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Kategorie: Rezensionen

Heiner Dürr: Eyal Weizmans Dekonstruktion der israelischen Besatzungsgeographie in Palästina

Die Art und Weise, wie die israelische Regierung seit Jahren die Geographie in den besetzten Gebieten der Westbank und im Gazastreifen für ihre Zwecke herrichtet, bietet bis in Einzelheiten Belege für strategisches Raum-Machen. Seit Jahrzehnten arbeitet Israel mit äußerster Konsequenz an diesem Großvorhaben strategischer Territorialentwicklung. Israelische Stadtplaner, Architekten, Künstler und politische Aktivisten verfolgen diese kolonialistische Politik mit teils scharfer Kritik. Der israelische Architekt und Stadtplaner Eyal Weizman hat dabei eine führende Rolle gespielt.

2007 hat er mit einer weiteren Publikation, die auf seiner Londoner Dissertation beruht, seine früheren engagierten Analysen der israelischen Kolonisierungspraxis ergänzt und aktualisiert. 1

Israels Umgang mit interner Kritik
Der Kontext dieses Buches, 2008 in deutscher Übersetzung erschienen, ist komplex, seine Vorgeschichte konfliktreich. Für größeres internationales Aufsehen hatten die Aktivitäten der israelischen Kritiker im Jahre 2003 gesorgt, als eine Gruppe israelischer Architekten, Stadtplaner und Künstler die Ausstellung "Territories - Islands, Camps and Other States of Utopia" am KW Institute for Contemporary Art in Berlin veranstaltete. Ein englischsprachiger Katalog, reich mit Karten und Fotografien versehen, dokumentiert diese Ausstellung.2 Wesentlicher Bestandteil dieses Katalogs waren Eyal Weizmans auf umfangreichen Feldarbeiten und Expertengesprächen beruhende Analysen über "The Politics of Verticality. The West Bank as an Architectural Construction" (S. 65-119) sowie "The Battle of the Hilltops" (S. 119-350, gemeinsam mit Rafi Segal). Sie behandeln die geographischen und architektonischen Resultate der israelischen Kolonialpolitik in der Westbank und im Gazastreifen sowie die dahinter stehenden Entscheidungsprozesse.
Im Jahr zuvor (2002) hatten diese Arbeiten in Israel für kontroverse Debatten gesorgt. Eine frühere, umfassendere Version hatte die Israel Association of United Architects (IAUA) prämiert und als Israels offiziellen Beitrag zu dem 2002 in Berlin veranstalteten Kongress der Union Internationale des Architectes (UIA) ausgewählt. Für die diesen Kongress begleitende Ausstellung waren außer Weizmans und Segals Forschungsergebnissen Arbeiten weiterer israelischer Experten vorgesehen, Texte mit zahlreichen Siedlungsplänen, Luftbildschrägaufnahmen sowie Videos und Filme. Ein Katalog wurde gedruckt, um diese Arbeiten übersichtlich zusammenzufassen. Kurz vor Eröffnung des Kongresses fielen die Ausstellungsteilnahme und das bereits gedruckte Werk jedoch der israelischen Zensur zum Opfer, unter dem Vorwand nicht ausreichender Finanzierung. Die IAUA stampfte den größten Teil der 5000 Kataloge ein, 850 konnten Eyal Weizman und seine Mitarbeiter für sich "retten".
Die Hauptinhalte dieses so genannten "Banned Catalogue" veröffentlichten Segal und Weizman als handliches, mit eindrucksvollen Bildern und präzisen Stadtplänen ausgestattetes Buch im Jahre 2003.3 Damit konnte sich die Weltöffentlichkeit ein Bild davon machen, woran die israelische Regierung Anstoß genommen hatte. Vorgeschichte und Inhalte des zensierten Bandes lösten unter israelischen Architekten eine Debatte über die Grundsatzfrage aus, ob man Architektur und Stadtplanung als "unschuldige", rein technische Aktivität oder als Instrumente israelischer Kolonisierungspolitik ansehen müsse, möglicherweise sogar als deren Kern. An diese Debatte knüpft Weizman nun an mit der oben erwähnten erweiterten Analyse über das "Ausgehöhlte Land" (Hollow Land, so der Originaltitel, der weitaus treffender ist, als das deutsche "Sperrzonen").
Zusammen genommen enthalten die drei Werke eine ungewöhnlich präzise Dokumentation und Interpretation der Art und Weise, "wie sich verschiedene Formen israelischer Herrschaft in den Raum eingeschrieben haben, indem es die geographischen, territorialen, urbanen und architektonischen Konzepte und miteinander verzahnten Praktiken analysiert, die diese Herrschaft ausmachen und aufrechterhalten". (11)4

Angewandte engagierte Raumanalysen
Weizmans neuer Text ist in wissenschaftsethischer Hinsicht deutlich stärker auf die Praxis hin ausgerichtet als seine früheren Publikationen. Er votiert nun ganz unmissverständlich für eine engagierte Forschung, deren Ziel es ist, Handlungen auf konkrete, namhaft zu machende Akteure zurückzuführen und mit dieser Kenntnis politische Entscheidungsprozesse zu beeinflussen. Vorbild ist ihm dabei die Praxis des "Helfens und Bezeugens", zu der sich die Mitarbeiter der internationalen Nichtregierungsorganisation Ärzte ohne Grenzen (Médecins sans Frontières, MSF) bekennen. Zusätzlich zu ihren eigentlichen, unmittelbaren Hilfstätigkeiten liefern sie Berichte über die Zustände in ihren Einsatzgebieten.
"Ähnlich könnte sich die architektonische Praxis in Konfliktgebieten die ethischen Motive und methodischen Fähigkeiten aneignen, die sie befähigen, professionelles Zeugnis abzulegen von den Verbrechen, die mit der Verwandlung der gebauten Umwelt einhergehen. (...) Diese Form der Architekturrecherche eröffnet mögliche Freiräume für eingreifendes Handeln in einem lähmend übermächtigen System, in dem nichts zu gehen scheint, und entwickelt sich so zu einer Praxis radikaler Kritik" (295).
Diese Grundsätze sieht Weizman in der gängigen akademischen Praxis nicht befolgt; er geißelt sie deshalb als "Architekturforschung, die im Kern angewandte Forschung im Dienste der Planung und des Entwurfs ist", sie erscheint ihm "bestenfalls zynisch" (293).
Vielleicht ist es der an die israelische Architektenzunft und die israelische Regierung gerichteten Zielsetzung des Bandes geschuldet, dass Weizman das politische Konfliktfeld in Palästina auffällig selektiv ausleuchtet. Seine Analysen weisen eine klare Täter-Opfer-Struktur auf. Sie konzentrieren sich ganz auf das Handeln der israelischen Besatzungsmacht. Ihre internationalen Partner bleiben unberücksichtigt, obgleich die fortgesetzte territoriale Durchlöcherung der besetzten Gebiete ohne ihre moralische und finanzielle Unterstützung nicht gelingen könnte. Überraschenderweise bleiben auch palästinensische Akteure ganz im Hintergrund. Abgesehen von den Geschehnissen im Suezkrieg 1967 unterstellt Weizman den Israelis durchweg eine pro-aktive Haltung. Nirgends versteht er Israels ebenso drastisches wie vielfältiges Repertoire an einschüchternden und erniedrigenden Kontrollen und völkerrechtswidrigen Siedlungsbauten als Reaktion auf die ebenfalls rechtsverletzenden Angriffe der palästinensischen Seite auf israelisches Territorium. Anders als die israelische belässt Weizman die palästinensische Seite zudem fast ganz im Anonymen. Unerwähnt bleibt sogar die Spaltung der Palästinenser in die radikalere Hamas, die, vom Libanon unterstützt, den Gazastreifen kontrolliert, und die Fatah, die in der Westbank die palästinensische Autonomiebehörde dominiert. Die Asymmetrie des bewaffneten Konflikts in Palästina, so könnte man sagen, bestimmt auch Weizmans Analyse.

Die Vertikalität der Landschaft ...
Als eine Basis für seine Raumanalyse hatte Weizman schon in seinen früheren Veröffentlichungen das Konzept der Vertikalität von Landschaften eingeführt. Nun gibt er diesem Aspekt eine solche Bedeutung, dass er die Kapitel seines Textes nach Landschaftsschichten aufreiht, von unten nach oben, von den Grundwasserkörpern bis hin zum militärisch kontrollierten Luftraum. Sehr detailliert kann Weizman zeigen, dass Israels Okkupationspraktiken vertikal "gestapelt" sind und dass die systematische Analyse dieser Schichtung des Hügellandes und der Küstenebene von Gaza wesentlich zum Verstehen des Konfliktes beiträgt. Als unterstes Stockwerk streift Weizman (äußerst knapp) die fossilen und aktuellen Grundwasserressourcen der Westbank und des israelischen Territoriums. Eine andere unterirdische Schicht machen die archäologischen Funde aus, Hinweise auf frühere Siedlungstätigkeiten. Die israelische Seite widmet ihnen große Aufmerksamkeit in dem Bestreben, durch entsprechende Fundinterpretationen ältere und älteste Siedlungsansprüche für sich zu reklamieren.5 Dies gilt vor allem für die umfangreichen Siedlungsspuren im israelischen Viertel von Jerusalem und die von Palästinensern bewohnten Stadtteile östlich der Klagemauer (Ortsteil Silwan). In der Altstadt selbst sind diese frühen Spuren in höchst raffinierter und ästhetisch attraktiver Form mittels gläserner Böden von der heutigen Straßenoberfläche aus sichtbar gemacht und so in das alltägliche Stadterleben einbezogen worden. Ganz anderen Zwecken dient eine weitere unterirdische Komponente der vertikal gegliederten Raumes: die weit verzweigten Tunnelzüge im Gazastreifen, mit denen die Palästinenser die rigiden Sperrzonen der Israelis unterhöhlt haben.
Die räumlichen Muster der israelischen Besatzung an der Erdoberfläche werden zum einen durch die Geomorphologie bestimmt. Zum anderen kann Weizman zeigen, welche militärischen Wurzeln die spezifische, disperse Räumlichkeit der Siedlungen hat, mit denen Israel den traditionell palästinensischen Lebensraum in den besetzten Gebieten systematisch durchlöchert: Die verheerende Niederlage der Israelis im Suezkrieg 1956, die von vielen Israelis bis heute als traumatisch erlebt wird, war dadurch begünstigt worden, dass sie ihre Verteidigungsanlagen linear entlang des Suezkanals massiert und die Kontrolle über die Tiefe des Raumes vernachlässigt hatten. Es war vor allem der spätere Premierminister Ariel Scharon, der diese Tatsache in eine allgemein anzuwendende Strategie der Raumeroberung und -kontrolle durch disperse Verteilungen verarbeitet hat, in verschiedenen militärischen und politischen Ämtern - als Minister für das Siedlungswesen, Parteiführer und Premier der israelischen Regierung. Scharons Wirken durchzieht Weizmans Analyse als ein roter Faden. Er lässt dabei die gebotene Pietät walten - bekanntlich liegt der frühere Armeechef, Siedlungsminister und Premier seit Januar 2006 in einem künstlichen Koma. Zweifelsohne wird Ariel Scharons Lebensleistung dereinst als ein Beispiel dafür gesehen werden, dass und wie eine Einzelperson über Jahrzehnte hinweg eine einheitliche raumordnerische Politik verfolgt hat, um die Räumlichkeit eines größeren Siedlungsterritoriums in seinem Sinne umzugestalten.

... in einer dekonstruktivistischen Raumanalyse ...
Nach Inhalt und Methode hätte Eyal Weizman den Untertitel seines neuen Werkes genauso gut "Israels Geografie der Besatzung" nennen können. Denn inhaltlich vervollständigt der Text nicht nur die in den beiden früheren Werken begonnene, mustergültige Analyse von örtlichen Qualitäten, räumlichen Mustern und Strukturen, sondern auch der zwischen ihnen funktionierenden Verknüpfungen (flows, interconnections); sie bietet also eine Topophilie und Chorologie der Siedlungs-, Militär- und Verkehrsstrukturen in den von Israel besetzten Gebieten. Und das dabei verwendete methodische Instrumentarium entspricht ganz den aktuellen Praktiken und Standards der Humangeographie in ihrer handlungstheoretischen und konstruktivistischen Variante. In seiner methodischen Gesamtanlage nimmt Weizman alle grundlegenden Frageansätze der Geographie auf: erstens die einfühlsame, verstehende Untersuchung von Orten (Topophilie), zweitens die Analyse der Netzwerke, in welche diese Orte mittels aller möglichen Arten von Strömen (flows) eingebunden sind (Chorologie), sowie drittens die Frage nach Zusammenhängen zwischen den naturräumlichen Bedingungen einerseits und gesellschaftlichen Landschaftselementen andererseits, etwa in Gestalt von militärischen Einrichtungen, Siedlungen, Kontrollposten und Verkehrswegen.
Das heißt erstens, er beschreibt und deutet Orte sowohl nach ihrer materiellen Ausstattung, nach ihren den Raum gliedernden und qualifizierenden Verteilungen und nach ihrem zeitlichen Wandel. Einen Schwerpunkt legt er auf die Symbole, Mythen, Erinnerungen und auf die politisch, religiös oder nationalistisch motivierten Zuschreibungen, mit denen verschiedene Bevölkerungsgruppen diese Einzelorte und Raumensembles zu Bestandteilen ihrer kulturellen Identität machen. Er findet aussagekräftige Bezeichnungen für solche Konstellationen und Prozesse: "Vorstadt-Kolonialisierung", "optischer Urbanismus", "Grenz-Archipele", "Saumlinie" (Gegend nahe der Mauer), "extraterritoriale Inseln". Soweit es die Israeli Defense Force (IDF) angeht, zeigt Weizman, dass solche Orts- und Rauminterpretationen (sowie die aus ihnen abgeleiteten zerstörerischen Aktivitäten) auf einer besonderen "Auslegung und der (konzeptionellen) Dekonstruktion des bestehenden urbanen Umfelds" (216) beruhen. Sie stammen aus den Akademien des israelischen Militärs, wo man sich mit den poststrukturalistischen Raumkonzepten eines Deleuze und Guattari über die "flexiblen, sich verlagernden, glatten, matrix-ähnlichen‚ ,nomadischen' Räume" (217) befasst. Daraus leitet die militärische Führung für sich "die Notwendigkeit (ab), den Raum zu interpretieren, ja, ihn umzuinterpretieren, als Bedingung für den Erfolg im urbanen Krieg" (216). Die entsprechende militärische Praxis verfolgt dann das Ziel, den Raum zu "glätten", im Unterschied zu den "gekerbten" Raumkonstellationen, die vom israelischen Staatsapparat und den bisherigen militärischen Praktiken mittels "Zäunen, Mauern, Gräben, Straßensperren usw. umschlossen und abgetrennt sind". Sehr direkt angewandte hochaktuelle Raumtheorie!
Zweitens widmet er sich der Untersuchung von Strömen aller Art ("Bewegungsflüssen", 154) - räumlichen Interkonnektionen von Menschen, von Wasser sowie von "Arbeit, Waren, Energie und Müll" (155). Er betont die oftmals raffinierten alltäglichen Eingriffe in und Kontrollen über diese Konnektivitäten durch die israelischen Besatzer. Derartige Strom-Kontrollen sind ebenso vielfältig wie alltäglich, sie beeinflussen die Konfiguration der palästinensischen Aktionsräume so, wie es den Sicherheitsbedürfnissen der Israelis entspricht. Dazu gehört eine genauestens ausgetüftelte Dramaturgie der Grenzüberschreitungen an den Checkpoints (Schaubild, S. XIX), das Aufschütten von mit Bäumen und Blumenrabatten verharmlosten Erdwällen zwischen reichen und armen Stadtquartieren, die Einführung biometrischer Pässe für die palästinensische Bevölkerungsgruppe mit israelischer Staatsangehörigkeit (ca. 20 Prozent der Gesamtbevölkerung Israels). "Der Verkehr zwischen diesen Zellen wird durch von der Armee kontrollierte ‚Flaschenhälse' kanalisiert." (159). Das räumliche Ergebnis dieser Maßnahmen wird folgendermaßen beschrieben: "Die unterschiedlichen Barrieren haben die Westbank jeweils um die palästinensischen ‚Ballungszentren' herum in annähernd 200 voneinander getrennte, abgeschottete ‚territoriale Zellen' zersplittert (...)." (159)
Nach außen, gegenüber israelischem Gebiet, wird das Territorium der Westbank durch die 700 km lange notorische "Mauer" abgegrenzt - in Wahrheit eine aus verschiedenen Komponenten bestehende Grenzanlage, die seit Juni 2002 im Bau ist. Im Einzelnen ist ihre Linienführung das Ergebnis eines andauernden Aushandlungsprozesses, in den sich noch während des Baus zahlreiche nationale und internationale Akteuren mit unterschiedlichen Interessen einbrachten.
"Die Deformationen, langen Geraden, Falten und Kurven im Verlauf der Mauer sind somit nicht ausschließlich Ausdruck einer politischen Vision, die die Regierung ursprünglich hatte, sondern sie bilden auch die unterschiedlichen Interessen und Vorstöße ab, soweit sie sich durchsetzen konnten." (177) Und: "Komplexe politische Prozesse schlagen sich in einer bestimmten formalen und materiellen Gestalt nieder, doch die Mauer offenbart in ihren veränderlichen Formen und Verläufen möglicherweise die Mikrostrukturen von Konflikten, von denen ihre Umgebung geprägt ist, und fügt so unserer Einsicht in das politische Kraftfeld der jüngsten Phase der Besatzung eine weitere Ebene hinzu."
Die Dynamik von Räumlichkeiten materieller Infrastruktur wird zu einem weiteren Bestandteil der empirischen Raumanalyse.
Drittens schließlich zeigt Weizman, wie die räumliche Verteilung von Ökotopen mit unterschiedlicher agrarischer Ertragskraft die israelische Besatzung steuert. Die felsigen Anhöhen der Westbank boten und bieten ungünstige Bedingungen für den Anbau, bleiben deshalb von den palästinensischen Bauern oft jahrelang ungenutzt und werden damit, nach Maßgaben eines Bodengesetzes aus der osmanischen Zeit (1858), zu "Staats"land (miri), ein Status, der es israelischen Siedlern erleichtert, auf den Bergkuppen Wohnsiedlungen zu errichten. (Deren Straßen- und Siedlungs-Anlagen dann die Isohypsen als Leitlinien verwenden.)

... ohne spatialistische (geographistische) Engführung
Weizman legt den Schwerpunkt seiner "geschichteten" Raumanalyse auf die sichtbaren Einrichtungen der physischen und technischen Infrastruktur, das heißt auf Elemente der gebauten Umwelt, die der jüdische Staat für die Zwecke der Sicherheit und der Verteidigung einsetzt. Damit wird die präzise kartographische Wiedergabe solcher Strukturen zu einem wesentlichen Teil seiner Dokumentation.6 Die Vertikalität der Okkupationsstrukturen wird dabei allerdings nur teilweise dokumentiert, etwa durch Darstellung der israelischen Herrschaft in der Luft in einer Präsentationsfolie des israelischen Militärs (Bildtafel XXX) und der Flugkorridore (Bildtafel XXXI). Der Text macht jedoch unmissverständlich klar, dass jedes territoriale Stockwerk eine spezifische Raumstruktur aufweist, eine spezifische Geographie, mit zumeist komplexen Räumlichkeiten. Bei ihrer Aufstapelung entsteht ein hoch komplexes Raummuster. Weizman interpretiert diese Komplexität, mit einem Ausdruck Henry Kissingers, als Ergebnis einer gezielten, "konstruktiven Verundeutlichung" (14).
Durch Hintergrundgespräche mit (früheren) militärischen Führern sichert Weizman seine Interpretation dieser Raummuster ab. Insgesamt belegt er das Funktionieren einer autonomen politischen Einheit, des Staates Israel, als Raum-Macher. Theoretisch und methodisch ist seine konfliktorientierte Raumschichtenanalyse ein Musterbeispiel für eine humangeographische Dekonstruktion des zweckbestimmten, strategieorientierten Raum-Machens.
Weizman betont, dass eine Lösung des palästinensisch-israelischen Konflikts mittels territorialer Veränderungen, etwa in Form einer Zweistaatenlösung, durch die vertikal und horizontal absichtsvoll verkomplizierte, kolonialistische Raumstruktur erschwert wird. Aber eben nur erschwert, nicht verhindert. Weizman lässt sich nicht zu krudem Geographismus (Spatialismus) verleiten, also zu einer Denkhaltung, die räumliche Konstellationen per se zu Determinanten menschlichen Handelns erhebt. Er widersteht der Versuchung dieses Denkens. Die Frage, ob und wie "zwei territoriale Netze, die sich auf demselben Gebiet in drei Dimensionen überschneiden", miteinander verwoben werden können, beantwortet er, in etwas umständlicher Formulierung, mit der Erkenntnis, "dass eine haltbare Lösung möglicherweise nicht unbedingt im Bereich der Gestaltung des Raums zu finden ist." (199) Um den palästinensisch-israelischen Konflikt zu lösen, bedarf es (zusätzlich) anderer als raumgestalterischer Logiken, Willensbildungen und Entscheidungsprozesse.


Diese pragmatische Einsicht mindert nicht, sondern sie präzisiert die Funktion und den Rang der beispielhaften Studie. Mit ihr leistet Eyal Weizman einen höchst innovativen Beitrag zur Konfliktgeographie auf der topologischen Maßstabsebene, sowohl in theoretischer als auch in methodischer und inhaltlicher Hinsicht. Formal gesehen, zeichnet er die Abkehr von linearen und Hinwendung zu gerasterten Raumordnungen nach, auf militärischem wie auf siedlungspolitischem Gebiet. Aus der Sicht der Politischen Geographie könnte diese spatiale Zurichtung ein verallgemeinerungsfähiges Beispiel für die Art von Räumlichkeiten sein, die in kolonialistisch beherrschten Gebieten hergestellt werden. Die Entstehung solcher Raumstrukturen ist im Einzelfall freilich an eine Kombination von Einflussfaktoren gebunden, die an anderen Orten kaum in genau derselben Form vorzufinden ist. Im Falle der israelischen Okkupation palästinensischen Lebensraumes hat man es mit der Kombination folgender Faktoren zu tun: eine anhaltende kolonialistische Okkupationsdynamik, die durch eine asymmetrische Struktur der militärischen Potenziale erleichtert wird;
* ein religiös untermauerter Nationalismus, der teilweise auf der Instrumentalisierung vermeintlich "wahrer" Ereignisse beruht7;
* das konsequente Verfolgen einer "großen" Idee der Raumordnung durch das jahrzehntelange Wirken eines machtbewussten Spitzenpolitikers;
* die "Nutzbarmachung von (Raum-)Theorie durch das Militär zu anderen Zwecken als den ursprünglich intendierten" (227);
* die Verfügung des Staates über alle durch moderne Hard- und Software ermöglichten Kontroll- und Überwachungsmechanismen;
* schließlich die anhaltende Nachsicht der internationalen Gemeinschaft gegenüber den teils völkerrechtswidrigen Praktiken.
In diesem Faktorenbündel liegen manche Ansätze für "größere" Metaerzählungen einer interdisziplinären Konflikttheorie und damit der Politischen und Humangeographie verborgen. Ob und wie sie für die Formulierung übergreifender Klassifikationen und Theorien über (kriegerische) Konflikte nutzbar gemacht werden können, wird sich erst erweisen, wenn Fallstudien vorliegen, die den hohen Standards der Arbeiten Eyal Weizmans entsprechen.

 

Heiner Dürr (†)


Anmerkungen
1     Eyal Weizmann 2008: Sperrzonen. Israels Architektur der Besatzung. Hamburg. 351 S.
2     Vgl. die Rezension dieses Katalogs durch den Verf.
3     Rafi Segal, Eyal Weizmann (Eds.) 2003: A Civilian Occupation. The Politics of Israeli Architecture. Tel Aviv-Jaffa: Babel. London, New York. 191 S.
4     Zahlen in runden Klammern verweisen auf  Weizmann 2008, Sperrzonen ...(s. FN. 1)
5     Vgl. dazu jetzt sehr kritisch: Shlomo Sand 2010: Die Erfindung des jüdischen Volkes. Israels Gründungsmythos auf dem Prüfstand. Berlin. 498 S.
6     Leider sind die Karten, Schrägluftbilder und Fotos des zweiteiligen Tafelteils (je 16 mit römischen Ziffern nummerierte Seiten nach S. 128 und nach S. 224) in diesem Band nur Beigaben, werden nicht in den Text integriert.
7     Und damit die "Archäologie in Israel zu einer patriotischen Wissenschaft" zu machen droht (Klaus Bringmann 2010: Es ist nicht das Land der Väter. In: Süddeutsche Zeitung, 13.04.2010, S. 14).



Zitierweise:
Heiner Dürr 2011: Eyal Weizmans Dekonstruktion der israelischen Besatzungsgeographie in Palästina. In: raumnachrichten.de http://www.raumnachrichten.de/rezensionen/1316-weizmann



weitere Rezensionen von Heiner Dürr auf raumnachrichten.de:

Paul Cloke; Philip Crank and Mark Goodwin (Eds.): Introducing Human Geographies. London et al. 1999. 368 S.

Jürgen Hasse: Bildstörung: Windenergie und Landschaftsästhetik. Oldenburg 1999 (Wahrnehmungsgeographische Studien zur Regionalentwicklung 18). 328 S.

Mary Kaldor: Neue und alte Kriege. Frankfurt/M. 2000 (Edition Zweite Moderne). 279 S.


Anselm Franke and Ariella Azoulay (eds.): Territories: Islands, Camps and other States of Utopia. KW - Institute for Contemporary Art, Berlin June 1 - August 25, 2003. Köln 2003. 300 S.

Dirk Baecker, Peter Krieg und Fritz B. Simon (Hg.): Terror im System. Der 11. September und seine Folgen. Heidelberg 2002. 241 S.

Claus Leggewie: Die Globalisierung und ihre Gegner. München 2003. 205 S.

Hans-Dietrich Schultz (Hg.): Das war/ist geographisches Denken ... Band 1: Textauszüge von 1728 bis 1859. Arbeitsberichte 127. Band 2: Textauszüge von 1860 bis 1907. Arbeitsberichte 128. Band 3: Textauszüge von 1908 bis 1927. Arbeitsberichte 129. Band 4: Textauszüge von 1928 bis 1945. Arbeitsberichte 130. Band 5: Textauszüge von 1946 bis heute. Arbeitsberichte 131. Geographisches Institut, Humboldt-Universität zu Berlin. Berlin 2007

Sandra Mitchell: Komplexitäten. Warum wir erst anfangen, die Welt zu verstehen. Frankfurt a. M. 2008. 173 S.

Harald Welzer: Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird. Frankfurt a.M. 2008. 335 S.