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Kategorie: Rezensionen

Egon Becker u. Thomas Jahn (Hg.): Soziale Ökologie. Grundzüge einer Wissenschaft von den gesellschaftlichen Naturverhältnissen. Frankfurt/M-New York 2006. 521 S.

Die Diskussion um den Klimawandel hat die Wechselwirkungen zwischen Natur und Gesellschaft einmal mehr deutlich zu Tage treten lassen. Inzwischen kann selbst das Weltklima nicht mehr als von menschlichen Aktivitäten unabhängig angesehen werden. Umgekehrt hängt die gesellschaftliche Entwicklung entscheidend von »natürlichen« Bedingungen ab, wie etwa die Kontroversen um die Knappheit nicht-erneuerbarer wie erneuerbarer Ressourcen (vom Erdöl bis zur Bioenergie) und die Nebenwirkungen ihrer Nutzung drastisch deutlich machen.

Noch immer stellen sich dem Verständnis dieser Wechselwirkungen aber tiefgreifende Probleme: Wie lassen sich die Dynamiken von Natur und Gesellschaft verstehen? Kann bzw. muss man beide als getrennte Entitäten auffassen oder gibt es nur noch hybride Gebilde? Was bedeutet dies für das Verhältnis von Natur- und  Sozialwissenschaften? Es gibt nur wenige theoretische Ansätze, die diese Schlüsselfragen zu bearbeiten versprechen und zudem Perspektiven zu ihrer integrativen Analyse aufzeigen. Mit der Sozialen Ökologie, die als »die Wissenschaft von den gesellschaftlichen Naturverhältnissen« bestimmt wird, um »Formen, Veränderungen und Gestaltungsmöglichkeiten in der gesellschaftlichen Praxis« zu untersuchen (87), liegt ein solcher vor, an dem sich das Nachdenken über ökologische Probleme messen lassen muss und von dem deren innovative Bearbeitung neuen Schub erhalten kann.
Der von Mitarbeitern des Instituts für sozial-ökologische Forschung (ISOE) in Frankfurt/M. verfasste Band ist das Produkt einer mehr als 20-jährigen Forschungstätigkeit, für die es – nicht nur im deutschen Sprachraum – kaum Vergleichbares gibt. Dieser Arbeitszusammenhang, der in den 1980er Jahren aus universitären Arbeitsgruppen mit der Perspektive der Gründung eines außeruniversitären, den disziplinären Einengungen des akademischen Betriebs enthobenen Forschungsinstituts hervorgegangen ist, stellt nicht nur in organisatorischer Hinsicht eine außergewöhnliche Erfolgsgeschichte dar – gerade vor dem Hintergrund der prekären Arbeitsbedingungen und Finanzierungsprobleme, mit der ein solches Institut in der heutigen Wissenschaftslandschaft zu kämpfen hat. Mit dem Band beansprucht das ISOE aber nicht nur, die Ergebnisse eines kollektiven Arbeits- und Lernprozesses vorzulegen. Das eigentliche Ziel ist die Begründung und Etablierung eines »neuen Feldes der Wissenschaft« (91), und auch dieses Ziel ist mit einem Erfolg  verknüpft. 1999 durfte das ISOE im Auftrag des Ministeriums für Bildung und Forschung der rot-grünen Koalition die Rahmenkonzeption für den neuen Förderschwerpunkt »Sozial-ökologische Forschung« ausarbeiten. Der Band ist im Rahmen dieses Förderschwerpunkts entstanden und versucht, den Debatten innerhalb wie außerhalb desselben Impulse zu geben sowie theoretische Begründungen für eine sozial-ökologische Forschung zu liefern.
Dabei reflektieren die Verf. ausführlich die historischen Konjunkturen, die dieses Projekt seit den 1970er Jahren durchlaufen hat. Die zu Beginn im Vordergrund stehende Erfahrung einer umfassenden »ökologischen Krise« hat sich mittlerweile in ein pragmatisches Management von mehr oder weniger isoliert wahrgenommenen Umweltproblemen verwandelt, die auch durch den Bezug auf das Paradigma einer nachhaltigen Entwicklung nicht zusammengehalten werden. Zudem hat sich die Orientierungsfunktion, die der Terminus »Ökologie« anfangs noch hatte und die sich in einer Vielzahl programmatischer Bezeichnungen niedergeschlagen hat – von der politischen bis zur Humanökologie –, heute weitgehend aufgebraucht. Eine »Soziale Ökologie« leitet sich demgemäß nicht mehr von diesem Leitanspruch ab, sondern wendet sich gegen »ökologischen Naturalismus« und »postmodernen Kulturalismus« gleichermaßen (20) und verortet sich explizit »im Grenzgebiet zwischen den epistemischen Kulturen der Natur- und Sozialwissenschaften« (22). Aus dieser doppelten Frontstellung leitet sich auch ihr Festhalten an der Unterscheidung zwischen Natur und Gesellschaft ab, die allerdings keine Dichotomie zwischen getrennten Entitäten darstellt; vielmehr geht die »Differenz von Gesellschaft und Natur [...] aus gesellschaftlichen Unterscheidungspraxen hervor« (119). Viel Raum nimmt folglich die »Ortsbestimmung« (140ff) einer Sozialen Ökologie in Abgrenzung zu anderen Theorieansätzen ein. Die Fronten haben sich seit den 1980er Jahren aber noch in einem anderen, entgegengesetzten Sinn verschoben. Einiges von dem, was damals provokativ klang, hat sich inzwischen allgemein durchgesetzt, wie z.B. die Einsicht der Notwendigkeit einer inter- und transdiziplinären Ausrichtung der Forschung. Da aber auch die Erfahrung, wie schwierig die methodische und »kognitive Integration« (292ff) verschiedener Natur- und Sozialwissenschaften zu erreichen ist, heute weit verbreitet ist, können die entsprechenden Kapitel eine Fülle erfahrungsgesättigter Anstöße geben. Anderes dagegen wurde von der heutigen Umweltforschung nicht aufgenommen und bleibt für den spezifi schen Ansatz des ISOE charakteristisch – und manches davon wirkt heute im positiven Sinne noch bzw. wieder provozierend, z.B. die explizite Krisenperspektive und die Verankerung der Forschung in lebenspraktischen Problemen.
Die zuweilen sperrige Art, wissenschaftliche und forschungspolitische Themen aufzugreifen, und die überaus reflektierte und durchgearbeitete Präsentation eigener Forschungserfahrungen geben einen tiefen Einblick in das Forschungsfeld Soziale Ökologie. In drei Hauptteilen werden dessen Anspruch, Konturen und Forschungspraxis umrissen und dabei auf zentrale Kategorien – wie Regulation, Transformation oder Systemdynamik – eingegangen. Das Besondere ist, dass diese Kategorien konsequent aus ihren herkömmlichen Verwendungszusammenhängen herausgelöst und auf die gesellschaftlichen Naturverhältnisse neu ausgerichtet werden. Inwieweit es dabei z.B. gelingt, den Begriff der »Krise im begriffl ichen Rahmen der Theorien über komplexe Systeme und kritische Übergänge neu zu konzeptualisieren« (238), ist allerdings fraglich. Der Anspruch, ein  Forschungsfeld im inter- und transdisziplinären Raum neu zu begründen und dabei den Rahmen einer Gesellschaftstheorie explizit zu verlassen, öffnet zwar neue Räume des Nachdenkens, nimmt aber zuweilen wichtige Einsichten nicht mit, z.B. Refl exionen über die Grenzen der Gestaltbarkeit gesellschaftlicher Entwicklung anhand der Begriffe Krise und Regulation – wie sie sowohl in der Kritischen Theorie als auch im Kontext der Regulationstheorie entwickelt wurden. Das theoretische Instrumentarium wird anhand der Anwendung auf die Forschungsfelder Wasser, Konsum, Ernährung, Mobilität, Bauen und Wohnen, Bevölkerungsentwicklung, Versorgungssysteme sowie Gender und Umwelt vorgeführt. Dabei werden Forschungszugang und Problemverständnis jeweils ausführlich diskutiert – und dies unterscheidet den Ansatz vom Großteil der Umweltforschung. So wird etwa im Bereich Mobilität das Verkehrsverhalten nicht einfach als gegebenes Problem angesehen, sondern v.a. mit dem Begriff der »Mobilitätskultur«, d.h. der »Ganzheit der auf Beweglichkeit bzw. Fortbewegung bezogenen materiell und symbolisch wirksamen Praxisformen« (392), eine an Bedürfnissen und Praxisproblemen orientierte erweiterte Perspektive eingenommen.
Eine kritische Würdigung eines so komplexen Unterfangens fällt schwer, da sie verschiedenen Intentionen gerecht werden und dafür unterschiedliche Kriterien heranziehen muss. Am wenigsten angemessen wäre eine disziplinäre Brille, die die eigene Perspektive auf ökologische Probleme nicht hinterfragt und dem Band Defi zite in einzelnen Feldern vorhält (die es zweifelsohne gibt). Die thematische Breite sowie die Tiefe der theoretischen Reflexion wären so kaum zu würdigen. Die Verf. wollen ausdrücklich kein festes Theoriegebäude vorlegen, sondern eher »ein Netz von Begriffen und Konzepten mit zahlreichen Knotenpunkten und vielen offenen Enden« (9), an denen weitergearbeitet werden soll. Gleichwohl wissen sie, dass sie damit vor einem Dilemma stehen: durch ihren Erfolg sind sie nun Teil der »Sozialökologischen Forschung«, in dem das ISOE nur noch ein Akteur unter vielen ist, und die Abgrenzung und damit die Identität dieses Feldes ist kaum noch präzise zu bestimmen. Diese Heterogenität, ganz zu schweigen von den   internationalen Diskussionen um sozial-ökologische Forschungsperspektiven, wird aber im Buch nicht ausreichend erfasst und refl ektiert. Erst dadurch könnten sich aber viele Aussagen – nicht zuletzt der Anspruch auf eine neue Wissenschaft – rechtfertigen lassen.


Dennoch ist der Band ein beeindruckendes Beispiel einer kritischen Wissenschaft, die sich ihres Entstehungskontexts und ihrer epistemischen und gesellschaftlichen Verortung vergewissert. Dabei wird die Anbindung und kritische Abgrenzung von der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule nicht nur explizit in zentralen Begriffen, wie etwa dem der gesellschaftlichen Naturverhältnisse selbst, mitverhandelt. Die transdisziplinäre Neubegründung führt zu einem gegenüber der älteren und neueren Frankfurter Schule völlig veränderten Verhältnis zu den Naturwissenschaften, die auch mit einer Abwendung von – und nicht einer Neubegründung – der Gesellschaftstheorie einhergeht. Dies ist eine wesentliche Differenz zu anderen Ansätzen gesellschaftlicher Naturverhältnisse, die die Verf. auch deutlich formulieren: »Für eine Soziale Ökologie als Wissenschaft ist die Natur der Sache nach das Erste.« (134) Implizit kreisen viele Ausführungen um die Frage, wie eine kritische Theorie auf der Höhe der Zeit aussehen müsste, die den  Herausforderungen der ökologischen Krise gerecht wird – dabei dürfte der Bedarf für eine solche sogar größer sein als die Verf. selbstkritisch einschätzen.
Das Buch ist ein Muss für alle, die sich mit dem kurzatmigen Pragmatismus der heutigen Umweltforschung nicht zufrieden geben und sowohl einen historischen Rückblick als auch einen systematischen Einblick in Theoriefragen und Probleme der Operationalisierung sozialökologischer Forschung suchen.
Christoph Görg

 


Quelle: Das Argument, 51. Jahrgang, 2009, S. 848-850