Wiebke Keim: Vermessene Disziplin. Zum konterhegemonialen Potential afrikanischer und lateinamerikanischer Soziologien. Bielefeld 2008. 561 S.

Der doppeldeutige Buchtitel weist auf die zwei Erkenntnisinteressen dieser materialreichen Dissertation hin. Zum einen geht es um eine "Vermessung" der Soziologien in (Süd-)Afrika und in Lateinamerika. Zum anderen wird der Universalitätsanspruch der im globalen Norden bzw. Westen konstruierten ›transatlantischen Soziologien‹ als "vermessen" kritisiert. Die problematisierte Ausgangsbeobachtung ist, dass der weitaus größte Teil sozialwissenschaftlicher Forschungsliteratur aus dem nordatlantischen Raum stammt.

"Moderne europäische Wissenschaft expandierte von Europa aus in den Rest der Welt. Die Iberer exportierten sie als ein Bestandteil der Conquista zur Unterwerfung und Missionierung über den Atlantik, ebenso wie dies einige Jahrhunderte später vornehmlich von Frankreich und England nach Afrika geschah." (32) Aber nicht nur wissenschaftliche, sondern auch alltägliche Denk- und Argumentationsformen der europäischen Moderne seien im Zuge der Kolonisierung weltweit etabliert worden, so Verf. unter Bezug auf den Vorreiter der Interkulturalismusforschung Walter Mignolo.
Keim greift auf ein breites Spektrum an Fachliteratur, auf quantitative Sekundärdaten und zahlreiche eigene Experteninterviews zurück. Ihre Analyse der Soziologietraditionen verschiedener Länder kommt zu folgendem Ergebnis: "Entgegen ihrem universellen Geltungsanspruch und entgegen der Internationalisierungs- und Globalisierungstendenzen in Kommunikation und akademischer Zusammenarbeit ist Wissenschaft nach wie vor stark national verankert und geprägt. Ihre Institutionen, ihre Personalstrukturen und finanzielle Ausstattung sind, auch wenn hier grenzüberschreitende Aktivitäten zunehmen, in erster Linie nationale." (31) Grundlagen der Argumentation sind die "akademische Dependenztheorie" und die "Theorie des captive mind" (48). Die Vertreter letzterer konstatieren eine "stark ethnozentrische Perspektive der westlichen Sozialwissenschaften und intellektuelle Abhängigkeit und Unterordnung derer im Süden, die überdies in hierarchischen und einseitigen Strukturen kommunizieren" (48). Demnach seien "die us-amerikanischen Sozialwissenschaften nicht aufgrund ihrer ›intrinsischen Werte‹ so weit verbreitet, sondern aufgrund der  politischen, ökonomischen und kulturellen Dominanz der Vereinigten Staaten" (49). Die Beweisführung erfolgt entlang der Achsen Entwicklung/Unterentwicklung, Autonomie/Dependenz, Zentralität/Marginalität (58) und stützt sich auf Daten zu  Studierendenzahlen, Buchproduktionen und sonstigen Veröffentlichungen (z.B. Social Science Citation Index). Neben der  Dominanz der nordatlantischen Sozialwissenschaften zeigen die Länderstudien, wie nationale Politiken und neoliberale Trends diese Asymmetrie verschärfen: Die Prekarisierung der akademischen Arbeitsverhältnisse und die Ökonomisierung der Universitäten setzen Forscher zunehmend in Konkurrenz zueinander, transformieren unabhängige Wissenschaft in Auftragsforschung und befördern ein Selbstverständnis von Forschung als Dienstleistung mit ›Kundennetzwerken‹ und eitel gehüteten Kontakten zu ›Geschäftspartnern‹. "Geradlinige und auch selbstbestimmte akademische Karrieren und thematische Spezialisierungen sind fast unmöglich geworden. Der Forscherberuf wird nunmehr im Rahmen von Aufträgen und Zeitarbeit und nicht mehr als Laufbahn und Berufung ausgeübt." (80) In der Folge seien die Sozialwissenschaften im Süden elitärer und "sozial irrelevant" (105) geworden, ohne gesellschaftlichen Bezug und ausgeschlossen von Entscheidungen in Politik und Ökonomie - also genau von den Problemzusammenhängen, die soziologisch zu analysieren wären. Hinzu kommt das geringe Ansehen der Sozialwissenschaften im Vergleich zu Computer- und Informationstechnologie. Dominanz und Unterordnung verhinderten "methodologische Blockfreiheit": "alternatives Denken über gesellschaftliche Entwicklung im Süden" werde verunmöglicht (149). Ein mögliches Korrektiv seien "konterhegemoniale" Soziologien. Darunter versteht Verf. Forschungsansätze, "die aus der soziologischen Beschäftigung mit lokal spezifischen gesellschaftlichen Problembereichen, abgekoppelt vom internationalen, nordatlantisch dominierten ›mainstream‹ entstehen" (167), etwa die südafrikanischen "Labour Studies", die sich u.a. durch die Berücksichtigung der allgemeinen Lebensverhältnisse jenseits der eigentlichen Erwerbsarbeitssituation auszeichnen - und z.B. in den USA durch Michael Burawoy aufgenommen wurden.
Der Anspruch, der mit dieser klaren Infragestellung der transatlantischen Soziologie formuliert wird, ist ein sehr hoher und radikaler: "Es geht in diesen Beanstandungen nicht um die Abschaffung der Disziplin, vielmehr im Gegenteil um deren Weitung und Bereicherung durch die Gleichberechtigung der nationalen Soziologien und damit auch um die Universalisierung der Disziplin überhaupt." (151) - Bedauerlich ist, dass die im Titel angekündigte Analyse lateinamerikanischer Soziologien nur sehr rudimentär erfolgt. Gerade für die Etablierung gegenhegemonialer Soziologien wären weitere Beispiele aus anderen Regionen wünschenswert.


Auch die systematische Analyse der selektiven Nutzung linker, systemkritischer und emanzipatorischer ›westlicher‹ Konzepte im Süden wäre eine lohnende Ergänzung, etwa in Hinblick auf politische bzw. gesellschaftskritische Süd-Nord-Koalitionen. Davon abgesehen ist der Band überaus instruktiv: nichtwestliche Formen gesellschaftlichen Wandels wie auch deren sozialwissenschaftliche Analyse werden ernst genommen und damit Anstöße für die Infragestellung des American Way of Life und der westeuropäisch-industriellen Entwicklungspfade gegeben, die durch die Debatten um nachhaltige Entwicklung forciert wird.
Edgar Göll

 

Quelle: Das Argument, 51. Jahrgang, 2009, S. 683-684