Gabriele Klein und Michael Meuser (Hg.): Ernste Spiele. Zur politischen Soziologie des Fußballs. Bielefeld 2008. 275 S.

Fußball unter der Perspektive der Vergemeinschaftung zu betrachten, ist das gemeinsame Anliegen der in diesem Band versammelten Aufsätze. „Der Fußball ist Katalysator sowohl von institutionell verfestigten (Vereinen, Verbänden) als auch von flüchtigen, ‘flüssigen’, bisweilen nur wenige Stunden andauernden Vergemeinschaftungsgebilden (...). Er provoziert lokale Gemeinschaftsbildungen, die Präsenz im Stadion voraussetzen, und globale Fangemeinschaften, die vor dem Bildschirm ... von verschiedenen Orten der Welt dem Spiel folgen“ (Klein & Meuser, 10).

Mit diesen Gemeinschaftsbildungen einher gehen wie stets Grenzziehungen (Inklusion und Exklusion) und Identitätsbestimmungen (Selbst- und Fremdbild-Konstruktionen).
Von den Einzelbeiträgen verdeutlicht Ulrich Bielefelds Essay „Die Gemeinschaft auf dem Platz und die Gemeinschaften“ diese Perspektive zum einen mit Blick auf die Kleinen, die Dorf- und Stadtteilvereine, zum anderen mit Blick auf die großen, die Bundesligaclubs. Was die Kleinen angeht, erzählt er u.a. die Geschichte von Mehmed, einem Hamburger Jungen mit türkischen Eltern, der in eine herkunftsgemischte Grundschulklasse und einen herkunftsgemischten lokalen Fußballverein geht. In beiden bleiben die Gruppenbildungen für einige Jahre unabhängig von den Herkunftsländern. Die deutschland-typische frühe schulische Differenzierung bringt da erste Veränderungen, die sich im Verein jedoch bis in die Adoleszenz hinein nicht bemerkbar machen. Dann jedoch bilden sich auch hier vermehrt Herkunftsgruppen, man kickt zwar noch zusammen, gemeinsame Freizeitaktivitäten aber werden immer seltener. Der durch die frühe Schuldifferenzierung bedingte „enge soziale Zusammenhang zwischen Herkunft und Zukunft setzt sich auch hier schließlich durch“ (21). Was die Großen angeht, notiert Bielefeld zunächst, dass der Gemeinschaftsmythos, auch wenn angesichts austauschbarer Spieler niemand mehr ernsthaft an ihn glaubt, doch ständig beschworen wird. Gemeinschaft ist ein „Appellbegriff“. „Auch wenn es sie nicht gibt, repräsentiert die Gemeinschaft auf dem Platz dennoch etwas“ (22). Schon aus verkaufsstrategischen Gründen muss man sich ein Lokalkolorit, den Anstrich einer lokalen Zusammengehörigkeit geben und möglichst glaubhaft rüberbringen – wie das funktionieren kann, beschreiben Moritz Ballensiefen und Jörg-Uwe Nieland in ihrer Analyse des 2007 präsentierten „Leitbilds“, mit dem sich der VfL Bochum als traditionsbewusster proletarischer Revier-Verein zu profilieren sucht. Bielefeld macht noch auf einen anderen Aspekt aufmerksam: die oftmals durchaus bewusste Willkürlichkeit der Gemeinsamkeitszuschreibungen, besonders plastisch illustriert am Fall der Tottenham Hotspurs, die irgendwann in den 1980er Jahren von gegnerischen Fans wegen der Nähe ihres Stadions zu einem jüdischen Viertel als „Juden“ und „Beschnittene“ („I’ve got a foreskin and you ain’t“) beschimpft wurden und diese als negativ gedachte Fremdbezeichnung schließlich als positive Selbstbezeichnung übernahmen. Dass dieses Spiel der Zuschreibungen als Spiel der Fans nach dem Match normalerweise wieder vergessen ist, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es durch politische Einflussnahme auch darüber hinaus geschürt und auf Dauer gestellt werden kann.
Dariuš Zifonin berichtet über eine Fallstudie bei einem türkischen Fußballclub in Mannheim, der sich seine eigene „Hochstätt-Philosophie“ mit eigenen Differenzkonstruktionen zurechtgelegt hat: Die Türken spielen (wie andere Südeuropäer auch) „heißblütiger“ und kunstvoller als die Deutschen – wobei das Selbststereotyp dem Fremdstereotyp weitgehend entspricht. Der Trainer möchte, dass sich die Spieler als Repräsentanten der Türkei verstehen; viele Spieler aber wollen einfach nur Fußball spielen und versuchen, sich den Stereotypisierungen, wenn sie einmal virulent werden, zu entziehen – was mal gelingt und mal nicht. Zifonin interpretiert dies als Indiz für „die Bedeutung mehrfacher und wechselnder Mitgliedschaften und Teilzugehörigkeiten in unterschiedlichen ‘sozialen Welten’“ (53).
Unter ähnlichen Gesichtspunkten analysiert Nikola Tietze das Heldenimage des mehrfachen „Weltfußballers des Jahres“ Zinedine Zidane in Frankreich. Sie schält aus journalistischen und essayistischen Veröffentlichungen über den Star wie aus Interviews mit arabischen Immigranten in Frankreich und Deutschland sechs Narrative heraus, die das Bild Zidanes prägen: „das Narrativ vom Genius, von den Wurzeln, der Solidarität, der Leistung, vom Respekt und von der Physis“ (59 f). Jedes von diesen Narrativen weist unterschiedliche Konnotationen auf – das vom Genius z.B. eher kosmopolitische, das von der Physis eher solche der blutsmäßigen Verbundenheit – und wird deshalb von unterschiedlichen Gruppierungen in unterschiedlichem Maße goutiert und zu unterschiedlichen Zugehörigkeits-Konstruktionen genutzt – das vom Genius eher von der nationalstaatlichen französischen Politik, das von der blutsmäßigen Verbundenheit eher von unzufriedenen Immigranten. Aber „Die Begründungen der Gemeinsamkeiten und die Ausrichtung der hergestellten Bindungen können jederzeit wechseln, was den im Spiel eingesetzten Zugehörigkeitskategorien wohlgemerkt nichts von seiner Ernsthaftigkeit nimmt“ (80).
Thomas Alkemeyer weist in seinem Beitrag „Fußball als Figurations-Geschehen“ vor allem darauf hin, dass im Hintergrund „großer“ Fußballereignisse „eine Suche nach leiblich spürbarer Teilhabe“ zu stehen scheint. „Fußballstadien gehören zu den wenigen Orten in modernen Gesellschaften, wo sich die ‘Masse’ noch in Aktion erlebt und zu ‘Gefühlsgemeinschaften’ zusammenfügt“ (106).
Es würde zu weit führen, auf alle Artikel des Bandes einzugehen. Nur noch ein weiterer sei herausgegriffen – Martina Althoffs und Jan Nijboers „Fußball, Spiel und Kampf. Zur politischen Dimension des Hooliganismus“. Zugrunde liegt eine Fallstudie unter Hooligans in Groningen, Holland, die allesamt Fans des dortigen FC waren. Die Grundthese ist, dass „Hooliganismus als Form der Vergemeinschaftung“ zu begreifen ist, „bei der Gewalt eine Handlungsoption im Sinne von voice ist“ (135). Sie ist dies zum einen als „Kampf um und Ruf nach Anerkennung hegemonialer Männlichkeit“ (143), für die in den Augen der Befragten innerhalb der Gesellschaft kein Raum mehr ist. Sie ist zum anderen auch als Mittel zu verstehen, um Unzufriedenheit mit bestimmten Ereignissen oder Entwicklungen ihres Clubs, aber auch mit der Polizei und den örtlichen Behörden zu äußern.


„Fußball unter der Perspektive der Vergemeinschaftung zu betrachten“, ist sicherlich ein spannendes Programm. Was ich mir zusätzlich zu den doch etwas disparaten Einzelbeiträgen gewünscht hätte, wäre ein grundlegenderer Artikel, der diese Perspektive theoretisch ausführlicher ausarbeitet – die Einleitung ist dafür viel zu kurz geraten.
Gerhard Hauck

 

Quelle: Peripherie, 29. Jahrgang, 2009, Heft 116, S. 116-120