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Kategorie: Rezensionen

Roland Klautke, Brigitte Oehrlein (Hg.): Globale Soziale Rechte. Zur emanzipatorischen Aneignung universaler Menschenrechte, Hamburg 2008. 218 S.
Fantômas - Magazin für Linke Debatte und Praxis, "Globale Soziale Rechte", Heft 13, Sommer 2008, 68 S.

Mit dem Begriff der "Globalen Sozialen Rechte" (GSR) ist der Versuch verbunden, aus einer reaktiven, bloß gegen die neoliberale Globalisierung gerichteten Position herauszufinden und konkrete politische Wege zur möglichen "anderen Welt" aufzuzeigen. GSR ist zunächst ein Sammelbegriff für Forderungen verschiedener Bewegungen und Nichtregierungsorganisationen: Recht auf allgemeine und kostenlose Gesundheitsversorgung, Recht auf Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit, Recht auf ein globales Mindesteinkommen usw. All dies unter dem Dach eines Begriffs zu versammeln, deutet auf einen strategischbündnispolitischen Zweck.

Tatsächlich avancierte der Begriff während der Kampagne gegen den G8-Gipfel 2007 in Heiligendamm zu einem gemeinsamen Nenner des breiten Protestbündnisses sowie eines gleichnamigen, 2007 gegründeten Zusammenschlusses von attac, FIAN, Greenpeace, IG Metall, kein mensch ist illegal und medico international. In Fantômas formuliert die "Plattform" dieser Initiative das politische Programm, "der Globalisierung des Kapitals, der Märkte und der Waren mit einer Globalisierung der Sozialen Rechte [zu] begegnen" (32). Mittlerweile ist diese Initiative weitgehend eingeschlafen, das Konzept jedoch wurde weiter diskutiert. Zwei aus der GSR-Diskussion um und nach Heiligendamm hervorgegangene Publikationen liegen nun vor.
Die von Klautke und Oehrlein zusammengestellten Beiträge des "Kritischen Bewegungsdiskurses " 2007 zum Thema GSR konzentrieren sich auf eine Abgrenzung vom Begriff der Menschenrechte. Drei Argumente werden hierfür hervorgebracht: Werner Rätz kritisiert erstens an den Menschenrechten - anschließend an Marx' Kritik der Aufspaltung des Menschen in bourgeois und citoyen (Zur Judenfrage, MEW 1, 355) - die individualistische Engführung kollektiver Ansprüche als "Abwehrrechte gegen Staat und Nachbarn", die untrennbar verquickt seien mit privat-bürgerlichen Rechten wie dem auf Schutz des Privateigentums (127). Demgegenüber meinten GSR die "Menschenrechte in ihrem utopischen Gehalt als Entfaltungsrechte" (129). Damit stünden sie "nicht im Gegensatz zu Menschenrechten, sind aber eben auch nicht identisch " (ebd.). GSR, so Mario Candeias, sei somit ein Begriff, der sich einer liberal-neoliberalen Diskreditierung der Menschenrechte entziehe und "als konkrete Utopie in die Zukunft" weise (190f). Einen zweiten Unterschied zum Begriff der Menschenrechte sieht Thomas Seibert darin, Rechtsansprüche nicht (nur) als universelle menschliche Grundbedürfnisse zu formulieren. GSR seien ein "empirisch" ansetzendes Konzept, in dem "eine Reihe zunächst unabhängig voneinander geführter sozialer Kämpfe konvergieren" (42). Der dritte Aspekt der GSR betrifft Rätz zufolge die Verbindung der "Forderung nach rechtlicher Kodifi zierung" mit Versuchen ihrer unmittelbaren praktischen "Aneignung" (130), wie sie etwa von der Landlosenbewegung MST in Brasilien demonstriert wird, die ihre Forderungen an die Regierung mit Besetzungen kombiniert (134ff). Vorherrschend seien aber derzeit ›unpolitische‹ Formen der massenhaften Aneignung von GSR wie die Aneignung von Land in den Slums der Megacities, die Migration als ›autonome‹ Aneignung des Rechts auf Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit oder auch die gezielten Rechtsbrüche im Rahmen von Kampagnen gegen die Hartz-IV-Gesetze. - Rolf Künnemann hingegen hält am Begriff der Menschenrechte fest. Er differenziert diese in vor- und überpositive "human rights" und objektives "human rights law" (78), um die Kluft zwischen formeller Institutionalisierung und tatsächlicher globalisierter Rechtlosigkeit zu skandalisieren. Das Festhalten am Begriff der Menschenrechte rechtfertigt er im Gegensatz zu Rätz damit, dass sonst die Gefahr bestehe, die "Untrennbarkeit der Menschenrechte" als politische, soziale und kulturelle Rechte aufzugeben (80). Auch Wolf-Dieter Narr, auf dessen Begriff der "materialistischen Menschenrechte" (109) sich Rätz bezieht, wenn er GSR als "Entfaltungsrechte" von den Menschenrechten abhebt, kann dem Begriff der GSR wenig abgewinnen. "Menschenrechte" seien - in einen gesamtgesellschaftlichen Kontext gerückt, aus der gesellschaftlichen Bedürftigkeit des Menschen, seinem Leiden an der Gesellschaft und dem historischen Schatz menschlicher Erfahrung begründet (99ff) und verstanden als "konkrete Utopie", die nur "gesellschaftspolitisch übersetzbar" sei (103) - einem "vagen Neologismus" vorzuziehen (109). Zudem bemängelt er, der Begriff der GSR sei "zu wenig staats- und rechtskritisch" (ebd.). Tatsächlich wird in keinem der übrigen Beiträge eine mit der  Aneignungsdimension der GSR verbundene Staatskritik formuliert.
An diesem Punkt ist die Debatte - überwiegend von den gleichen Personen geführt - in Fantômas bereits einen Schritt weiter. "Aneignung" soll Seibert zufolge ein passives Warten auf die staatliche Einlösung menschenrechtlicher Versprechen durchbrechen, gleichzeitig aber die Forderung an den Staat nicht ersetzen. Historisch sei zu beobachten, "dass Rechtsansprüche auf staatliche Sicherung zielen, oft aber mit vor- und gegenstaatlichen Versuchen der Aneignung einhergehen" (31). Solche Praxen der "autonomen Aneignung" klagten eine "universelle Anerkennung" ihrer Rechtsansprüche ein und zielten damit "doch auf Effekte auch im Staat" (ebd.). GSR, so Rätz, werden "nicht im Gegensatz staatlich - staatsfrei gedacht [...]. Die Frage ist nicht ob, sondern wie Staaten in diese Regulierungen eingebunden werden" (38). Aneignung wird also als Mittel verstanden, eine staatliche Garantie bereits institutionalisierter oder noch zu institutionalisierender Rechtsansprüche zu erreichen. Sonja Buckel liefert hierfür die rechtsphilosophische Fundierung. Aufgrund seiner "relativen Autonomie" als "soziale Form" und seiner Funktion als eine "Art Infrastruktur zur Universalisierung hegemonialer Projekte" (23ff) sei das Recht prinzipiell offen für die Einforderung allgemein formulierter Ansprüche durch die Subalternen.


Der Begriff der Aneignung bleibt nichtsdestotrotz mit Problemen verbunden. Zum einen wird in keinem der Beiträge analysiert, wie groß die Spielräume für eine emanzipatorische Rechtspraxis tatsächlich sind. Auf dieser Abstraktionsebene droht die wichtige Beschäftigung mit Rechten als Bezugspunkt für soziale Kämpfe in der unterschiedslosen Forderung nach Verrechtlichung aufzugehen. Gleichzeitig, so die Kritik von Iris Nowak, werden Bereiche wie alternative Lebensweisen und alternative Formen der Sorge- und Pfl egearbeit von den als GSR formulierten Forderungen ausgenommen. Eine an GSR orientierte Politik laufe Gefahr, Kämpfe in diesen Bereichen zu entthematisieren und damit die in "der bürgerlichen Gesellschaft angelegte Trennung zwischen öffentlichen und privaten Angelegenheiten" zu reproduzieren (211). Zum anderen ist es zwar richtig, "Aneignung" auf die Ebene der rechtlichen Garantie zurückzubeziehen, denn ohne diesen Bezug wären GSR bloß Privilegien, die sich diejenigen "aneignen", die sozial, ökonomisch, physisch dazu in der Lage sind - letztlich also Rechte des Stärkeren. Das gegenüber Menschenrechten "innovative Moment" der Aneignung löst sich aber in Luft auf, wenn nicht Klarheit darüber geschaffen wird, wie und auf welcher Ebene die damit verbundenen Forderungen in Rechte gegossen werden sollen. Ob etwa Formen der sub- und transnationalen Regulierung GSR durchzusetzen vermögen, oder ob für solche Zwecke auf den Nationalstaat zurückgegriffen werden muss, ist ebenso unklar wie die Frage, inwieweit strukturelle Ausschlüsse, die mit nationalen Staatsbürgerrechten einhergehen, durch Kämpfe für GSR überwunden werden können. Soll die Forderung nach GSR bzw. ihre "konkrete Utopie" eine Zukunft haben, muss sie Antworten auf diese Fragen finden. Bleiben diese Antworten aus, droht der Begriff der GSR bestenfalls zu einer Leerformel zu verkommen und schlechtenfalls hinter eine "emanzipatorische" Konzeption von Menschenrechten zurückzufallen.
Armin Kuhn

 

Quelle: Das Argument, 51. Jahrgang, 2009, S. 658-660