen. Auf diese Weise wurden bei drei mehrmonatigen Aufenthalten zwischen 2002 und 2005 umfangreiche Tagebuchnotizen, Gedächtnisprotokolle von informellen Gesprächen und 36 Stunden Interviews aufgezeichnet, die transkribiert, kodiert und inhaltsanalytisch ausgewertet wurden.
Wissenschaftstheoretisch stützt sich die phänomenologisch hermeneutisch ausgerichtete Forschung auf die Lebensweltanalyse von Husserl mit ihren Erweiterungen durch Schütz sowie soziale Handlungstheorien und ihre sozialgeographischen Rezeptionen (diskutiert in Kap. 3). Gesellschaftliche Phänomene und Strukturen können durch eine Rekonstruktion von Handlungsabläufen beschrieben und unter Berücksichtigung der Motive der Akteure und ihrer
verfügbaren Mittel interpretiert werden. Hermeneutisches Verstehen erfordert folglich Sachwissen über die Ressourcen und Knappheiten in ihrer räumlichen Differenzierung, deshalb wird den Erhebungsergebnissen ein Kapitel zum Kontext Kuba vorausgestellt (vgl. Kap. 5). Der Band gliedert sich somit in jeweils zwei knappe Einführungs- und Abschlusskapitel von wenigen Seiten, zwei kürzere Kapitel zur wissenschaftstheoretischen und methodologischen Grundlegung owie ein umfangreiches Informationskapitel zur politischen, wirtschaftlichen und sozialen Situation in Kuba. Dabei erhalten die Versorgungsproblematik und die Bedeutung des Tourismus zur Ergänzung der Haushaltseinkommen besondere Beachtung. Der folgende Hauptteil liefert die empirischen Ergebnisse zu den drei Fallstudien: Havanna, Santiago de Cuba/Oriente und Viñales/Pinar del Río jeweils untergliedert nach einführenden Bemerkungen zur Lebenswelt, sowie zu den Wahrnehmungen, Reaktionen und Netzwerkbeziehungen der Akteure. Die Darstellung hat beschreibenden und dokumentierenden Charakter wegen der vielen Originalzitate, durch welche die Kubaner selbst zu Wort kommen. Interpretationen und theoretische Einordnungen treten demgegenüber zurück. Zahlreiche Photos ergänzen und visualisieren die Aussagen.
Die abweichenden Ergebnisse der drei Fallbeispiele belegen die Bedeutung der regional unterschiedlichen Rahmenbedingungen. In der Landregion Viñales mit tragfähiger agrarischer Basis sind Gäste nicht nur wegen der Nebeneinnahmen willkommen. Die positive Grundeinstellung zum sozialistischen System hat sich bisher dadurch nicht verändert. Demgegenüber fühlen sich die Bewohner der Großstadt Santiago bei prekärer  Versorgungssituation von der Regierung vernachlässigt und versuchen aggressiv ihre Lebensumstände durch die Devisen der Reisenden zu verbessern, wodurch Konlikte ausgelöst werden. In der vergleichsweise gut ausgestatteten Metropole Havanna mit starkem Einluss des Tourismus bieten sich vielfältige Möglichkeiten für Aktivitäten zur Einkommensverbesserung. Aber nicht alle Gruppen haben Zugang zum Devisengeschäft, deshalb ist die Unzufriedenheit mit dem System hoch, und sogar die Flucht wird als Option gesehen.   


Die vorliegende sozialgeographische Arbeit liefert mit ihrem Fokus auf die Mikroebene der kubanischen Gesellschaft und die tieferen Einsichten in das Alltagsleben ausgewählter Akteure in unterschiedlichen Regionen authentische Einblicke in die jüngeren Veränderungen unter dem Einluss des internationalen Tourismus. Eine weitergehende theoretische Einordnung wird nicht angestrebt. Die Ergebnisse sind gewissenhaft recherchiert und methodisch abgesichert soweit das unter den schwierigen Forschungsbedingungen möglich war. Sie liefert zwar keine spektakulären neuen Erkenntnisse, ergänzt aber in vortreflicher Weise zahlreichere Arbeiten zum ökonomischen Transformationsprozess in Kuba.
Helmut Nuhn

 

Quelle: Erdkunde, 63. Jahrgang, 2009, Heft 3, S. 290-291