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Kategorie: Rezensionen

Karl Otto Henseling: Am Ende des fossilen Zeitalters. Alternativen zum Raubbau an den natürlichen Lebensgrundlagen. München 2008. 275 S.

Der Chemiker und leitende Mitarbeiter des Umweltbundesamts vertieft in diesem Buch seine Begründungen für die Notwendigkeit einer energie- und stoffwirtschaftlichen, aber auch gesellschaftlichen Transformation. In Ein Planet wird vergiftet (1992) hatte er bereits äußerst sachkundig die Problematik der zunächst kohlebasierten, später auf Petrochemie umgestellten industriellen Stoffumwandlung und ihre Bedeutung für die deutsche Industrialisierung dargestellt.

Damit antwortete er auf Herbert Gruhls rohstofforientiertes Pamphlet Ein Planet wird geplündert (1975). Der vorliegende Band vereint nun die historische Vergiftungs- und Plünderungsproblematik mit der weltgeschichtlichen Virulenz des Erdöl-Sektors, der nicht nachhaltige Produktions- und Konsumweisen bis zur heutigen kombinierten Klima- und Peak-Oil-Krise vorangetrieben hat.
Im historischen Teil (17-132) beschreibt Verf. diese Entwicklung von den Ursprüngen des industriellen Stoffwechsels mit der Natur im 18. Jh. über die Expansion der Soda-, Schwefel- und Stickstoffindustrie im 19. Jh. und die extreme Gefährdungen verursachende und energieintensive Chlorchemie bis zu den auf chemischer und fossiler Industrie basierenden militärischen und verkehrstechnischen »Mobilmachungen« (108) im 20. Jh. So war etwa das nach dem Zusammenschluss der deutschen Chemiekonzerne von 1925 von der IG Farben in Leuna hergestellte Benzin aus heimischer Braunkohle nicht mit dem aus (außer europäischen) Ölraffinerien stammenden konkurrenzfähig, was – aufgrund militärstrategischer Prioritäten – zur Unterstützung faschistischer (Autarkie-)Politik durch die Chemieindustrie führte (118). Die  innovationsfreudige, aber umweltzerstörerische Dynamik von Automobilität und Petrochemie, die den von den USA ausgehenden Fordismus kennzeichnete, führte im Zuge von dessen Globalisierung zu den Langzeitproblemen Ölfördermaximum und Klimawandel. Letzterer wurde allerdings »bereits in Gang gesetzt, als wir meinten, uns von dem zu Beginn der Industrialisierung drückenden  Holzmangel befreien zu können, indem wir die in der Kohle gefundenen ›unterirdischen Wälder‹ massenhaft zu ›roden‹ begannen« (130). Hinzu kommt das durch rezente Rodungen freigesetzte CO2 und das zu einem Großteil aus landwirtschaftlichen Quellen stammende Lachgas und Methan. Mit Verweis auf den Weltklimarat (IPCC) betont Verf., dass eine Verdopplung der  Treibhausgaskonzentration gegenüber dem vorindustriellen Niveau nicht nur zwei, sondern drei Grad mittlere globale Erwärmung bringen dürfte (149), so dass das sog. Zwei-Grad-Ziel kaum mehr einzuhalten ist (145) – und somit eine »existenzielle Bedrohung der gesamten Menschheit« nicht mehr zu leugnen sei (149). Den anhaltenden (exponentiellen) Anstieg der CO2-Konzentration erklärt Verf. durch »das Festhalten der Industrieländer an überlebten Infrastrukturen, Produktionsweisen und Konsummustern und die nachholende Industrialisierung großer  Entwicklungsländer wie China und Indien nach eben diesem nicht nachhaltigen Vorbild« (132).
Im zweiten Teil diskutiert Verf. Widerstände gegen die notwendige »Große Transformation« (188): das »Nicht-Wissen-Wollen« (134ff) am Beispiel des Klimawandels und das Nicht-Wahrnehmen-Können am Beispiel »schleichender Vergiftungen« (162ff). Beides sei systemisch durch eine produktionsorientierte Verkürzung der Wissenschaftsförderung und Konzentration auf technisch umsetzbare Grundforschung zu Lasten der Folgenforschung von Innovationen bedingt. So ist etwa die Umweltmedizin – trotz »steigendem Problemdruck« – chronisch unterfinanziert, so dass sie die verlangten »methodisch aufwendigen, ›gerichtsfesten‹ Beweisführungen« kaum liefern kann (175). Gerichtsurteile wie das im frankfurter Holzschutzmittelprozess 1996 – das mit der Einstellung des Verfahrens gegen geringe Zahlungen endete, obwohl mehr als 4 000 Fallakten zu teilweise schweren gesundheitlichen Schäden durch Innenraum-Ausgasungen von Pentachlorphenol (PCP) und Lindan vorlagen – entheben industrielle Verursacher ihrer Verantwortung, indem reduktionistische Kausalnachweise gefordert werden. In der Umweltmedizin seien »wesentliche Beiträge von Außenseitern erarbeitet« worden, so etwa die hochkarätigen Forschungsresultate des hamburger Arztes Karl-Rainer Fabig, der in dem genannten Prozess als Gutachter tätig war; seine spätere Erkenntnis genetisch bedingter Sensibilitäts-Unterschiede gegenüber toxischen Substanzen war allerdings weder im gebräuchlichen Sinne politikfähig noch justiziabel: sie lässt das politische Kompromiss-Instrument der Grenzwerte als stumpfes Schwert sichtbar werden (175; vgl. die Rez. in Arg. 276/2008, 459ff). – Die Umweltwissenschaften müssten neue Wege einer »refl exiven Umweltforschung« einschlagen, die u.a. über staatlich bestellte Sachverständige hinaus »das Wissen von ›Laien‹ sowie lokal verfügbares Wissen« heranzieht (181). In der Umweltmedizin würde dies den Arzt-Patient-Dialog sowie die Anamnese aufwerten, und in der Sozialökologie würde dies breitere Erörterungen des Kontextes und der Agenten arbeitsvermittelter Stoffströme und Energieumsätze ermöglichen. Letzteres diskutiert Verf. als auf »Stoffgeschichten« gestütztes »Stoffstrommanagement« (184).


Nachdem Verf. das schwer sichtbar zu machende Chemieproblem in Bezug auf die außerwieinnermenschliche Umwelt des Gesellschaftsprozesses durchaus kapitalismuskritisch durchleuchtet hat, wendet er sich in seinen abschließenden Überlegungen zur »Großen Transformation « den Bedürfniskomplexen Wohnen, Mobilität, Energie und Nahrung zu. Hier diskutiert er die politische Aufgabe veränderter Infrastrukturen und einer nachhaltigen Siedlungsentwicklung. Die seit der Konferenz zu Umwelt und Entwicklung in Rio 1992 formulierten Strategien nachhaltiger Entwicklung erforderten angesichts des desolaten Zustands staatlicher Strukturen einen vielseitigen Druck seitens zivilgesellschaftlicher Netzwerke (245ff). – Verf. fügt drei »Nachrichten aus der Zukunft« aus den Jahren 2017, 2022 und 2030 an, deren Ironie und Hoffnung der geneigte Leser genießen wird.
Rolf Czeskleba-Dupont

 

Quelle: Das Argument, 51. Jahrgang, 2009, S. 850-851