Olaf Schnur u. Dirk Gebhardt (Hg.): Quartiersforschung: Zwischen Theorie und Praxis. Wiesbaden 2008. 354 S.

Quartiersforschung = Stadtforschung plus x. Olaf Schnur, einer der beiden Herausgeber des Bandes, reduziert die Definition auf eine einfache Formel und bietet damit gleichzeitig eine pragmatische Lösung für den Umgang mit der Heterogenität des Forschungsfeldes.

Die etymologische Herkunft des Begriffs - das lateinische quarterium - suggeriert jedoch auch Einschränkung auf das "Territoriale", das Bedürfnis nach Messbarkeit und damit quantitativer Abgrenzung, vergleicht man ihn insbesondere mit der von Sozialwissenschaftlern um den Begriff des Sozialraums schon länger geführten Debatte. Ist der Ausgangspunkt also nicht das "Soziale" sondern "ein Stück gebaute Stadt"?
    Die Tradition der Quartiersforschung ist relativ jung, wenngleich mit wachsendem Stellenwert. Angesichts der zunehmenden Verstädterung, der innerstädtischen Segregation und der Folgen des demografischen Wandels ist es nicht weiter verwunderlich, dass neben quartierstheoretischen Fragestellungen vor allem die anwendungsorientierte, praktische Seite einen großen Anteil daran hat. Der vorliegende Band bildet den Auftakt in der Reihe "Quartiersforschung" und setzt in seiner inhaltlichen Ausrichtung konsequent an der richtigen Stelle an: Dem Brückenschlag zwischen Theorie und Praxis. Das Buch vereinigt insgesamt 16 Beiträge von Autoren - es handelt sich überwiegend um Geographen, Stadt- und Raumplaner - und ist in vier Themenfelder gegliedert: 1. Der Überblick, 2. Theoretische Zugänge, 3. Aspekte von Steuerung und Governance und 4. Aktuelle Herausforderungen für die Quartiersforschung angesichts des demografischen Wandels.
    Den besonders gelungenen Auftakt - und gleichzeitig die theoretische Klammer für das Buch - bildet der profunde Überblick von Olaf Schnur über wesentliche Forschungszugänge verschiedener Perspektiven. Zur Verdeutlichung der Bandbreite greift er "acht Portale zum Quartier" heraus. Darunter befinden sich sozialökologische Modellvorstellungen, die auf die "Chicago School Modelle" der 1920er Jahre zurückgehen und die der Neoklassischen Ökonomie zuzuordnende filtering-Theorie. Aufgeführt werden auch empirisch orientierte soziographisch-holistische Ansätze, die "Nachbarschaft" fokussierende Zugänge unter den Begriffen Subkulturalität, Lebenswelten und Aktionsräume, die Perspektive der Urban Governance, also die Frage der Macht, Steuerung und Regulierung sowie neo-marxistisch orientierte Theorien, in denen dem Einfluss von Kapitalströmen für die Quartiersbildung nachgegangen wird. Den Abschluss der dargelegten Zugänge bilden poststrukturalistische Ansätze, die den Raum als komplexe, sozial konstruierte Kategorie verstehen und das Konzept Quartier vor diesem Hintergrund sogar in Teilen in Frage stellen. Erst im Anschluss an seinen "Kurztrip" durch die Quartiersforschung unternimmt Olaf Schnur einen ausführlich begründeten Versuch, den Quartiersbegriff definitorisch zu fassen, und er erteilt darin dem eingangs vermuteten "Containerraum-Verständnis" eine entschiedene Absage: "Ein Quartier ist ein kontextuell eingebetteter, durch externe und interne Handlungen sozial konstruierter, jedoch unscharf konturierter Mittelpunkt-Ort alltäglicher Lebenswelten und individuell sozialer Sphären, deren Schnittmengen sich im räumlich-identifikatorischen Zusammenhang eines überschaubaren Wohnumfeldes abbilden." Quartier als fuzzy place. All´ den Praktikern vor Ort, die im Alltag zwischen den Mühlen der administrativen Bedürfnisse nach Abgrenzungen zerrieben zu werden drohen, sei diese Kurzformel als Ausgangspunkt für ihr konkretes Handeln empfohlen.
    Aus den näher vorgestellten theoretischen Zugängen im zweiten Teil des Bandes wird der Beitrag von Andrea Nieszery "Class, race, gender .... Neigbourhood? Zur Bedeutung von Quartierseffekten in der europäischen Stadtforschung" herausgegriffen. In Anbetracht der in jüngster Zeit auch in Deutschland zunehmenden Bedeutung der Wirkungsforschung von staatlichen Interventionen ist die Einbeziehung des internationalen Forschungsstandes besonders begrüßenswert. Der Beitrag stellt dabei nicht nur Beispiele für Messkonzepte vor, sondern widmet sich ausführlich den zentralen theoretischen Annahmen, die den vermuteten Quartierseffekten zugrunde liegen.
    Der Teil "Prozesse, Steuerung und Governance im Quartierskontext" stellt, gemessen an der Zahl der Beiträge und der Seiten, den umfangreichsten Teil des Bandes dar. Vorgestellt und diskutiert werden sowohl ökonomische Aufwertungsinstrumente wie Neighborhood Branding, Business Improvement Districts (BIDs), Housing Improvement Districts (HIDs) wie auch Fragestellungen, die sich dem Themenfeld "Migration und Integration", dem Umgang mit marginalisierten Stadtnutzungen wie dem "Sexgewerbe" und der partizipativen Vergabe von Quartiersbudgets widmen. Exemplarisch herausgegriffen wird hier der Beitrag von Miriam Fritzsche über das "Wohl und Weh von Quartiersbudgets: Einblicke in die lokale Umsetzung eines Verfahrens zur partizipativen Fördermittelvergabe." Der Titel macht schon deutlich, dass hier ein paar Wermutstropfen auf ein von Politik und Fachwelt gleichermaßen hochgelobtes Instrument gegossen werden. Im Mittelpunkt des Beitrags steht die empirisch fundierte Bewertung eines Vergabeverfahrens im Berliner Quartiersmanagement Marzahn-West in Berlin. Die Autorin zeigt an diesem Beispiel die eingrenzende, kanalisierende Wirkung von Beteiligungsverfahren auf, die durch ihre "top down" Initiierung entstehen kann, und so eine breitere Meinungsbildung und Entscheidungsfindung verhindert.
    Die im letzten Teil des Bandes aufgenommenen drei Beiträge schließlich widmen sich einer der zentralen Herausforderungen der Quartiersforschung in der Zukunft: Den Folgen des soziodemografischen Wandels mit seinen zentralen Merkmalen Bevölkerungsrückgang und Alterung. Sigrun Kabisch und Andreas Peter beschreiben den Quartierstyp "Quartier auf Zeit" anhand der Fallstudien Hoyerswerda und Wolfen, beides in ihrer Funktionsfähigkeit erheblich bedrohte Städte. Daniela Vater und Eva Zachrai setzen sich mit der altersgerechten Anpassung und Gestaltung von Wohnquartieren auseinander und Sara Nierhoff widmet sich den von Quartiersforschern bislang eher vernachlässigten "Einfamilienhausquartieren".
    Fazit: Das in der Vorbemerkung benannte Ziel, "neue Linkages zwischen den unterschiedlichen "Akteuren" und damit einen vertieften Dialog" erwarten zu können, dürfte erreicht worden sein. Dazu beigetragen hat insbesondere die Offenheit bei der Auswahl der Autoren. Die unterschiedlichen theoretischen Perspektiven der Autoren geben den Lesern, seien es Praktiker, Politiker oder Wissenschaftler, umfangreich Gelegenheit, die eigene Verortung zu reflektieren.
Regine Wagner

Quelle: Geographische Zeitschrift, 97. Jg., 2009, Heft 2+3, S. 175-176