John S. Saul: Decolonization and Empire. Contesting the Rhetoric and Reality of Resubordination in Southern Africa and Beyond. Monmouth u. Johannesburg 2008. 202 S.

John Saul ist einer der Veteranen radikaler Forschung zum südlichen Afrika und hat das Drama der Befreiungskämpfe und ihrer Folgen in dieser Region durch vier Jahrzehnte mit aktivem Engagement begleitet. Momentan verfolgt er das Projekt einer Darstellung dessen, was er als den „dreißigjährigen Krieg“ im Südlichen Afrika bezeichnet. Als Zwischenprodukt ordnet sich die vorliegende Publikation hier ein, die fünf neuere Texte zusammenführt.

Sauls vor allem am Verlaufsmodell Moçambique explizierte zentrale These besagt, dass vor allem durch die Niederlage der portugiesischen Kolonialherrschaft 1974/75 Chancen grundlegender gesellschaftlicher Veränderung, wirklicher „Befreiung“ eröffnet und in den folgenden Jahrzehnten zunichte wurden. Beschränkungen des Projekts der Frelimo sieht Saul besonders im Mangel demokratischer Kontrolle und
Partizipation, während das Scheitern wesentlich auf ein feindliches globales Umfeld zurückgehe. Doch „die Frage der Demokratie“ ist für die zentrale Lehre aus der „fatalen Geschichte des 20. Jahrhunderts“: „eine Führung, selbst eine die behauptet, im Namen des Volkes zu handeln, tut dies aller Wahrscheinlichkeit nach nicht, wenn sie von dem Volk, in dessen Namen sie zu handeln beansprucht, nicht strikt zur  Verantwortung gezogen werden kann“ (47).
Aus dieser allgemeinen Perspektive lässt Saul große Abschnitte der Geschichte der Region während den letzten dreißig Jahren Revue passieren. Es geht dabei durchgängig um die Frage, wie es kommen konnte, dass die Programmatik radikaler Gesellschaftsveränderung, die verbal alle großen Befreiungsorganisationen vertreten haben, ebenso durchgängig in die heute zu beobachtenden, weitgehend an neoliberalen Prämissen orientierten Wirtschaftsstrategien mündete. Das Paradigma Moçambique kann auf das Scheitern einer spezifischen Entwicklungsalternative verweisen. Saul betont zum einen die anhaltende Verstrickung der Frelimo in den regionalen Konflikt, ihre Unterstützung für Zanu in Zimbabwe und ANC in Südafrika; beides wurde vom rhodesischen und danach vom südafrikanischen Regime mit einer Destabilisierungsstrategie konterkariert, in der die Unterstützung für den bewaffneten Kampf der Renamo und damit die Steigerung interner Konfl ikte zu einem jahrelangen, blutigen Bürgerkrieg eine zentrale Rolle spielte. Gegenüber dem Engagement für „den weiteren Kampf zur Befreiung des südlichen Afrika“ treten die Konsequenzen der „linken Entwicklungsdiktatur“, die Frelimo nach 1975 errichtete, als Gründe für die in den 1980er Jahren verschärfte Krise des Regimes in den Hintergrund (64). Den Wendepunkt sieht Saul denn auch im Nkomati-Abkommen von 1984, in dem Moçambique offiziell auf die Unterstützung des ANC verzichtete. Danach kam es zu einer „rasanten Rechtswendung“ (66), deren Folgen in ähnlicher Weise bis heute die gesamte Region prägen. Die Durchsetzung der Gleichheit auf der Ebene des politischen Systems steht im schroffen Gegensatz zu materieller Ungleichheit, die eher noch zugenommen hat und nicht nur in Arbeitslosenziffern und Einkommensstatistiken Ausdruck findet, sondern etwa auch in den verbreiteten Klagen über die Folgen der Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen wie Wasser- und Stromversorgung. Gerade diese Problematik siedelt Saul zwar im Kontext kapitalistischer Globalisierung
an, ist aber weit von einer einseitigen Schuldzuweisung entfernt: Die „lokalen Eliten“ Afrikas „haben sich immer unzweideutiger als Teil des Problems positioniert“ (70) und – wie Saul unter Verweis auf Nigeria argumentiert – gerade auch von den Anpassungsstrategien profi tiert, die durch die internationalen Finanzinstitutionen erzwungen wurden. Angesichts der klaren Tendenzen zur „Rekolonisierung und neuerlichen Aufwertung imperialer Konzepte“ (79) erscheint es besonders ernüchternd, dass das südliche Afrika „trotz seiner ruhmreichen Geschichte kurz zurückliegender Kämpfe insgesamt lediglich auf die üblichen Ergebnisse der neokolonialen Geschichte des übrigen Kontinents zurückgefallen ist“ (79), ungeachtet der politischen Stabilität aufgrund der kontinuierlichen Machtausübung durch eine aus der Befreiungsbewegung hervorgegangenen Regierungspartei – was Ende 2008 sowohl in Zimbabwe als auch in anderer Form in Südafrika sowie in Namibia freilich fragwürdiger erscheinen muss als noch zu Beginn des Jahres.
Eine Kritik am „humanitären Imperialismus“, wie er von Niall Ferguson oder Michael Ignatieff vertreten wird (Kap. 3) führt freilich ebenso wenig aus dem Dilemma wie zuvor der Verweis auf die globale Krise des Kapitalismus, die sich Ende 2008 ebenfalls deutlich verschärft hat, ohne doch bereits auf tragfähige Handlungsalternativen zu verweisen, es sei denn die linksnationalistischen Tendenzen in Lateinamerika, die in Kap. 4 als Zeugnis für eine „Neubegründung des Widerstands gegen das Imperium des Kapitals“ angeführt werden. Freilich bestreitet Saul nicht das von Claudio Pomnitz formulierte Risiko, dass „die Rebellion gegen die ungehemmte [kapitalistische] Globalisierung Gefahr läuft, [lediglich] auf Nationalismus und den Entwicklungsstaat zurückzufallen“ (zit. 139f), doch sei dies eher ein Hinweis darauf, dass „die Arbeit zumindest begonnen hat“ (140), die auch die Neubestimmung von Widerstand über die Kategorie der „Klasse“ hinaus in der Weise einschließen müsse, dass die „parallelen Ansprüche“ berücksichtigt werden, die „unter Verweis auf Gender, Rasse, Religion, Ethnie und Umwelt erhoben werden“ (142).


Saul nimmt sein zentrales Thema im Schlusskapitel noch einmal systematisch auf: Wie konnte es dazu kommen, dass die Organisationen der Befreiungsbewegungen an der Macht durchweg politische Strategien verfolgten, die mit dem Versprechen der Befreiung wenig mehr zu tun haben, als Frantz Fanons frühzeitige Klage über den puren Wechsel der Hautfarbe der Herrschenden? Den „merkwürdigen Tod des befreiten südlichen Afrika“ ordnet Saul in die Reihe historischer Niederlage der Linken am Ende des 20. Jahrhunderts ein. In kritischer Abgrenzung zu seinem langjährigen Ko-Autor Giovanni Arrighi sieht er die Gründe aber nicht allein auf der Ebene des globalen kapitalistischen Systems, sondern eben auch in den Strategien und im Verhalten jener afrikanischen Eliten, unter deren Regierungsführung etwa in Südafrika Einkommensunterschiede nach Rasse etwas zurückgegangen sind“, aber „jene, die Klassenunterschiede bezeichnen, allenfalls zugenommen haben“ (155). Am Ende des informativen Durchgangs durch die Länderbeispiele steht nicht nur die Einsicht in die Aufl ösung des einmal mit großen Hoffnungen begleiteten „Afro-Marxismus“ zumal im lusophonen Afrika, sondern der Versuch, das Scheitern mittels einer Reihe von  Erklärungsansätzen begreifl ich zu machen, die einander nicht notwendig ausschließen: Pragmatismus gegenüber den Realitäten, die sich den an die Macht gelangten Führern der Befreiungsbewegungen darstellten; die Übermacht der „globalen Ökonomie“ (173) und die  sozialdemokratische Illusion“, man könne sowohl den Kapitalismus als auch humane und gerechte Reformen haben (174); ferner die Furcht vor den Kosten einer radikaleren Politik, wogegen im Anschluss an Fanon der „Verrat durch die neue Elite, die ‘nationale Bourgeoisie’“ steht (175); weiter eine unzureichende Entwicklung der gesellschaftlichen Widersprüche und des massenhaften Bewusstseins davon, das allzu lange durch die übermächtige Problematik des institutionalisierten Rassismus beherrscht worden sei; und schließlich die unzureichende, in Sauls Augen aber zunehmende Arbeit organischer Intellektueller im Sinne Gramscis, an der Aufklärung dieses Bewusstseins zu arbeiten. Fehlt nur eine kritische Reflektion auf den Leninismus und die zentrale Rolle, die hier den Intellektuellen zugeschrieben wurde – beides ist gewiss ebenfalls ein entscheidendes Moment der von Saul thematisierten, eben nicht nur regionalen, sondern globalen Niederlage. Insgesamt bleibt in seiner Sicht die Problematik des modernen Staates als des institutionellen Ausdrucks des für ihn nicht hintergehbaren nationalen Rahmens emanzipativer Projekte deutlich unterbelichtet. Dennoch: ein Buch, an dem sich abzuarbeiten lohnt, sicher auch jenseits des informativ reflektierten Regionalbezugs.
Reinhart Kößler

 

Quelle: Peripherie, 29. Jahrgang, 2009, Heft 116, S. 116-120