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Kategorie: Rezensionen

Seyla Benhabib: Die Rechte der Anderen. Ausländer, Migranten, Bürger. Frankfurt/M. 2008. 225 S.

Um die alle Jahre wieder für hunderttausende Frauen, Männer und Kinder ins buchstäblich Existenzielle reichende Gegenwärtigkeit der erörterten Thematik zu demonstrieren, sei vorab auf Folgendes verwiesen: Einer Schätzung der Vereinten Nationen zufolge wird die Zahl der Migranten in den nächsten vier Jahrzehnten um etwa 40 % steigen; allein in den vergangenen zwölf Monaten versuchten etwa 70 000 Flüchtlinge auf dem Seeweg nach Europa zu gelangen;

laut Amnesty International schoben 27 Länder, darunter auch Deutschland, selbst dann die zu ihnen Geflüchteten ab, wenn diesen in ihrer "Heimat" Verfolgung und Folter drohten; der Bundesgerichtshof attestierte am 20. Januar 2006 dem erteilten Flughafenverbot für Abschiebungsgegner die Rechtmäßigkeit; am 18. Juni 2008 verabschiedete das Europäische Parlament (mit 369 gegen 197 Stimmen) eine Richtlinie über den Umgang mit allen sich unrechtmäßig in der EU aufhaltenden Ausländern, denen auch dann, wenn sie sich schon viele Jahre hier aufhalten, eine bis zu 18 Monate dauernde Haft angedroht wird, gekrönt mit einem fünfjährigen Wiedereinreiseverbot.
Genau diesem brennenden Problem der heutigen Weltgesellschaft widmet Benhabib ihre außergewöhnlich materialreiche, klug und radikal argumentierende Abhandlung. Jenseits von zynischem Kulturrelativismus und hysterischen Sicherheitsdebatten werden die Prinzipien zur Einbindung der ethnisch, kulturell, religiös und politisch Anderen in die "Wohlstandsgesellschaften" des sogenannten Westens erörtert. Als Motto ihrer erstmals 2004 publizierten, inzwischen auch in andere Sprachen übersetzten Originalausgabe dient der in Istanbul geborenen und an der Yale University Philosophie und Politikwissenschaften lehrenden Autorin die u.a. beim Immigrant Workers' Freedom Ride vom Jahr zuvor im New Yorker Flushing Meadows Park verwendete Parole: "No man is illegal!" Im Gegensatz zu einer sich auf eine globale Verteilungsgerechtigkeit beschränkenden Theorie wird hier eine  kosmopolitische Zugehörigkeitsgerechtigkeit konzipiert: Da die Souveränität der Staaten in ökonomischer, militärischer und technischer Hinsicht weitgehend erodiert sei, dürften die Staatsgrenzen nicht länger zur Abwehr von Ausländern und Eindringlingen dienen; die Territorialität sei zu einer anachronistischen Abgrenzung materieller Funktionen und kultureller Identitäten geworden, weshalb unter bestimmten Voraussetzungen jeder Ausländer einen menschenrechtlich begründeten, gerichtsförmig durchsetzbaren Einbürgerungsanspruch in das Land seiner Wahl haben müsse; die Einhaltung internationaler Menschenrechtsnormen subordiniere die staatliche Souveränität.
Verf. verschmäht es nicht, sich des Glanzes von Immanuel Kant zu versichern, dessen Weltbürgerrechtstheorie - zutreffend gegen die Rechtfertigung der Enteignung von nichteuropäischen Völkern durch John Locke in Stellung gebracht - von ihr als   kosmopolitisches Vermächtnis" genutzt wird. Es ist aber auch Hannah Arendt, deren Attacken auf die Instrumentalisierung des Nationalstaates zugunsten der Profi tgier der bürgerlichen Klassen in praktisch allen Staaten Europas sich gut in das vorliegende Konzept einfügen. Anderes hingegen gilt für den einem Staatszentrismus verhafteten John Rawls: Während für Kant die Essenz des jus cosmopoliticum darin bestanden habe, dass alle moralischen Subjekte Mitglieder einer Weltgesellschaft sind, komme bei Rawls das Individuum nicht als Weltbürger, sondern lediglich als Mitglied einer Nation vor; auch übersehe er, dass die "reichen Nationen" selbst dann, wenn sie Entwicklungshilfe an die "armen Nationen" zahlen, zunächst und vor allem die Profi teure einer globalen Ordnung sind, ihr Reichtum also keineswegs nur durch ihre innere Wirtschaftsordnung verursacht ist; Rawls erwähne die Plünderung Afrikas durch sämtliche Nationen des Westens so wenig wie den Sklavenhandel oder die Ausbeutung Indiens durch die Briten. Aber auch Michael Walzers Auffassung, wonach es das souveräne Privileg der demokratischen Staaten bleiben müsse, frei darüber zu entscheiden, ob sie ihre moralische Hilfsverpflichtung gegenüber Flüchtlingen und Asylsuchenden statt durch eine liberale Einwanderungspolitik lieber durch Wirtschafts- und Entwicklungshilfe nachkommen wollen, hält Verf. für schädlich, beruhe sie doch auf der Fiktion einer konfl iktlosen Identität der Bevölkerung von Staaten, zumal diese zunehmend die Einwandernden kriminalisieren.
Stattdessen negiert sie den Alleinseligmachungsanspruch der freien Marktwirtschaft und hält nichts von deren karitativer Moral. Sie versteht die Weltgemeinschaft als eine globale Zivilgesellschaft. In ihrer eigenen Vorstellungswelt sind die "Rechte der Anderen" keine Bedrohung für das Projekt freiheitlicher Staaten, sondern ganz im Gegenteil eine Bereicherung, da sie Integration befördern, Ausgrenzungen erschweren, Freiheiten erweitern und der Demokratie zusätzliche Dynamik verleihen. Ungewöhnlich scharf (aber berechtigt) wird in diesem Zusammenhang der Lissabon-Vertrag der EU kritisiert: Die Kehrseite der Unionsbürgerschaft sei die radikale Abgrenzung gegenüber Menschen aus Drittländern, und der Status von Flüchtlingen und/oder Asylsuchenden verbleibe in einer Grauzone zwischen Legalität und Illegalität. Moralischer Universalismus, kosmopolitischer Föderalismus und "demokratische Iterationen" sehen anders aus: Das Volk sei eben nicht nur ethnos, also historische Sitten- und Schicksalsgemeinschaft, sondern auch demos, also Bürgergesamtheit unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlichen Schicksals. Verf. fragt rhetorisch: Ist die deutsche Geschichte weniger verwunderlich und verwirrend, wenn über sie in einer Schule Badens von einer afghanisch-deutschen Lehrerin mit Kopftuch unterrichtet wird? Dem Gesetzgeber erwachse jedenfalls die Herausforderung, die universellen Grundlagen eines demokratischen Gemeinwesens neu zu formulieren. Demokratie sei schließlich nichts anderes als jene Herrschaftsform, die darauf beruhe, dass die dem Gesetz Unterworfenen zugleich dessen Urheber sind.


Wer, wie Verf., eine andere Welt als die gegenwärtige des triumphalen Globalliberalismus wenigstens für möglich hält, sieht sich natürlich dem Einwand ausgesetzt, mit ihren Radikalismen lediglich das Illusionsarsenal mit Nachschub versorgt zu haben. Auch mag ihr der Vorwurf nicht erspart bleiben, dass sie sich mit den Folgen der weltweiten Migrationsbewegungen beschäftigt, ohne sich um deren Ursachen zu kümmern. Auch ihr Verzicht, die wirtschaftlichen, medialen, militärischen und politischen Machtverhältnisse der heutigen Welt in ihren Problemkatalog aufzunehmen, mag beanstandet werden. Doch ein jegliches hat seine Zeit und seinen Ort. - Bleibt zu ergänzen, dass der Übersetzer, Frank Jakubzik, seine Arbeit hervorragend gemacht hat, sowohl sprachlich als auch in der Behandlung der zitierten philosophischen und juristischen Quellen.
Hermann Klenner

 

Quelle: Das Argument, 51. Jahrgang, 2009, S. 656-658