Jochen Walter: Die Türkei das Ding auf der Schwelle. (De-)Konstruktionen der Grenzen Europas. Wiesbaden 2008. 258 S.

Verf. untersucht mit Hilfe einer konstruktivistischen Diskursanalyse die deutsche und britische Medienberichterstattung zum türkischen EWG/EG/EU-Beitrittsbegehren im Zeitraum von 1960 bis 2004. Dabei beschränkt er sich auf drei Perioden von besonderer Dichte, d.h. Zeiträume zwischen der Eröffnung einer Beitrittsperspektive und deren jeweiliger Abweisung oder Annahme (67). Nahm im Zeitraum 1960-63 der Militärputsch 1960 eine zentrale Rolle ein, so dominierten 1987-89 der sog. Turbanstreit und die Wiedereinsetzung des Ankara-Abkommens, während von 1999-2004 die EU-Gipfeltreffen von Helsinki, Nizza, Kopenhagen, Luxemburg und die Anschläge des 11. Sept. 2001 Schlüsselereignisse bildeten (68).

Das Material, Zeitungsartikel aus Bild, FAZ, Spiegel sowie Daily Mirror, Times und Economist, wurde auf »Unterscheidungen und Formen der In- und Exklusion« hin untersucht (106), um Erkenntnisse zu gewinnen, »wann genau und wie Europa im Zusammenhang mit der Türkei grundlegend angezweifelt wird und welche Rolle die Türkei dabei spielt« (96). Für Verf. bildet Europa keinen Diskurs, sondern das Ergebnis eines Diskurses (36) und bleibe als ein solches »ohne vorgängige Gegenständlichkeit« letztlich eine »soziale Konstruktion« (34), die stets umkämpft sei (37). Diese Konstruktion bleibe eng mit der Frage nach europäischer Identität als Selbstbezeichnung verknüpft. Dabei existiere keine allgemein akzeptierte Defi nition, sondern dieses werde als ein »essentially contested concept« ständig aufgegriffen, angezweifelt und umgedeutet (37). Die Türkei fungiere dabei als »discoursive battleground« (22), weil sie als ein »Dazwischen« (228) beobachtet werde, das weder zu Europa noch zu dem (nichteuropäischen) Anderen gehöre, welches das notwendige Negative für eine Identitätskonstruktion bilde (40). Deshalb könne sie sowohl inkludierend als auch exkludierend gelesen werden, was sich auch in Metaphern wie »Brücke« oder »Brückenkopf« ausdrücke (229). Einen regelmäßigen Anlass zu diesen unterschiedlichen Lesarten und damit unterschiedlichen Selbstidentifi kationen gebe dabei das türkische Beitrittsbegehren zur EWG/EG/EU (229). Verf. legt großen Wert auf die Rekonstruktion des Wandels der Lesarten über einen möglichst
langen Zeitraum (24). Forderte 1960-63 ein geostrategischer Diskurs die Inklusion der Türkei angesichts einer »kommunistischen Bedrohung« (145), so blieb die Türkei »ein leerer Signifikant«, der all das nicht sei, wofür die Sowjetunion stand (217). Mit dem sich abzeichnenden Kollaps der Sowjetunion wurde der geostrategische Diskurs im zweiten Beobachtungszeitraum weniger beherrschend, und die bis dahin klare Inklusion der Türkei verwandelte sich in einen »Appell zur einer geostrategisch motivierten Inklusion« (220). Europa wurde nun stärker als politisch-kulturell bestimmte Einheit beobachtet und mit dem Iran gab es ein neues Anderes, das einen wachsenden radikalen Islam verkörperte (219). So musste die Türkei in der Berichterstattung als »zwischen Europa und dem Islam« verortet »zwangsläufig ambivalent erscheinen« (219). Während an dieser Ambivalenz v.a. in Großbritannien ein inkludierender  geostrategisch-zivilisatorisch-pädagogischer Diskurs ansetzte, konnte Verf. ausschließlich in der BRD eine daran ansetzende exkludierende Lesart beobachten (ebd.). Die Metapher von der Türkei als »Brücke zwischen Europa und Asien« finde sowohl inkludierende als auch exkludierende Lesarten – in Ersteren als Chance, in Letzteren als Verweis auf das bedrohliche Andere, das die
Brücke in Richtung Europa überschreiten könne (220). Im letzten Analysezeitraum gewinnt die Frage eines Türkeibeitritts an Virulenz. So erlauben »die direkt gegeneinander positionierten Konstruktionen [...] eine Beobachtung der Beobachtung und Verwendung Europas als ein ›essentially contested concept‹« (221). Dies resultiere aus dem erneuten Wegfall des Anderen (Iran) (222). Die Türkei werde nun von Beobachtern zweiter Ordnung, unter diesen erstmals auch Massenmedien, strategisch eingesetzt, um »verschiedene Europakonzeptionen durchzufechten « (221). Positioniere sich der britische Diskurs, der Europa als »common market« mit geringer politischer Integrationstiefe wünsche, gegenüber dem Beitrittsgesuch aufgeschlossen: »Yes, fl atly, Turkey should join the EU on EU terms« (207), so entfalte der deutsche Diskurs eine Kritik an einer legalistischen Verfahrensweise, die die EU zum »Geisterzug« mache (217). Über alle Beobachtungszeiträume konnte Verf. in allen Diskursen »Bedrohungsszenarien und
Angstsemantiken« entdecken, die den jeweiligen Diskurs depolitisieren sollten (217).

Tatsächlich überbrückt das Buch jene »Kluft zwischen theoretischen und empirischen Studien« und hat mit dem Verständnis Europas als umstrittenem Begriff seinen eigenen Anspruch eingelöst, »ein gehaltvolles und eigenständigen Konzept für die Analyse von europäischen Konstruktionsprozessen zur Verfügung zu stellen« (21). Überstrapaziert ist indes die Bezugnahme auf Luhmanns Postulat der »autonomen Selektivität der Massenmedien« (125). Hier offenbart sich einer der blinden Flecken von Diskursanalysen, die in ihrer spezifischen »Kombination von Theorie und Methode« (73) offenbar zwangsläufig dazu tendieren, eine systemische Autonomie von Medien übermäßig zu betonen und diese so gesellschaftlich zu entbetten. Eine leichte Tendenz ins Selbstreferenzielle ist v.a. in der Schlussbetrachtung festzustellen: Verf. fordert eine weitere »Analyse« (d.h. Beobachtung) europäischer Selbstbeobachtungen (232).
Axel Gehring

Quelle: Das Argument, 51. Jahrgang, 2009, S. 837-838